Zum Energieverständnis im Postmasunaga-Shiatsu (Peter Itin)

Shiatsu fördert den Fluss der Lebensenergie in den Meridianen. Wie schnell ist dieser Satz geschrieben und ausgesprochen. Was ist ein Meridian, und was fliesst darin genau? Sind die Meridianverläufe der Akupunktur oder diejenigen von Masunaga „richtig“, oder stimmen gar beide? Gibt es die Supervessels wirklich, die Ryuko Endo sieben Meter hinter der Klientin wahrnimmt? Was meint Cliff Andrews mit dem Vorschlag, in einen Meridian einzutunen? Auf welches Energieverständnis bezog sich Masunaga und warum nennt Pauline Sasaki ihre Arbeit Quantum-Shiatsu? Zur Klärung solcher Fragen ist ein historischer Exkurs in das fernöstliche Qi-Konzept und das westliche Energieverständnis hilfreich.

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Das original chinesische Qi-Konzept

existiert leider nicht. Manfred Kubny beschreibt in seiner Dissertation, wie sich die chinesischen Lebenskraftkonzepte im Laufe der vergangenen 2000 Jahre verändert, entwickelt und differenziert hatten, abhängig vom jeweiligen Stand von Kultur, Weltbild und Wissen. Es hatten sich auch immer wieder kontradiktorische Meinungen herausgebildet, zum Beispiel zwischen daoistischen, konfuzianischen und buddhistischen Philosophie-Schulen. So schwankte das Qi-Konzept zwischen einer extrem rational-materiellen Bedeutung in der Song-Zeit (10./13. Jahrhundert) und einer extrem spirituell-idealistischen Bedeutung in der Ming-Zeit (14./17. Jahrhundert). Innerhalb der daoistischen Literatur kann sich Qi je nach Kontext materiell-feinstofflich oder immateriell-geistig manifestieren. Vor rund tausend Jahren wurde die Frage diskutiert, ob Qi eine spirituelle oder eine physikalische Tatsache darstellt. Es wurde debattiert, ob Qi langlebig ist und sich nur wandelt, oder ob es kurzlebig ist und immer wieder neu produziert wird. Eine weitere philosophische Debatte betraf die Frage, ob Qi als universelle Einheit bei der Verdichtung die Unterschiede und die Strukturen in der Welt erschafft, oder ob umgekehrt ein natürliches Strukturprinzip der Welt vor allen Erscheinungen wie ein Plan vorliegt, innerhalb dessen die Dinge durch Qi verwirklicht werden. Diese Frage beschäftigt die heutige westliche Welt immer noch. Ist unser Gehirn eine Manifestation eines höheren, materiell unabhängigen Bewusstseins (eines göttlichen Plans)? Oder sind es unsere Zellaktivitäten und Lebensfunktionen, die Gehirnaktivitäten auslösen und so Bewusstsein schaffen? Oder ist die Welt gar beides: ein zusammenwirkendes, kosmisches Feld von alldurchdringendem Bewusstsein, ein vernetztes System, in dem alles miteinander verwoben ist und sich gegenseitig beeinflusst?

Der Naturwissenschafter Song Yingxing leitete im 17. Jahrhundert die Orientierung des Qi-Konzepts an der westlichen Wissenschaft ein, welche den menschlichen Organismus als Gliedermaschine beschrieb und den Dualismus von Körper und Geist hervorhob (Descartes). Er verstand Qi als ein natürliches Phänomen, welches klar definierten physikalischen Gesetzen unterworfen ist. Er entwickelte Theorien über die Entstehung von Tönen als Wellenbewegung von Qi im leeren Raum sowie Theorien über die Wandlung von Gestalt und Qi. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde Qi mit der Elektrizität gleichgesetzt, die man sich damals als feinstoffliches Fluidum vorstellte. In einigen modernen chinesischen Publikationen wird der Mensch als Maschine mit Energiekanälen aufgefasst, verbunden mit dem Bemühen, Qi mithilfe naturwissenschaftlicher Forschung physikalisch nachzuweisen.

Qi ist somit ein vielfältiger Begriff, der je nach Philosophie und Wissensstand anders interpretiert wurde und verschiedene Bedeutungen enthält. Folgende Dimensionen sind nach Kubny relevant:

  • Das ontologische Qi als philosophisches Konzept von Ganzheit und Einheit
    • Das Qi der Natur
      • als Kraft polarer Gegensätze und damit als Wechselwirkung innerhalb von Spannungsfeldern (Yin/Yang)
    • als qualitativ spezifische Kraft der Elemente, wobei die Wechselwirkung Mensch-Natur von besonderer Bedeutung ist.
  • Das Qi im Menschen
    • als Reservoir von Lebenskraft
    • als Wirkkraft der Organe zur Erfüllung ihrer Funktionen
    • als feinstoffliches Kommunikations-Medium innerhalb der Leitbahnen, welche Informationsfunktion, Steuerungsfunktion (Anregung, Kontrolle) und Versorgungsfunktion (Nährung) haben
    • als Schutzkraft gegen äussere, schädigende Einflüsse (weiqi)
    • als korrekte oder als pathogene-schädigende Kraft
    • als verbindende Kraft von Geist und Körper.

Obschon die Klassiker der chinesischen Medizin sich auf Qi beziehen, wird das zugrunde liegende Konzept darin nirgends explizit erklärt. Es werden pragmatisch Kategorisierungen hinsichtlich des Erscheinungsbilds und der Wirkungen vorgenommen.


Teilchen oder Welle?

Das griechische Wort „energeia“ wird übersetzt mit „wirkende Kraft, Tätigkeit, Tatkraft“. In der Physik taucht der Begriff Energie erstmals 1785 auf; vorher benutzte man nur das Wort Kraft. Kraft ist die Fähigkeit, etwas zu bewirken. Gravitation, Elektromagnetismus und Nuklearkräfte sind die physikalisch bekannten Urenergien. In der Mechanik wird Energie definiert als die Kapazität, Arbeit zu verrichten. Wir nutzen Muskelkraft, Wasserkraft, Dampfkraft, Kohlekraft, Kernkraft, Sonnenenergie und andere Energiequellen. Energie kann sich somit wandeln und verschiedene Formen annehmen. Die Höhenenergie des Wassers im Stausee wird beim Sturz ins Tal zur Bewegungsenergie, wird im Kraftwerk in elektrische Energie umgewandelt, wird in Leitungen zum Endverbraucher transportiert, wo sie wieder umgewandelt wird und im Bügeleisen als Wärmeenergie, im Elektromobil als Bewegungsenergie und in der Lampe als Strahlungsenergie genutzt wird. Wärme, Bewegung, Strahlung: unterschiedliche Manifestationsformen von Energie bestehen in der klassischen Physik nebeneinander und ergänzen sich.

Menschheitsgeschichtlich erst vor kurzem beschrieb Isaak Newton die Gesetzmässigkeiten, nach denen sich Objekte durch den Raum bewegen. Seine Physik erwies sich als äusserst nützlich und prägt noch heute unsere Alltagsvorstellung von Materie. Masse ist als Gestalt beschreibbar; ihre Grösse, Dichte und Geschwindigkeit ist messbar. Das Universum kann man sich nach Newton als ein mechanisch tickendes Uhrwerk vorstellen, und ein Atom wie ein Mikro-Sonnensystem, in welchem harte Partikel rasend schnell um einen zentralen Kern kreisen. Einstein nahm uns die Newton’sche Illusion, die Realität sei etwas Objektives. Er bewies, dass Zeit und Raum relativ und subjektiv sind. Der Begriff Quantum wurde vor hundert Jahren von Max Planck geprägt. Er soll die kleinste materielle Einheit bezeichnen. Gemäss der Quantenphysik hat diese eine Welle-Teilchen-Dualität, die als Wechselspiel zwischen Möglichem und Wirklichem zu verstehen ist. Der Ort, an dem ein abgeschossenes Teilchen aufprallen wird, ist nicht genau zu bestimmen sondern unterliegt einer bestimmten Wahrscheinlichkeit. Das Elektron ist als immaterielle „Wahrscheinlichkeitswelle“ unterwegs und kollabiert am Ort der gemessenen Manifestation zu Materie. Während Einstein die Quantenmechanik noch mit dem Ausspruch „Gott würfelt nicht“ in Zweifel zog, wies Bell 1964 nach, dass auf der Quantenebene systemische Gleichzeitigkeit (Quantenverschränkung) besteht, und dass Einsteins Gesetz der Lichtgeschwindigkeit als Maximalgeschwindigkeit in der Mirkowelt nicht gilt.

„Nenn mich Partikel oder nenn mich Welle – ganz wie Du möchtest. Du hast vielleicht ein Modell der Realität. Aber ich bin frei von Modellen, Konzepten und Vorstellungen“ spricht das Elektron zum Forscher. Der Zen-Meister Thich Nhat Hanh verweist hiermit darauf, dass unser Bewusstsein immer nur eine Facette der Realität zu erhaschen vermag, dass sie komplexer ist, als was wir erfahren, messen und beschreiben. Unser Finger zeigt auf den Mond, aber er ist nicht der Mond. Über Kopfweh zu lesen ist nicht dasselbe wie Kopfweh zu spüren. Der Quantenphysiker Nils Bohr spricht von Komplementarität, welche das Paradoxon scheinbarer Widersprüche in sich enthält. Das Dao enthält Yin und Yang, die zusammen eine Einheit bilden, unauflösbar miteinander verschränkt sind und sich in einem dynamischen, spannungsgeladenen Wechselspiel von Gegensätzlichem befinden.

Der allgemeine Sprachgebrauch zeigt, dass wir uns anhand energetischer Eindrücke ein Urteil über andere Menschen bilden. Wir formulieren Sätze wie folgende: Jemand hat Dampf. Der Körper wirkt aufgedunsen. Er brodelt innerlich vor Wut. Sie hat eine grosse Anziehungskraft. Wir haben die gleiche Wellenlänge… Der Volksmund spiegelt die Teilchen-Welle-Dualität: Dampf/Druck, Aufgedunsenheit/Volumen und brodeln/Wärme sind Begriffe der Thermodynamik und somit der Welt der Teilchen zuordenbar. Wellenlänge/Schwingungen und Anziehungskraft/Feldkräfte haben dagegen Wellencharakter.

Quantum-Shiatsu bezieht sich auf Erkenntnisse der Quantenphysik: dass wir im Shiatsu auf der Teilchen- und der Wellenebene arbeiten. Die ganzheitliche Arbeits-Philosophie bezieht Yin- und Yang-Techniken, westliche und östliche Erkenntnisse gleichwertig nach dem Grad ihrer Angemessenheit in eine Behandlung ein.

„Erst die Theorie entscheidet darüber, was man beobachten kann“ (Einstein)

Ausgangspunkt ist nach Einstein eine Theorie, die durch die Erfahrung verifiziert wird, d.h. in der Praxis funktioniert oder nicht. Das Umgekehrte ist auch der Fall: für eine neuartige Erfahrung wird das Theoriegebäude angepasst, damit das System wieder in sich stimmig ist. In sich stimmig ist der entscheidende Punkt. In sich stimmig heisst, die Theorie muss logisch und widerspruchsfrei sein und sich in der Praxis bewähren. Newtons Welt funktioniert für das meiste, was wir im Alltag benötigen. Sie liefert jedoch keine vollständige Erklärung der Phänomene dieser Welt. Obwohl TCM und Ayurveda unterschiedliche Theorien zu Grunde legen, sind beide gut funktionierende Heilsysteme.

Wenn sich im Quantum-Shiatsu westliche und östliche Energie-Konzepte, Teilchen- und Wellenebene vereinen, geht es nicht mehr um die Frage, ob ein Meridiankonzept oder eine Technik richtig oder falsch sei. Es stellt sich nur noch die Frage, ob ein funktionierendes, in sich stimmiges, widerspruchsfreies Konzept besteht, das praktisch wirksam und generell reproduzierbar ist. Verschiedene Modelle können komplementär nebeneinander bestehen und sich fruchtbar ergänzen.

Ausgehend von Shizuto Masunaga, Pauline Sasaki, Cliff Andrews und eigenen Studien habe ich ein Modell entwickelt, das die Manifestationsarten von Energie und die Energie-Arbeit im Shiatsu in vier Dimensionen unterteilt:

  • Energie als Menge an Kraft: Jitsu und Kyo
  • Energie als Verbindung und Bewegung: Meridiane
  • Energie als Schwingung und Informationsträger: Rhythmus und Lebensfunktionen
  • Energie als Feld: Bewußte Beziehung.

Diese vier Dimensionen beziehen sich auf klare Theorien und erweisen sich in der konkreten Praxis als übersichtliches und funktionierendes Arbeitsinstrument. In jeder Dimension erschliessen sich vielfältige Wahrnehmungsformen, Arbeitsziele, Arbeitstechniken und Formen innerer Ausrichtung. In diesem Beitrag wird nur die Spitze des Eisbergs sichtbar.


Thermodynamik und Psychotherapie

Masunaga verwendete das Bild des „makellos runden Balls“, der für eine gesunde Person steht. Verformungen des Balls definierte er als Zustände von „Verteilungsstörungen im Energiehaushalt“. Sie zeigen sich als Kyo (Einbuchtungen im Ball: mangelnde Energie) und Jitsu (Ausbuchtungen: überstarke Energie), die es in seinen Worten zu beleben oder zu beruhigen und damit auszugleichen gilt. Energie manifestiert sich in dieser ersten Dimension auf der Teilchenebene: als Volumen, Druck, Dichte, Oberflächenspannung und Temperatur – Messgrössen der Thermodynamik. Noch unabhängig von jeglicher Meridianarbeit erschliesst sich ein reicher Kosmos an Arbeitweisen.

Schon Sigmund Freud und andere Pioniere der Psychotherapie bezogen physikalische Phänomene wie Expansion/Kontraktion, Spannung/Entspannung, Ladung/Entladung und Lösung von Blockierungen in ihre Studien und therapeutische Arbeit mit ein. Jeder Charakterstruktur wird in der postreichianischen Körperpsychotherapie ein Energiemuster zugeordnet. Schizoide Charakterprozesse basieren beispielsweise auf vorgeburtlicher Existenzbedrohung. Sie manifestieren sich energetisch als tief innen liegende Kontraktion, geringe Pulsation (flacher Atem), mangelnde Körperlichkeit, Kopflastigkeit, Tendenz zu Dissoziierung und zur Energieverlagerung nach oben. Im Shiatsu können wir KlientInnen mit einem solchen Energiemuster in der ersten Arbeits-Dimension Körperlichkeit, Erdung und Zentrierung, Urvertrauen, tiefe, innere Entspannung und damit Expansion und Weite als neue Optionen anbieten.


Seidenfaden oder Schlauch?

Masunaga definierte Meridiane als „den Körper durchziehende Kanäle der Lebensenergie“. In einem gesunden Körper fliesst die Energie ungehindert durch die Meridiane, ist die Theorie, die dieser zweiten Dimension zugrunde liegt. In der TCM werden Meridiane auch Energie-Leitbahnen und Gefässe genannt. Der chinesische Begriff lautet Jing-Luo. Jing ist die Bezeichnung für einen Seidenfaden und ein genereller Begriff für „durchgehend“. „Luo“ ist etwas, das verbindet und integriert. Ein Meridian ist somit zunächst eine durchgehende Verbindung. Der Begriff Meridian hielt erst im 17. Jahrhundert Einzug in die TCM, basierend auf Berichten von Geografen, die China bereisten. In der Geografie beschreiben Meridiane rein imaginäre Kreislinien auf der Erdkugel. Mit dieser Analogie bezog man auf sich die Unmöglichkeit, Meridiane physikalisch nachweisen zu können. Bis ins 16. Jahrhundert wurden in den europäischen Übersetzungen nur die Begriff Wege, Kanäle und Gefässe benutzt.

Spricht man von einem Energiefluß in Kanälen und Gefässen, orientiert man sich an der Newton’schen Welt. Es entsteht das Bild einer Substanz, die sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit durch schlauchartige Verbindungsstrukturen bewegt. Ki verbindet und bewegt, lernten wir im Unterricht. Da man diese Materie nicht sieht, stellt man sich Qi „feinstofflich“ vor, als Teilchen, deren physikalische Dichte so gering ist, dass sie nicht mehr messbar ist, feiner als Gas. Das Schriftzeichen für Ki setzt sich zusammen aus Reis und Dampf. Dampf ist erhitztes Wasser: Wärme, Druck, Expansion – Thermodynamik pur, damit sich das harte Reiskorn zur Nahrung für das Leben transformieren kann. Prana, Aura und Orgon sind vergleichbare Konzepte, die sich auf die Vorstellung eines Fluidums (lateinisch für Flüssigkeit) abstützen.

Karten der Akupunktur zeichnen Meridiane als feine Linien mit Anfangs- und Endpunkt. Karten aus Shiatsukreisen stellen Meridiane manchmal auch als schlauch- oder röhrenartige Leitungen dar, um ihre Transportfunktion zu versinnbildlichen. Akupunktur-Punkte, welche Namen tragen wie Brunnen-, Quell-, Bach-, Fluss- und Meer-Punkt nutzen Bezüge zum Wasser. Die Analogie zu einem verzweigten Flusslauf mit Haupt- und Nebenarmen und vielen kleinen Bächen als Zuflüssen ist für die Shiatsu-Arbeit durchaus hilfreich. Die Inder sprechen von 72’000 Nadis pro Körperseite, einer „beliebig“ grossen Zahl, welche die vollkommene Vernetzung unseres Körpers symbolisieren soll. Im Shiatsu nehmen wir Meridiane komplex und vielschichtig wahr. Sie präsentieren sich abwechslungweise breit, eng, flach, tief, innen, an der Oberfläche, mächtig, schwach, diffus, präsent, fliessend, lebendig, vibrierend, steif und anderes mehr. Dank dem Bild des Flusssystems bereiten uns die Zacken und Schlaufen der Akupunktur-Meridianverläufe kein Kopfzerbrechen mehr. Wir erreichen einen Meridian an jeder Stelle des Körpers. Wir befinden uns ganz einfach mehr oder weniger im Zentrum einer Hauptströmung. Shiatsu-TherapeutInnen sind LandschaftsgestalterInnen. Ihr Arbeitsziel ist in dieser Dimension ein durchgängiger, natürlicher Flusslauf – nicht überkanalisiert und ohne Stauwehre, aber auch ohne Sümpfe und Sandbänke.


Surfen im bedeutungsvollen Nichts

Das Palpieren eines Meridians auf der Wellenebene ist herausfordernd. Es ist wie Surfen im Nichts, meinte Pauline Sasaki in einem Kurs, da wir uns auf Kyo (versteckte Bedürfnisse) in einer nicht-materiellen Welt ausrichten. Wir tauchen in dieser dritten Arbeits-Dimension nicht mehr in einen sich spürbar verdichtenden Meridian ein, sondern wir schwingen mit Lebensthemen mit. Wir arbeiten rhythmisch und gehen in Resonanz mit dem Organismus der Klientin. Meridiane sind schwingende Lebensfunktionen. Der Gelbe Kaiser verglich die Funktionskreisläufe mit Staatsbeamten, welche die Verantwortung für das Funktionieren ihres Aufgabengebiets tragen. Masunaga verglich beispielsweise den Herzkreislauf-Meridian mit dem Transportministerium und den Dreifacherwämer-Meridian mit dem Verteidigungsministerium. Er unterschied in körperliche und psychologische Funktionen eines Meridians. Im Postmasunaga-Shiatsu differenzieren wir die Lebensfunktionen nach körperlichen, emotionalen, mentalen und spirituellen Schwingungensebenen. Über Stichwörter können wir das angesagte Thema finden. Wie ein Radioempfänger tunen wir uns auf Programme ein, Stimmungen und Informationen, die über Schwingungen verbreitet werden. Am Herzkreislaufmeridian können wir mit dem physischen Bedürfnis einer stärkeren Blutzirkulation oder mit dem emotionalen Bedürfnis nach Schutz des Herzens in Verbindung sein. Techniken der inneren Ausrichtung gewährleisten, dass wir den aktuell wichtigen Inhalt empfangen. Je nach Thema verändert sich auf demselben Meridianverlauf die energetische Wahrnehmung und Arbeitsweise; es werden uns manchmal sogar andere Tsubos präsentiert.

 
Kohärent im Dao

Feldtheorien beschreiben physikalische Effekte, die durch Wechselwirkungen von Kraft im Raum hervorgerufen werden. Wenn ich meine Hände reibe, kann ich danach ein elektrostatisches Feld zwischen ihnen spüren. Masunaga sprach vom Zwei-Wie-Eins-Gefühl zwischen Mutter- und Kindhand. Ich kann meine Aura bewusst als liebevolles Containment für mich selbst und als Schutzschild gegen negative Energien von aussen aufbauen. Ich kann einem traumatisierten Klienten in einer Übung vorführen, dass man ohne Probleme in sein Energiefeld eindringen kann und dass er auf Grenzüberschreitungen erst reagiert, wenn es bereits zu spät ist. Ich kann mich in ein gemeinsames, kohärentes Schwingungsfeld mit einer Klientin einlassen und ihr einen energetischen Raum anbieten, in dem Selbstheilung geschehen kann. Was von mir in der vierten Dimension verlangt wird ist volle Präsenz und achtsames Halten von Mitgefühl, bedingungsloser Liebe, Freude und Gleichmut. Buddha nannte sie Bramaviharas, grenzenlose, universelle Zustände, die heilende Transformation ermöglichen. Masunaga bezeichnete Shiatsu auch als „Kommunikation von Herz zu Herz“. Er betonte das ganzheitliche „Lebensmitgefühl“ mit der Klientin und den meditativen Aspekt der Behandlung. In der meditativen Schwingungsebene des Theta-Bereichs (4 – 7 Hz) entsteht neuronal Zugang zu tiefsten seelischen Aspekten des Unterbewusstseins. Beispielsweise kann geschehen, dass mitten in der Behandlung das Bild auftaucht, das von der Mutter unverstandene Mädchen zu trösten. Durch unser kohärentes, ganzheitliches Mitschwingen dürfen sich traumatisch gefrorene Energiemuster lösen, wie dies der Film „Das weinende Kamel“ auf berührende Weise zeigt.


Ki-Arbeit = Energie x Bewußtsein

Verstehe ich Jitsu als Blockade oder als Reservoir an nutzbaren Kräften? Will ich das Problematische beseitigen oder das Gesunde fördern? Habe ich die Intention, etwas aktiv in Gang zu setzten oder Raum für Veränderungen anzubieten? Es ist in jedem Moment einer Behandlung beides möglich. Nichts ist a priori richtig oder falsch, es ist in einer Situation bloss mehr oder weniger hilfreich und angemessen. Die Bedeutung, die wir im Shiatsu unseren Handlungen geben, beeinflusst das Ergebnis. Es ist das menschliche Bewusstsein, das den Unterschied zwischen mechanischer Kraftausübung und Ki-Arbeit ausmacht. Im Qi-Gong wird gelehrt, dass der Geist der Reiter ist und Qi das Pferd. Das Bewusstsein lenkt die Energie, und der Körper folgt der Energie. Einer meiner Klienten, der in einer Krankenkasse eine verantwortliche Stellung innehat, meinte, dass nicht die Methode oder Technik sondern die behandelnde Person für den therapeutischen Erfolg entscheidend sei. Masunga meinte zu Recht, dass die Wirksamkeit vom Zusammenspiel von beiden abhängt. Ob eine Behandlung wirklich tief berührt und eine nachhaltige Wirkung ausübt hängt letztlich vom präsenten und geschulten Bewusstsein der Therapeutin ab. „Triffst Du Buddha unterwegs, schlag ihm den Kopf ab“, empfiehlt der Zen-Meister. Konzepte und Arbeitsziele sind Orientierungshilfen, Leitplanken. Während des Arbeitens selbst müssen wir jedoch alle Konzepte vergessen und voll auf unsere Intuition vertrauen, Wu-Wei, Absichtslosigkeit, Achtsamkeit und volle Präsenz im gegenwärtigen Moment praktizieren.

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© Peter Itin (info@peteritin.ch), Shiatsu-Therapeut und Kursleiter in Basel und Muralto; Ausbildung in Traumaheilung bei Peter Levine (Somatic Experience); Tai Chi-/Chi Gong-Lehrer im Chen Stil; Berater des Vorstands der Shiatsu Gesellschaft Schweiz; derzeit Präsident des Dachverbands Xund (veröffentlicht in Shiatsu Journal 49, Sommer 2007)

Text basierend auf dem Buchmanuskript „Shiatsu als Therapie“ und der Vorbereitung der Podiumsdiskussion „Was ist Energie“ am Eurpoäischen Shiatsu-Kongress im Kiental 2007