Zukunftsszenarien für Shiatsu (Eduard Tripp)
Es ist erklärtes Ziel der EU, dass die Niederlassungsfreiheit auch die Freiheit mit sich bringt, den erlernten Beruf unabhängig von Landesgrenzen in jedem Land Europas auszuüben. Derzeit ist das in vielen Bereichen und Berufen nicht gegeben. Speziell im Bereich von CAM gibt es ebenso viele Regelungen wie Mitgliedsländer.
Aber auch die Zielsetzung einer gesamteuropäischen Gesundheitspolitik bringt die Notwendigkeit mit sich, den „Gesundheitsmarkt“ europaweit zu harmonisieren (finanzierbar zu machen und Nachhaltigkeit zu erreichen). Wie Gesundheit und Gesunderhaltung in der EU der Zukunft verstanden werden, ist bis jetzt noch nicht entschieden. Entsprechend ist auch noch nicht festgelegt, wer für welche Tätigkeiten legitimiert sein wird – zu unterschiedlich sind die aktuellen gesetzlichen Regelungen in den Mitgliedsstaaten. Dazu kommt, dass die Herausforderungen der Gegenwart wohl auch andere Strukturen und Ansätze benötigen, als sie die herkömmlichen, aus einer bestimmten Vergangenheit herausgewachsenen Gesundheitssysteme bieten und vertreten.[1]Der Artikel wurde 2016 veröffentlicht und spiegelt Überelgungen aus diesem Jahr 2016 wider.
Generell zeigen sich im Rahmen der bisherigen Vorgehensweise der EU, speziell was die Berufsausübung betrifft, zwei Richtungen:
- zum einen eine europaweit einheitliche Festlegung der Ausbildungen und Anforderungen und,
- zum anderen die Tendenz einer Deregulierung, die „den Markt“ entscheiden lässt.
Die Basis für die einheitliche Regulierung bildet insbesondere das European Qualification Framework, so dass es „normierte“ Ausbildungen und Berufsanforderungen auf europaweit gleichem Standard gibt. Auf der anderen Seite werden aber auch nationale Regulierungen zugunsten eines freien Marktes aufgehoben.
In Österreich betreffen diese Entwicklungen einerseits den Gesundheitsbereich, beispielsweise in der Frage, inwieweit auch nichtärztliche CAM erlaubt sein soll/wird (die Ärztekammer spricht sich deutlich für „medizinische CAM“ aus und gegen Nicht-Ärzte, die CAM anwenden), andererseits die gebundenen (geschützten, reglementierten) Gewerbe. Hatte man bis noch vor Kurzem eine Konzession gebraucht, um ein Restaurant zu eröffnen, so kann man das heute geradezu unbürokratisch machen – ganz ohne besondere Auflagen (von „allgemeinen Vorschriften“ wie z.B. Hygienestandards abgesehen) und als Akademiker auch ohne dem Nachweis wirtschaftlicher Kenntnisse.
Die Zukunft des Massage-Gewerbes
Ob Massage als Gewerbeberuf reglementiert bleiben wird, ist offen. Zum einen wird / wurde von der Wirtschaftskammer immer wieder auf die Gefahr von Leib und Gesundheit in Zusammenhang mit einer möglichen Freigabe des Massage-Gewerbes hingewiesen und der Schutz dieses Berufes eingefordert, andererseits besteht aber auch eine große Wahrscheinlichkeit, dass gewerbliche Massage generell freigegeben wird (z.B. nur die Einhaltung gewisser Standards im Betrieb notwendig sind), wird die Behandlung von Erkrankungen mit Massage ja schon heute von Medizinischen und Heilmasseur*innen durchgeführt (wohingegen gewerbliche Masseur*innen keine kranken Menschen behandeln dürfen, insbesondere keine Krankheitsbehandlungen durchführen).
Gewerbliche Massagen, so ein Szenario der weiteren Entwicklung der Gewerbe unter dem Einfluss von EU-Regulierungen, könnten als „Wellness-Behandlungen“ von jeglichen Ausbildungsrestriktionen befreit und dem „freien Markt“ überantwortet werden.
Wird Medizinische und Heilmassage im Gesundheitsbereich reguliert, und gewerbliche Massage als „Wohlfühl-Massage“ „freigegeben“, so verliert auch die Ausbildung von Shiatsu ihre Reglementierung. Jede*r kann dann Shiatsu anbieten, unabhängig von seiner*ihrer Ausbildung, ebenso wie andere Massage-Techniken.
Mögliche Ziele
Wird das Massage-Gewerbe aufgelöst und verliert Shiatsu seinen gesetzlichen Schutz, so gibt es grundsätzlich mehrere Richtungen, die man als sinnvoll oder erstrebenswert erachten kann (ob sie sich entsprechend umsetzen lassen, sei dahingestellt, ist vom heutigen Standpunkt aus noch nicht realistisch beantwortbar):
- Etablierung von Shiatsu als Methode (CAM) im europäischen Gesundheitsverständnis
- Shiatsu als ungeregelter Beruf und Aufbau bzw. Stärkung der Qualitätsmarke „qualified practitioner“ des ÖDS (eventuell auch in Kooperation mit anderen CAM-Methoden)
- Doppelstrategie in Anlehnung an das Schweizer Modell
Grundsätzlich, und das sei nochmals explizit gesagt, hängt es nicht unmittelbar von unseren Wünschen ab, welche der Zielvorstellungen sich verwirklicht (oder eine noch andere). Die Überlegungen und Zielsetzungen dienen primär dazu, Voraussetzungen zu schaffen, dass sich ein bestimmtes Szenario entwickeln kann, ebenso auch, dass wir uns auf kommende Gegebenheiten einstellen, vorbereiten können (und sinnvollerweise nicht nur auf eine mögliche Entwicklung).
Hoher EQF: Shiatsu als Methode (CAM) im Gesundheitsbereich
Um sich im Gesundheitsbereich zu etablieren, bedarf Shiatsu (abgesehen von den dazu notwendigen Schritten auf politischer Ebene) einer Berufsausbildung mit hoher fachlicher Qualifizierung und einer Integration in das Gesundheitssystem (der europäischen Zukunft) mit Verständnis und Wissen um die Möglichkeiten medizinischer und anderer Gesundheitsberufe – und Zusammenarbeit zum Wohle der zu behandelnden Menschen (und des Gesamtwohls der Bevölkerung).
Das Niveau der Shiatsu-Ausbildung, wie es der europäische Gesetzgeber sieht, ist hier von ausschlaggebender Bedeutung für die Position, die Shiatsu einnehmen kann: als weitgehend selbständige und eigenverantwortliche therapeutische Tätigkeit oder als „medizinischer Hilfsdienst“, der auf Anweisung des*der Ärzt*in (oder auch Physiotherapeut*in) das ausführt, was der*die Ärzt*in ihn*ihr anweist (vergleichbar mit der medizinischen Massage).
Bringt man diese Unterschiede im EQF zum Ausdruck, kann man grob sagen, dass ein EQF von 3 (bis 4) die Qualifikation für einen „medizinischen Hilfsdienst“ darstellen könnte, die eigenverantwortliche therapeutische Tätigkeit einen EQF von zumindest 5 (realistischerweise 6).
Um diese Unterschiede zu verdeutlichen: In Großbritannien wurde der Shiatsu-Ausbildung (gemäß den derzeit gültigen Ausbildungsrichtlinien), vom Gesetzgeber die Stufe 3 zugeordnet. In der Schweiz, in der Shiatsu eine Methode der KomplementärTherapie darstellt, wird auf Basis der Ausbildung zum*r KomplementärTherapeut*in die Stufe 6 angestrebt.
In diesen unterschiedlichen Zuordnungen (wobei es sich im Falle der Schweiz bislang noch um kein Faktum handelt) drücken sich primär die unterschiedlichen Ausbildungsanforderungen aus. Vom derzeitigen Standpunkt der Gesundheitsbehörden aus, bietet Shiatsu in Europa keine Ausbildung, die für eine eigenständige therapeutische Arbeit im Gesundheitssystem prädestiniert.
Der Weg in den Gesundheitsbereich kann deshalb realistisch nur über eine Ausbildungsänderung erfolgen, die die Einstufung in einen höheren EQF-Level ermöglicht. Die (möglichen) Vorteile wären (aus der Sicht von Gesetzgeber, Konsument*innen und Praktiker*innen):
- Qualitativ hochwertige Ausbildung
- Gute politische Umsetzbarkeit im Bereich von CAM und/oder Health Care
- Möglichkeit der Einbindung in den Gesundheitsbereich (mit Schwerpunkt Komplementaritiät)
- Höheres soziales Prestige
- Größere Freiheit in der Ausübung
Die (möglichen) Nachteile hingegen wären:
- Umfangreichere Ausbildung mit höheren Kosten und höherem zeitlichen Aufwand
- Mehr Regulierungen
- Weniger Freiheit in der Ausbildung (medizinischer Unterricht z.B. durch medizinisches Personal)
- Kleinere Schulen können möglicherweise die Anforderungen an die Ausbildungskriterien (Zertifizierungsanforderungen) nicht erfüllen – anzudenken wären hier eventuell Kooperationen
Die höheren Anforderungen an die Ausbildung würden wahrscheinlich vor allem – aber nicht nur – medizinische (und andere den Gesundheitsbereich entstammende) Themen betreffen. In der Schweiz (KomplementärTherapie) sind dies vergleichsweise insgesamt 950 Lernstunden (davon 340 Kontaktstunden). Dazu kämen noch zwei bis drei Jahre kontrollierte und supervidierte praktische Berufstätigkeit.
Aufschlüsselung der Trunc Commun-Stunden in der Schweiz:
- Berufsspezifische Grundlagen (BG): mind. 150 Lernstunden, davon 56 Kontaktstunden (Gesundheitsverständnis, Menschenbild, Ethik, Berufsidentität, Praxisführung)
- Sozialwissenschaftliche Grundlagen (SG) : mind. 300 Lernstunden, davon 104 Kontaktstunden (Psychologie, Kommunikation, Gesprächsführung)
- Medizinische Grundlagen (MG): mind. 500 Lernstunden, davon 180 Kontaktstunden (Nothilfe, Reanimation, Biologie, Anatomie, Physiologie, Krankheitslehre, Epidemiologie, Pharmakologie, KlientInnensicherheit / TherapeutInnensicherheit)
Als weitere Vergleichsmöglichkeit für den Umfang der Ausbildung könnte man auf die Heilmassage-Ausbildung in Österreich verweisen, die insgesamt um die 2.500 Ausbildungsstunden erfordert.
Niedriger EQF: Shiatsu als Methode (CAM) im Gesundheitsbereich
Wird die Shiatsu-Ausbildung von den Gesetzgebern als Methode mit einem niedrigen EQF (3 oder auch 4) eingestuft, so kann es dennoch durchaus sein, dass Shiatsu ob seiner Möglichkeiten dennoch als CAM in das europäische Gesundheitssystem integriert wird. Der gravierende Nachteil für Praktiker*innen würde allerdings darin bestehen, dass sie aller Voraussicht nach kaum Freiheiten in ihrer Tätigkeiten haben werden. Ihre Position wäre die eines „medizinischen Hilfsdienstes“, der ausschließlich auf Anweisung des*der Ärzt*in arbeitet.
Vergleichbar wäre dieser Unterschied mit dem zwischen Medizinischem*r Masseur*in und Heilmasseur*in. In diesem Beispiel sind zwar beide Berufsgruppen auf die Anordnung des Arztes angewiesen, der Heilmasseur kann allerdings in eigener Praxis arbeiten, der Medizinische Masseur nur angestellt (Ärzt*in oder Institut).
Eine „Aufschulung“ in medizinischen und angrenzenden Themen (vergleichbar dem Trunc Commun der KomplementärTherapie in der Schweiz) würde wohl auch in diesem Szenario unumgänglich vom Gesetzgeber gefordert.
Niedriger EQF: Shiatsu als Methode „im Wohlfühlbereich“
Wenn Shiatsu den CAM-Status verfehlt (oder nicht anstrebt) und die Ausbildung weiterhin in etwa dem heutigen Niveau entspricht (EQF-Level 3), so etabliert sich Shiatsu als Methode im „Wohlfühlbereich“ oder „Wellnessbereich“, hilfreich in gewissem Ausmaß, wohltuend, aber ohne dezidierten „Heilungsanspruch“ und ohne Teil des Gesundheitssystems zu sein (die Situation wäre ähnlich der heutigen Situation, mit dem Unterschied allerdings, dass Shiatsu möglicherweise keinen Berufsschutz mehr genießen würde durch das reglementierte Gewerbe). Mögliche gesundheitsfördernde Wirkungen von Shiatsu wären damit (weiterhin) in einem „Grauraum“. Die (möglichen) Vorteile wären:
- Kürzere und weniger kostenintensive Ausbildung
- Mehr Freiheit in der Ausbildung, weniger Regulierungen
- Stärkere Verbreitung von Shiatsu
Die (möglichen) Nachteile wären:
- Schlechtere politische Umsetzbarkeit im Bereich von CAM, Health Care (sollte man dies dennoch anstreben)
- Weniger Möglichkeit von Kassenverträgen
- Geringeres soziales Prestige
- Verlust des Berufsschutzes (durch Deregulierung) und damit fehlende Qualitätskontrolle
Hoher EQF: Shiatsu als Methode „im Wohlfühlbereich“
Steigen die Anforderungen an die Ausbildung (sowohl zeitlich als auch finanziell) ohne dass damit zugleich auch eine sichere Berufsaussicht (Einkommen, Prestige …) verbunden ist, ist es deutlich unrealistischer, dass eine solche Ausbildung „angenommen“ wird.
„Zweistufiges Modell“
Denkbar ist auch ein „zweistufiges Modell“, das in Anlehnung an die KomplementärTherapie in der Schweiz, eine „Basisausbildung Shiatsu“ („basic level“, EQF-Level 3-4) umfasst (mit der Möglichkeit, Shiatsu „im Wohlfühlbereich“ anzubieten) und ein darauf aufbauendes Modul zum*zur „Shiatsu-Therapeut*in“ („advanced level“, EQF-Level 5-6 mit der Möglichkeit im Gesundheitssystem zu arbeiten und der möglichen Verrechnung mit Krankenkassen). (Mögliche) Vorteile einer „zweistufigen Ausbildung“ sind:
- Vermeidung der Nachteile von hohem (kosten- und zeitintensive Ausbildung …) und niedrigem EQF (wenig Befugnisse, Deregulierung …)
- Vermeidung der Situation, dass eine High-Level-Ausbildung angeboten werden muss, während es noch keine berufliche Umsetzung derselben gibt; zugleich kann das „advanced level“ geplant werden und mit der politischen Realisierbarkeit umgesetzt werden
- Entscheidungsmöglichkeit für Student*innen/Schüler*innen auf dem „basic level“ zu bleiben oder auf ein „advanced Level“ aufzuschulen
(Mögliche) Nachteile der „zweistufigen Ausbildung“ sind:
- Gefahr der Unklarheiten der Unterschiede zwischen „basic“ und „advanced“ level (Konsument*innen, Politik)
- Politisch möglicherweise schwierigere Durchsetzbarkeit
Folgen der und Chancen in der Deregulierung
Sollte das Gewerberecht Änderungen in Richtung einer Deregulierung für Massage mit sich bringen, bevor es eine Anerkennung als CAM (Medizin oder Public Health) gibt, so bedeutet das, dass es dann keinerlei staatlichen Berufsschutz (wie bisher im reglementierten Gewerbe der Massage) für Shiatsu mehr gibt. Das bedeutet, dass jede*r Shiatsu anbieten kann, unabhängig von Ausbildung und/oder Berufserfahrung (ähnlich der Situation wie wir sie hatten vor der Regulierung von Shiatsu durch die Übernahme ins Massage-Gewerbe). Shiatsu ist damit ausschließlich der Regulierung „durch den Markt“ unterworfen. (Mögliche) Folgen sind:
- „Gleichwertigkeit“ aller Ausbildungen, unabhängig von Inhalt und Dauer
- Keine Qualitätskriterien
- Verunsicherung bei Konsument*innen
- Keinerlei Regulierungen hinsichtlich der Ausbildung
Mögliche Qualitätssicherung (für Ausbildungen ebenso wie Sicherheit für Konsument*innen) durch den Dachverband:
- Stärkung der schon vorhandenen Qualitätsmarken „qualified shiatsu practitioner“ und „certified shiatsu school“, z.B. auch in Zusammenschluss mit anderen CAM-Methoden (wie z.B. in dem derzeit in NÖ geplanten Register der „Erfahrungsmedizin“)
- Generell Öffentlichkeitsarbeit, um die Qualitätsmarke „Shiatsu“ (Praktiker*innen und Schulen) zu fördern
Quellen und weiterführende Texte
- KomplementärTherapeut/in mit eidgenössischem Diplom
- BERUFSPOLITIK:WAS BRINGT DIE ZUKUNFT? Die Arbeitswelt Shiatsu wird sich verändern.Wie können wir uns darauf einstellen? (Berufspolitische Überlegungen. Ein Leitfaden zur Orientierung, zusammengestellt von Dr. Eduard Tripp für den ÖDS (Stand Juni 2016)
- Praktiker*innen-Umfrage 2016 des ÖDS
Anmerkungen
↑1 | Der Artikel wurde 2016 veröffentlicht und spiegelt Überelgungen aus diesem Jahr 2016 wider. |
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