Yin und Yang. „Bedauerlicherweise verlor er das Gleichgewicht“. Über Glück und Tragik des Gleichgewichts (Ulrike Schmidt)
Darum geht’s doch! Uns allen! Uns allen, die wir uns mit Shiatsu beschäftigen, vom neugierigen Anfänger bis hin zum alten Hasen, alle sprechen wir über das Gleichgewicht, alle suchen es, alle wollen es haben, immer dreht es sich irgendwie darum, sind wir oder sind wir nun nicht – das ist die allgegenwärtige Frage!
Aber was ist es eigentlich? Das Gleichgewicht? Das harmonische Gleichgewicht?
Wenn ich dieses Wort höre, so denke ich oft an eine Waage. In jeder Waagschale ein Bleigewicht. Zwei Gewichte. Zwei gleiche Gewichte.
Ein Gleichgewicht. Soweit, so gut. Natürlich gibt es das nicht in der Wirklichkeit, dass jemand zwei gleiche Gewichte wiegt. Klar, ein Apfel und ein Bleistückchen, ein Pfund Möhren und ein Gewicht, so geht’s auf dem Markt zu.
Das Gleichgewicht!
Der Seiltänzer hat es, wenn er unter der Zirkuskuppel seinen sicheren Weg findet, würde er innehalten in der Bewegung, er könnte es nicht halten, das Gleichgewicht, er kann es nur, weil er in Bewegung ist; der Fahrradfahrer hat es, nicht nur wenn er freihändig fährt, durch die Bewegung, ja, durch die Dynamik der Bewegung kann er sein Gleichgewicht halten; der Gemüsehändler hat es, er wartet nicht auf die Stille der Bewegungslosigkeit der Waage, nein, er erkennt das Gleichgewicht, und er erkennt es an der Bewegung, an dem Auf und Ab der Waagschalen, er wartet nicht auf den Stillstand, er schnappt die Obsttüte mit sicherem Griff aus der Bewegung heraus.
Das heißt also, dass Gleichgewicht letztendlich nichts anders als Bewegung bedeutet. Es ist vielmehr ein Pendeln um einen zentralen Punkt herum, um unsere Mitte, um unser Zentrum. “Herkömmliches” Gleichgewicht ist starr. Und in der Starre lauert der Tod – unausweichlich!
Wer über die Frage nachdenkt, wird letztendlich zu dem Schluss kommen, dass nur durch Bewegung die Harmonie des Gleichgewichts zu finden ist. Für mich geht es auf der Suche nach dem Gleichgewicht immer auch darum, dass die ,,Pendelausschläge” nicht ganz so riesig sind, dass ich versuche, Extreme zu vermeiden, da ich weiß, wie Kräfte zehrend sie sind, pendeln – ja, schwanken – sicher, leben – aber ja doch!
Bewegung ist Leben. Im Qi Gong heißt ein Kernsatz: “Ruhe in die Bewegung bringen” – das Yin im Yang.
Das ist es, was nötig ist, die Mitte finden. Sich für die Bewegung entscheiden, das heißt, sich für das Leben zu entscheiden. Oder wie Buddha sagte: “Es ist ein großes Glück, inmitten ständig wandelnder Lebensumstände unwandelbar friedvoll sein zu können”.
In der Physik gibt es u.a. die Unterscheidung zwischen einem stabilen und einem labilen Gleichgewicht.
Beim stabilen Gleichgewicht ist es so, dass sich ein aus dem Gleichgewicht gebrachtes System von alleine wieder auf das Gleichgewicht zubewegt (etwa so wie ein Steh-Auf-Männchen).
Beim labilen Gleichgewicht hingegen ist es so, dass, wenn das System durcheinandergebracht wird, es sich immer weiter vom Gleichgewicht entfernt (so etwa wie ein Stein, der seit Jahrtausenden auf der Spitze eines Berges ruhte und durch ein Gewitter den Impuls zum Herunterrollen bekommt).
Ich verstehe die Arbeit mit Shiatsu als ein Werkzeug, eine Möglichkeit, mit der wir Impulse geben, Reize setzten, damit unser Partner wieder zu seinem eigenem, stabilen Gleichgewicht findet.
Die Selbstheilungskräfte aktivieren ist ein gängiger Ausdruck hierfür. Überall in unserem Körper finden wir Rhythmen. So zum Beispiel bei der Ein- und Ausatmung, bei der An- und Entspannung der Muskeln, beim Auf- und Abbau der Knochenstruktur, beim Wachen und Schlafen, beim Essen und Ausscheiden.
Aber auch in unserem Umfeld gelten bestimmte Rhythmen: vom Geben und Nehmen, vom Lieben und Geliebtwerden, bis hin zum Geld verdienen und Geld ausgeben, letztendlich das ganze Auf und Ab im Leben. Stockt es in einer dieser Phasen, so kommt es zu Stagnationen in unserem Energiesystem. Und fehlen dann die Selbstregulierungsmechanismen oder sind sie zu schwach ausgeprägt, so entsteht über kurz oder lang Krankheit, sei es als seelische oder körperliche Manifestationen.
Tragisch wird es, wenn wir meinen, einen Zustand festhalten zu können. Die Ironie ist, wenn wir etwas erreicht haben und glauben, jetzt “hätten” wir es und uns womöglich darauf ausruhen möchten, dann wird aus dem Gleichgewicht eine Unbeweglichkeit und damit die Starre, der Tod. Und auch wenn wir noch soviel Energie da hineingeben, indem wir versuchen etwas – oder jemanden – festzuhalten, letztendlich wird es nicht gehen. Das Leben kehrt sich gegen uns. Wir wissen zwar, dass wir den Lauf der Sonne nicht anhalten können, nicht den Tag und nicht die Nacht, wir können nicht den Frühling verhindern, ebenso wenig wie den Herbst, wir können den Schnee nicht aufhalten und uns nicht gegen die Sturmfluten stellen. Aber sobald es um unser ,kleines’ Leben geht, scheinen wir blind für die Naturgesetze. Wir meinen, wir könnten das Glück festhalten, die Jugend, die Geschmeidigkeit des Körpers, ja, wir möchten all das Angenehme festhalten und sperren uns gegen die Vergänglichkeit der Dinge.
So wünsche ich uns allen, dass uns nichts aus dem Gleichgewicht bringen kann, dass wir fähig sind mit den Veränderungen und Herausforderungen des Lebens angemessen umgehen zu können, dass wir uns in jeder Lebenslage dem Wandel stellen können – (und wenn doch mal nicht, dass dann ein Shiatsu-Therapeut in unserer Nähe sei!).
“Die Erkenntnis, dass wir nicht am Schmerz des Lebens sterben, hilft uns, die Größe unseres Herzens zu wecken. Wir können uns der Welt öffnen, ihren zehntausend Freuden und ihren zehntausend Leiden.”
(Jack Kornfield)
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© Ulrike Schmidt, Jahrgang 1960, Diplomierte Finanzwirtin, Lehrerin für Shiatsu und Qi Gong. Mitbegründerin der Berliner Schule für Zen Shiatsu. Goltzstr. 23, D-10781 Berlin. Tel.: +49 (030) 216 11 05, Fax: +43 (030) 217 569 47, http://www.zenshiatsu.de