Wie viel TCM braucht der Shiatsu-Mensch? (Walter Gutheinz)

Die Antwort auf diese Frage scheint die Shiatsu-Szene in zwei Lager zu spalten. Wird Shiatsu einerseits in einem sehr praktischen Sinne als manuelle Körpertherapie begriffen, so gilt das über Jahrhunderte angesammelte Wissen der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) oft als unnötiger Theorieballast, der das Shiatsu “kopfig” und theorielastig macht. Andererseits betonen Menschen, die Shiatsu in einem professionell-therapeutischen Sinne anwenden möchten, immer wieder die Notwendigkeit eines fundierten diagnostisch-therapeutischen Hintergrundwissens, wo uns die TCM in der Regel ja das geistige Material zur Verfügung stellt. Shiatsu soll dadurch effektiver, zielgerichteter und in seiner Anwendung weniger beliebig sein.

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Auch der gegenwärtige Satzungsstreit um eine doppelte oder erweiterte GSD-Mitgliedschaft spiegelt im Hintergrund diesen Konflikt wider. Soll in Zukunft der Therapeutentitel nur noch an solche Menschen vergeben werden, die eine anerkannte Shiatsu-Schule mit 350 Ausbildungsstunden absolviert und gleichzeitig die Heilpraktikerprüfung abgelegt haben sowie über ein fundiertes abfragbares TCM-Wissen verfügen? Und vergibt man dann die Berufsbezeichnung Shiatsu-Praktiker/in an solche Menschen, die, aus nicht-anerkannten Schulen kommend, im heimischen Wohnzimmer “Familienshiatsu” praktizieren und nur überein Halbwissen in der TCM – vielleicht ein bisschen Yin/Yang-Lehre oder Theorie der Fünf Wandlungsphasen – verfügen? Wird damit die oben aufgeworfene Frage schon allein durch den zukünftigen Mitgliedstatus beantwortet?

Erinnern wir uns! Auch in unseren doch oft recht unterschiedlichen Shiatsu-Biographien hat uns das Thema immer wieder bewegt. Mein eigener Zugang zum Shiatsu beispielsweise war anfangs äußerst theoriefeindlich: Die richtige Körperhaltung zu finden, angemessenen Kontakt herzustellen, Behandlungstechniken zu erlernen, Energie (Ki) zu spüren, Tun im Nichttun zu praktizieren etc. etc., das war allemal spannender als sich mit TCM auseinanderzusetzen, Meridianverläufe zu “erlernen”, Anatomie und Physiologie zu studieren oder fernöstliche Philosophien zu ergründen. Lehrer/innen, die uns anfangs in diese Richtung “drängen” wollten, hatten zunächst ganz schlechte Karten; und selbst vor der Shiatsu-Abschlussprüfung hielt sich noch hartnäckig das große Stöhnen und Wehklagen über den ganzen “Theoriemist”, der da abgefragt werden sollte. Shiatsu aus dem Bauch – sprich Hara und nicht aus dem Kopf war die Devise, und für die meisten von uns war sie eine heilsame Alternative zum ohnehin stark kopflastigen Alltag. Die Erkenntnis, dass Shiatsu auch einer geistigen Durchdringung bedarf, will man die Komplexität seiner Behandlungspraxis begreifen, reifte in mir erst allmählich.

Doch dabei stößt man schon auf das nächste Problem! Shiatsu ist im Verhältnis zur TCM ein sehr junges “Kind”: Zwar fußt die im Westen am häufigsten verbreitete Version von Shiatsu – basierend auf der Arbeit von S. Masunaga – noch am ehesten auf den Grundlagen der TCM, aber das ist auch schon alles! Carola Beresford-Cooke hat in ihrem Buch die Unterschiede zwischen der “Zen”-Shiatsu-Theorie Masunagas und dem grundlegenden “Konzept” der TCM herausgearbeitet und sich gleichzeitig auch ansatzweise um eine Harmonisierung beider Ansätze bemüht.

Doch das Thema birgt noch einen weiteren Pferdefuß! Das was uns heute als TCM verkauft wird, ist im Grunde gar kein in sich geschlossenes, abgestimmtes Lehrgebäude, auch wenn es in manchen Büchern, z. B. dem von G. Maciocia, so erscheint. Das jahrhundertealte, oft nur mündlich überlieferte Erfahrungswissen der chinesischen Volksmedizin ist erst in jüngster Zeit, im kommunistischen China, vereinheitlicht, systematisiert und katalogisiert worden, vielleicht auch deshalb, um es als Exportschlager im Westen zu vermarkten?!

Beschäftigt man sich intensiver mit der TCM, so erkennt man mehr und mehr ihren eklektischen Charakter: Im Laufe der chinesischen Geschichte hat sich ein Sammelsurium von historisch und regional oft ganz unterschiedlichen “Medizintheorien” herausgebildet, die nicht immer ganz widerspruchsfrei sind.

Man denke nur an die vielfältigen Wandlungen und Anwendungen des Begriffes Ki, die Manfred Kubny beispielsweise in seiner Doktorarbeit “Lebenskraftkonzepte in China” herausgearbeitet hat. Auch das macht das Studium der TCM nicht gerade einfacher, weil unser westlich geschulter Geist gewohnt ist nach richtig und falsch, modern und veraltet zu urteilen und ein nichtdualistisches “Sowohl als auch-Denken” sich erst mit unseren Hirnwindungen anfreunden muss. So gesehen könnte man den Aufwand, sich mit TCM zu beschäftigen, als zu beschwerlich und für unsere Shiatsu-Praxis ohnehin belanglos abtun, was ja auch in vielen Fällen geschieht!

Doch das Thema holt uns trotzdem immer wieder ein, läßt sich nicht so ohne weiteres aus dem Blickfeld wegradieren. Vergegenwärtigen wir uns nur dieses: Grundlage jeder Shiatsu-Behandlung ist normalerweise das Meridiansystem, eine “Erfindung” der TCM. Während jedoch in der TCM von sechs Arm- und sechs Beinmeridianen ausgegangen wird, was ja auch eine Vereinfachung älterer Konzepte darstellt, hat uns Masunaga für die Shiatsu-Praxis ein System hinterlassen, wo jeweils alle zwölf Meridiane an Armen und Beinen vorhanden und klassische Verläufe zum Teil umgestellt sind. Gibt man Akupunkteuren oder TCM-Praktikerinnen Masunagas Meridiantafel zur Ansicht, so stehen sie oft staunend und fassungslos davor, können bestenfalls einige innere Meridianverläufe mit den “Erweiterungen” Masunagas in Verbindung bringen.

Andererseits ist in der Shiatsu-Szene ein Verständnis über die Herkunft und den Hintersinn der “Masunaga-Meridiane” größtenteils unterentwickelt, in der Regel werden sie halt auswendig gelernt und mehr oder weniger in die Praxis integriert. Viele von uns haben sich wahrscheinlich in ihrer Ausbildung gefragt, warum sie das lernen müssen, ob die klassischen Meridiane der TCM nicht ausreichen, ja, noch ketzerischer, ob man für Shiatsu überhaupt Meridiane braucht?

Als Shiatsulehrer befinde ich mich momentan im vorläufigen Ruhestand! Doch ich erinnere mich noch ganz genau an die curricularen Grabenkämpfe an meiner ehemaligen Schule in Berlin-Kreuzberg, wo wir im Lehrteam sage und schreibe ein ganzes Jahr damit verbrachten, die “Masunaga-Meridiane” so abzugleichen, dass sie nicht mit dem klassischen System kollidierten. Die zurechtgestutzten “Masunaga-Meridiane” wurden so zu bloßen Verlängerungen der klassischen Akupunkturmeridiane, um den Schülern ein einheitliches, in sich homogenes System zu präsentieren. Richtig an diesem Ansatz war m.E., dass man nicht so einfach mir nichts dir nichts das Meridiansystem der TCM durch Masunagas Meridianlehre austauschen kann, ohne profunde Begründungen dafür zu liefern!

Und auch aus curricularen Gründen ist die Frage berechtigt, warum Shiatsuschüler/innen zuerst das klassische Meridiansystem lernen und sich dann mit den teilweise abweichenden Masunaga-Meridianen beschäftigen sollen?

Macht es nicht didaktisch Sinn, sich gleich für das eine oder andere System zu entscheiden? Hier sind wir am zentralen Punkt des Themas angelangt: Shiatsu hat sich einerseits aus der TCM heraus entwickelt, ist aber inzwischen so viele eigene Wege gegangen, dass grundlegende Unterschiede vorhanden sind! Dies kann an verschiedenen Punkten exemplarisch herausgearbeitet werden:


Diagnose

Während beim Shiatsu Hara- und Rückendiagnose eine entscheidende Rolle spielen, herrscht in der TCM Zungen- und Pulsdiagnose vor. Beim Shiatsu werden durch Tastbefund energetische Muster (kyo/jitsu) erspürt, die in eine spontane Behandlungsabfolge münden. Oft genug dient beispielsweise die Hara-Diagnose der bloßen Auswahl eines zu behandelnden Meridians, also der Findung eines Behandlungsthemas. Für den TCM-Praktiker wäre so etwas nie und nimmer Diagnose. Neben der Zungen- und Pulsprüfung betreibt Letzterer eine genaue Anamnese, u.a. durch Befragung, zur Erstellung eines fest umrissenen Behandlungsplanes (Nadelung, Kräuter, Diät, Tees, Körperübungen).


Behandlungsziel

Während ein Teil der Shiatsupraktiker/innen ein mögliches Behandlungsziel in der Suche nach Energieungleichgewichten (kyo/jitsu) und in der Schaffung eines Energieausgleichs findet, lehnt ein anderer Teil dies vehement ab. Ihm geht es statt dessen um absichtsloses Spüren, bloßes Dasein, Vertrauen auf die Selbstregulation der Klientenenergie ohne einzugreifen, nichts zu wollen z.B. keine Energie zu lenken etc.

In der TCM sind dagegen eindeutige Behandlungsziele vorgegeben. Aus der Anamnese werden mehr oder weniger klare Leitsymptome herausgefiltert, die einen festen Behandlungsablauf initiieren. Für jedes Symptommuster ergibt sich einzeln oder kombiniert ein bestimmtes Spektrum an Maßnahmen, um die Disregulation gezielt zu beeinflussen: Leere wird durch Zuführen, Fülle durch Ableiten, Hitze durch Kühlen, Kälte durch Wärme angegangen; Stagnationen werden zerstreut, Schwächen und Mangelzustände durch stärkende, aufbauende Maßnahmen aufgehoben etc. Fokus ist dabei immer Therapie, Beseitigung der Ursachen und der damit zusammenhängenden Symptome für die körperlich/geistig/seelische Disbalance


Philosophisch-geistiger Hintergrund

Während die TCM ihren geistigen Hintergrund bunt zusammengewürfelt aus der Philosophie des Daoismus, dem Konfuzianismus und der traditionell praktizierten Volksmedizin schöpft, greift Shiatsu auch auf westliche Psychologiemodelle und moderne schulmedizinische Physiologie und Pathologie zurück. Masunaga hat in seiner Shiatsu-Theorie den Meridianen ganz bestimmte Bedeutungen, Aufgaben und Krankheitssymptome zugeordnet. Bei letzteren vermischen sich in manchmal nicht mehr nachvollziehbarer Weise westlich beschriebene Krankheitsbilder mit Symptommustern der TCM. Für den TCM-Praktiker birgt dies gewisse Gefahren und Probleme in sich, denn westlich definierte Krankheits- und Beschwerdebilder kommen in der TCM oft entweder gar nicht vor (z.B. Allergie oder Krebs) oder sie haben für die TCM individuell ganz unterschiedliche Ursachen und Hintergründe (z. B. Asthma, Ischias oder Diabetes).

Asthma ist in der TCM eben nicht gleich Asthma oder wie bei Masunaga einfach nur ein Lungenjitsu-Zustand! Asthma beruht aus Sicht der TCM auf einem gestörten Zusammenspiel vieler Faktoren, vor allem in den Funktionskreisen Lunge und Niere. Im Einzelfall weist die Erkrankung ganz unterschiedliche Merkmale auf und bedarf somit auch einer ganz speziellen, differenzierten Therapie.

Noch grundsätzlicher kann sogar festgestellt werden, dass die TCM ein unzweideutiges Jitsu gar nicht kennt, sondern immer differenziert in echte Fülle und vermeintliche Fülle infolge von Leere! Diese Unterscheidung kennt das Shiatsu so normalerweise nicht; für die TCM ergibt sich aber dadurch eine ganz unterschiedliche Behandlungsweise, je nachdem ob die Fülle real ist oder auf einem Mangel beruht, bei vermeintlich gleichen oder ähnlichen Krankheitsmerkmalen.

Ebenso auffallend ist, dass in der TCM die Bedeutung der Yin- bzw. Zang-Funktionskreise viel größer ist als im Shiatsu. Yin- und Yang-Organe sind im Shiatsu dagegen völlig gleichwertig; Shiatsu kennt eine solche Gewichtung nicht! Und auch die Beschreibung der Organfunktionskreise des Körpers im Sinne eines mikrokosmischen Staats- und Regierungssystems durch die TCM hat sich in der Shiatsu-Welt – besonders in ihrem weiblichen Teil – nicht durchsetzen können. Ist doch dieses auf die konfuzianische Staatsphilosophie zurückgehende Modell durch und durch autoritär-patriarchalisch ausgeprägt und somit, nicht nur von einem feministischen Standpunkt aus, veraltet und unbrauchbar.

Hat das Konzept der Zang/Fu-Organe für die TCM allergrößte Bedeutung, so hat sich in der Shiatsutheorie mehr die Lehre von den 5 Elementen bzw. Wandlungsphasen in den Vordergrund geschoben. Letztere gilt den TCM-Praktikern oft als zu beliebig, widersprüchlich und ungeeignet, um präzise Diagnose und Therapie zu betreiben. Im Shiatsu aber öffnet sie gerade einen spielerisch-künstlerischen Umgang mit Natur- und Menschenphänomenen und somit auch den Weg zu einer mehr intuitiven Form der Behandlung. Die von der TCM als unwissenschaftlich und medizinisch zweitrangig betrachtete Fünf-Elemente-Lehre ist für eine, sich aus dem Augenblick der Berührung bestimmende Shiatsu-Praxis der adäquate Hintergrund!

Wir sehen also, dass sich Shiatsu in mancherlei Hinsicht aus der Tradition der chinesischen Medizin gelöst hat. Soll man sich trotzdem mit dieser Tradition weiter beschäftigen? Falls ja, so bleibt die Frage, wie und in welchem Umfang dies geschehen soll? Damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt!

In vielen Shiatsu-Schulen und Ausbildungsstätten Deutschlands kommt die TCM – soweit mir bekannt ist – entweder gar nicht oder nur am Rande vor. Häufig wird sie im Curriculum in einen Sonderkurs verpackt, ähnlich wie das Thema Anatomie und Physiologie, in der Hoffnung damit dem Thema annähernd gerecht zu werden. Im günstigsten Fall gibt es noch – wie an meiner alten Schule Arbeitsgemeinschaften für Leute, die sich intensiver mit der TCM befassen wollen. In der Regel bleibt dies jedoch dem Selbststudium Einzelner überlassen! Vorstellungen, TCM im Rahmen eines Aufbaustudiums für fertig ausgebildete Shiatsu-Praktiker/innen anzubieten, haben sich im deutschsprachigen Raum bisher noch nirgendwo realisieren lassen.

Was bleibt zu tun? Vielen von uns ist das Verhältnis von TCM und Shiatsu nur andeutungsweise klar. Es haben sich oft doch recht verschwommene Vorstellungen und Ressentiments über die TCM in der Shiatsu-Szene herausgebildet. Wilfried Rappeneckers Buch von den “5 Elementen und 12 Meridianen” wimmelt beispielsweise nur so von Fakten aus der TCM-Theorie, aber die allerwenigsten Shiatsu-Freunde begreifen das m.E. so?! Was ich bemängele ist ein sehr geschichtsloser Umgang mit unseren Wurzeln in der fernöstlichen Medizin.

Meines Erachtens sollte eine Shiatsu-Ausbildung wieder mehr Augenmerk auf diese historisch gewachsenen Grundlagen legen! Nur wenn wir unsere Basis oder Herkunft begreifen, können wir auch die Eigenständigkeit und Weiterentwicklung des Shiatsu adäquat vorantreiben.

Es geht m.E. nicht darum, TCM als eigenständiges Theoriegebäude in den Unterricht einzubringen; TCM kann kein zusätzliches Lehrfach sein! Aber wir Shiatsulehrer/innen sollten den Versuch machen, die Traditionelle Medizinlehre der Chinesen vom Odium des zusätzlichen “Theorieballastes” zu befreien. Wir sollten die gemeinsamen Wurzeln, aber auch die Brüche und Spannungen vermitteln, die die Beziehung von Shiatsu und TCM heutzutage bestimmen. So wird die Beschäftigung mit der TCM wirklich lebendig und ausbildungsrelevant und verkommt nicht zu akademisch-trockenem Bücherstudium. In diesem Sinne hoffe ich, ein paar Anregungen gegeben zu haben!

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© Walter Gutheinz, Jahrgang 1950, ist Qi Gong Lehrer und Leiter der Deutschen Qi Gong Gesellschaft in Berlin. Shiatsu-Lehrer seit 1993