Was liegt hinter der Behandlung? Essenz und Kontext – Vertiefung unserer Perspektive des Shiatsu-Projektes (Paul Lundberg)
Liebe Kollegen, im Herbst 2005 veröffentlichte das britische Shiatsu-Journal „Shiatsu Society News“ meinen „Offenen Brief an die Berufskollegen“. Er war eine längere Reflexion über Geschichte und Entwicklung von Shiatsu als Beruf in Großbritannien. Mit dieser Reflexion wollte ich die Frage aufwerfen, ob unsere beruflichen Aussichten und besonders unsere Ausbildungsstandards sowie das Bild von Shiatsu in der Öffentlichkeit und in anderen Gesundheitsberufen mit dem immer größer werdenden Spektrum an Anwendungen und dem Stellenwert von Shiatsu in unserer Gesellschaft Schritt gehalten haben. Ich wies darauf hin, dass, während wir uns als Berufsstand angemessene Richtlinien geschaffen und unsere Arbeit bekannt gemacht haben, wir nicht mutig, gewissenhaft oder kreativ genug gewesen sind, die Shiatsu-Ausbildung neu festzulegen und weiterzuentwickeln. Dadurch haben wir uns selber hinsichtlich unserer Kontakte zu Behörden und anderen Körperschaften benachteiligt.
Obwohl wir ein gutes Basistraining anbieten, ist dieses sehr allgemein und sollte als Minimum für jedwede therapeutische Arbeit angesehen werden. Vielen Absolventen mangelt es an Vertrauen, weil sogar die grundlegenden fernöstlichen medizinischen Diagnostik- und Behandlungsprinzipien nur unzureichend erfasst wurden, und weil wir uns selber nicht die Zeit für gründliche vergleichende Studien genommen haben. Folglich konnten die Lehrer der zweiten und dritten Generation nicht die erforderliche Tiefe entwickeln. Eine kommerzielle Wettbewerbssituation zwischen den einzelnen Schulen hat zudem nicht nur die Möglichkeiten der Expansion eingeschränkt, sie hat auch eine Betonung und Entwicklung von bestimmten Stilen und Methoden hervorgebracht, die, wenn sie ausschließlich angewendet werden, unseren Horizont begrenzen und uns von einer zentrierten und vertrauensvollen Position auf dem Gebiet der Traditionellen Chinesischen Medizin entfernen. Als ernste Konsequenz daraus folgt, dass es uns als Praktiker an Gewicht und Vertrauen mangelt, neben anderen professionellen Körperschaften mit Behörden etc. zu verhandeln.
Ich bin der Auffassung, dass eine Überprüfung dringend nötig ist, und möchte folgende Punkte zu bedenken geben:
— Die Diskrepanz zwischen den gegenwärtigen Ausbildungsstandards und den Bedürfnissen der Absolventen, die in einem klinisch-medizinischen Zusammenhang praktizieren möchten.
— Den ungünstigen Vergleich zwischen der Länge unserer durchschnittlichen Ausbildung und der anderer „seriöser“ alternativer medizinischer Berufe.
— Die Möglichkeit von flexibleren, zweigleisigen Ausbildungsmodellen, die die bestehenden Standards als angemessen für die Bedürfnisse und Absichten vieler Menschen respektieren, die aber zusätzlich eine größere Entwicklung in die Tiefe mit speziellen Wahlmöglichkeiten und Wegen sowie festgelegten Absolventen-Angeboten und angemessenen Qualifikationen erlauben. Ich habe ziemlich ausführliche Vorschläge für Lehrpläne zu jeder Stufe gemacht, denke aber, dass es nicht nötig ist, sie zu wiederholen.
Es genügt zu sagen, dass dieser Brief sehr viele Reaktionen ausgelöst hat – meist zustimmende. In unserer Shiatsu Society hat der gegenwärtige Vorstand zugestimmt, eine Überprüfung durchzuführen, und im Shiatsu College, das ich mitgegründet habe, gibt es eine lebendige Diskussion über neue Ausbildungsinitiativen.
Ich schrieb ebenfalls, dass meine Anregungen ein gutes Motiv für erneute Diskussionen seien und eine Kooperation mit anderen Europäischen Schulen in Gang bringen würde. Diese Schulen, denke ich, haben Verständnis für und Interesse an diesen wichtigen Fragen, auch wenn sie unter anderen Umständen und in anderen Entwicklungsphasen arbeiten.
Lange schon hatte ich das Gefühl, dass wir uns wieder unsere Ausgangssituation anschauen sollten, aber erst die Erfahrung beim ersten Europäischen Shiatsu Kongress in Kiental half mir, mich auf diese Fragen einzulassen. Dort sah ich das Potential, das wir in unserer Profession haben. Gleichzeitig wurde mir klar, wie wir arbeiten müssen, um diese Erfahrungen zu „recyceln“ und die Wurzeln unserer professionellen Ausbildung zu nähren.
Mit besten Grüßen Paul Lundberg.
Der unten stehende Artikel befasst sich mit weiteren Gedanken über die Maßstäbe unserer Arbeit. Er behandelt, allerdings auf andere Weise, dasselbe Thema wie der Brief. Er untersucht die Bedeutung der inhaltlichen Faktoren und die entsprechende Notwendigkeit für klare Ziele auf jeder Stufe der Ausbildung und in der Praxis. Er schließt mit einer Zusammenfassung dessen, was nach meiner Auffassung die einzigartigen und essentiellen Qualitäten sind, die die Shiatsu-Tradition für uns und zum Wohle der Gesellschaft heute bereit hält. Er wurde als Teil eines „Manifestes“ für einen Shiatsu-Workshop letzten Sommer in Wales mit Carola Beresford-Cooke geschrieben – sozusagen als eine Art Hommage, da wir seit 20 Jahren Kollegen sind.
Wenn wir uns selber fragten, „was die Essenz von Shiatsu“ ist, würden wir sicher mit einer Vielzahl von Antworten aufwarten können. Das Wort „Essenz“ jedoch deutet darauf hin, dass wir in die Tiefe schauen, zum Kern des Themas vordringen müssen. Essenz hat, wie wir wissen, in der Chinesischen Medizin eine besondere Bedeutung. Sie wird als Ursprungs-Substanz angesehen, als Yin-Aspekt des Ki, durch das die lebendigen Dinge wachsen und sich entwickeln. Essenz ist die materielle Basis, auf der sich etwas entwickelt. Aber das Yin-Yang-Gesetz sagt uns auch, dass wir vorsichtig sein sollten, denn wenn wir zu akribisch schauen, wird das, was wir suchen, verschwinden oder sich ins Gegenteil verkehren. In jedem Fall wird unsere Perspektive das Ergebnis beeinflussen, und das bedeutet, dass wir uns über unsere Absicht, unsere Position und unseren Standpunkt im Klaren sein sollten.
Man könnte sagen, dass die Essenz von Shiatsu die Behandlung ist und die Essenz dieser Behandlung wiederum die Berührung. Aber wir berühren auf vielerlei Weise. Somit erhebt sich die Frage, was die Essenz einer Berührung ist. Shiatsu bedeutet Fingerdruck. Masunaga sagte, es ist ein haltender, senkrechter, in die Tiefe gehender Druck mit dem Hara als Basis, der unser Ki berührt. Aber was ist Ki und was ist Hara? Wir werden sowohl nach außen als auch nach innen schauen müssen, um aus all dem einen Sinn entwickeln zu können. Was wir vor allem tun müssen, ist, uns den Kontext ansehen, und zwar nicht als Möglichkeit, „Essenz“ zu erklären, die nach Auffassung der TCM den Menschen formt, sondern um die Essenz von Shiatsu selber zu erklären und darzulegen, wie nützlich Shiatsu für die Welt ist.
Behandlung ist ein Begriff, der in allen medizinischen, therapeutischen und Gesundheits-Berufen gebraucht wird, aber auch beim Friseur, im Kosmetikstudio, bei Automobilen und im Baugewerbe, nicht zuletzt in der Landwirtschaft. Der Begriff muss sorgfältig betrachtet werden, um die exakte Natur zu bestimmen, das heißt, wir müssen uns anschauen, was in jedem individuellen Fall angeboten wird.
Shiatsu tauchte im Kontext der Traditionellen Medizin in Japan auf, um Behandlungsziele näher zu definieren und um sich von den irgendwie abgewerteten populären Anwendungen von Anma, der etablierten Massageform, zu unterscheiden. Doch in seiner kurzen Laufbahn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und deren Verbreitung in der westlichen Welt sind die Reputation und der Gebrauch von Shiatsu so vielfältig, dass – was durchaus angezweifelt werden kann – es in eine ähnliche Lage gekommen ist wie Anma ein Jahrhundert zuvor. (Ein entsprechendes Dilemma hat bezüglich von Massagen überhaupt in vielen Gesellschaften existiert.) Diejenigen von uns, die den Status der respektierten therapeutischen Ausführungsart bewahren möchten, sollten ihre eigene Wahrnehmung und ihr eigenes Verständnis von dem, was sie tun oder tun wollen, unter dem folgenden einfachen Banner betrachten:
- Wie passt Shiatsu in die breite Tradition der Fernöstlichen Medizin und Heilung?
- Können wir in der Öffentlichkeit und unter Kollegen, die auf verwandten Gebieten tätig sind, klar herausstellen, was wir anzubieten haben. Wir müssen uns mit den Begriffen und Verhältnissen des „New Age“, der „alternativen“ und „komplementären“ Woge der Volksgunst ein wenig auseinandersetzen, um unsere eigene Position im „Mainstream“ behaupten zu können.
Shiatsu ist eine Behandlung, die ein breites Spektrum von Techniken benutzt.Jede kann man für eine Vielzahl von Zwecken anwenden und adaptieren. Shiatsu wird angewandt zur Entspannung und zum Vergnügen, um allgemeine Schmerzen zu lindern, Anspannung und Müdigkeit zu begegnen. Shiatsu kann aber auch von Callgirls oder Callboys als Vorwand oder Teil ihrer Dienste angeboten werden. Es kann Interessierten auf Amateurebene beigebracht werden, die es dann zu Hause anwenden, also ihre Kinder oder ihre Lieben behandeln wollen; genauso könnte es aber auch Teil einer Kosmetik-Ausbildung sein oder bei einem guten Friseur zur Anwendung kommen. Die professionelle Ausbildung ist genauso von Vielfalt geprägt. Shiatsu könnte in verschiedenen Institutionen, wie Gesundheitszentren, Krankenhäuseren und Kliniken, die eine gute Reputation haben, als eine erprobte und getestete medizinische Therapie angewendet werden.
Was nun aber macht den Unterschied aus? Es ist nicht nur eine Frage von verfeinerter physischer Geschicklichkeit, die wir durch die Ausbildung und Praxis entwickeln, obwohl das wichtig ist. Es ist vielmehr eine Frage der persönlichen Absicht, die uns zu mehr oder weniger Integrität führt. Wenn aber der medizinische Aspekt unser Ziel ist, wird der Grad, zu dem wir bereit sind, die dazugehörenden Fernöstlichen und Modernen Traditionen der Medizin und der Heilung zu studieren und dieses Wissen mit unseren erworbenen fachlichen Fähigkeiten zu verbinden, die Kunst von Shiatsu in diesem Kontext bestimmen und zur Anwendung bringen.
Ich möchte also zweierlei sagen:
Erstens, dass ich es für wichtig halte, dass Shiatsu-Therapie (ursprünglich Shiatsu Ryoho) in den größtmöglichen Zusammenhängen unterrichtet wird, also sowohl die Japanische als auch in die Chinesiche Heiltradition Berücksichtigung finden, von wo es kommt, gleichzeitig aber auch das gegenwärtige Spektrum der klinischen Anwendungen zum Tragen kommt.
Zweitens, ich glaube nicht, dass es gut ist, sich auf eine enge und eingleisige Ausbildung zu konzentrieren. Auch eine Spezialisierung in Shiatsu allein, ganz zu schweigen von den vielen „Stilen“ oder Typen von Shiatsu, die inzwischen entstanden sind, steht uns als Profession nicht gut an. Wir täten besser daran, unser Shiatsu zusammen mit allen seinen assoziierten therapeutischen Techniken innerhalb des nährenden Stromes der ganzen Tradition zu erhalten und es respektvoll in diesem Kontext zu entwickeln. In gewissem Maße ist Shiatsu selbst schon zu sehr von seinen Wurzeln isoliert. Wir sollten deshalb umso wachsamer hinsichtlich des gegenwärtigen Trends zur Entwicklung und Vermarktung von verbesserten und individuellen Stilen und Behandlungsmethoden sein. Ein Trend, der gemeinhin in einem Boom von Körpertherapeuten und anderen Therapeuten, deren Wände mit unbedeutenden Zertifikaten behängt sind und deren Arbeit es an Tiefe, Tragweite und Kontinuität fehlt, resultiert.
Jetzt ist es, so hoffe ich, klarer geworden, dass Kontext als Aspekt dessen, was wir tun, immer Aufmerksamkeit verdient. Wenn dem Kontext mehr Bedeutung beigemessen würde, also die Absicht und die Gründe in den Mittelpunkt gestellt würden, wäre es leichter Entscheidungen zu treffen. Einige Leute könnten unnötigen Stress und unnötige Ausgaben vermeiden, wenn sie ein bescheideneres Ziel anstrebten; andere wiederum könnten ermuntert werden, die Motivation und das nötige Vertrauen zu finden, um eine lange, anspruchsvolle Ausbildung zu beginnen. Wenn wir die Anwendung der Shiatsu-Techniken verstehen und rechtfertigen möchten, müssen wir die verschiedenen bestehenden Bedürfnisse anerkennen. Dann sollten wir unsere eigenen Absichten deutlich machen und uns gut genug vorbereiten, damit unsere Fähigkeiten und Absichten anerkannt werden.
Wir sollten auch den Kontext der Behandlung selbst betrachten. Sie ist eine Verständigung oder, wenn man so will, ein Kontrakt zwischen zwei Parteien. Die Erwartungen des Klienten haben viel zu tun mit der Art des Angebots. Wenn es nicht klar ist, dann wird es den Klienten oder Patienten überlassen bleiben, sich die Grenzen vorzustellen und den besten Gebrauch davon zu machen. Aber es muss eine Übereinstimmung mit den Bedürfnissen des Klienten bestehen, damit der Prozess überhaupt funktioniert.
Wenn wir unser Shiatsu so annoncieren, dass wir auf bestimmte therapeutische Erfolge verweisen, sollten wir auch in der Lage sein, den Prozess zu begleiten und zum Abschluss zu bringen. Wenn wir sagen, dass ein pädagogisches Element in unserer Arbeit ist, kommt es zu einem Austausch ganz anderer Art. Es wird erwartet, den Klienten zu neuen Fähigkeiten und mehr Vertrauen zu ermuntern. Je mehr wir aber unsere Arbeit in einen medizinischen Kontext stellen, umso mehr laden wir unsere Patienten dazu ein, uns bei medizinischen Problemen zu vertrauen und umso mehr ist es unsere Verantwortung, uns an erster Stelle mit diesen Problemen zu beschäftigen. Wir könnten später tiefergehende therapeutische oder pädagogische Elemente einführen, wenn das angemessen und erwünscht ist.
Wenn wir die Möglichkeiten und Grenzen von Amateur-Shiatsu oder „Hausbehandlungen“ explizit anerkennen, können wir diesen wichtigen Aspekt der Shiatsu-Tradition ebenfalls entwickeln.
Der Kontext wird weitere starke externe oder physische Komponenten haben. Durch die Arbeit in einem Krankenhaus, einem Gesundheitszentrum zusammen mit Ärzten oder in anderen Gesundsheitsberufen wird eine andere Botschaft transportiert als bei der Arbeit in Kureinrichtungen, Wellness- und Schönheits-Zentren oder in „New Age“-Einrichtungen, die Edelsteintherapien, Tarot-Sitzungen oder ähnliches anbieten. Ich möchte hier kein wertendes Urteil abgeben, es lediglich feststellen. Wichtig ist, dass wir die Stufe bestimmen müssen, auf der wir arbeiten wollen und dass Heilung sich über ein riesiges Terrain erstreckt, das wir selber erkunden müssen, bevor wir anderen Orientierung geben können. Dafür brauchen wir Integrität und Engagement – uns selber und anderen gegenüber, mit denen wir leben und arbeiten.
Es könnte sein, dass wir Shiatsu als eine Körpertherapie entwicklen möchten, die Energieblockaden, die durch psychische und emotionale Unterdrückung entstanden sind, löst und den Menschen hilft, mit ihren Gefühlen in Berühung zu kommen und sie zu integrieren. Aber auch dann bräuchten wir die Erfahrung einer substantiellen Ausbildung in fernöstlichen und westlichen Disziplinen, um in der Lage zu sein, authentisch in der Öffentlichkeit zu wirken. Wenn wir Shiatsu vor allem als die beste Art, Entspannung zu fördern, sehen oder als Energie-Massage, die jedem nutzt, genügt es, eine Basisausbildung zu machen und damit zu arbeiten.
Nach unseren bisherigen Diskussionen könnten wir zu dem Schluss kommen, dass Kontext etwas ist, was wir bereit stellen – sozusagen als die eine Hälfte unserer Absichten; Substanz oder Essenz unserer Fertigkeit bildet dann offensichtlich die andere Hälfte.
Darüber hinaus aber gibt es noch eine letzte wichtige kontextuelle Überlegung: der innere Zustand des Klienten. Der persönliche Hintergrund eines Menschen ist einerseits erkennbar, die Dimension dessen aber ist so wenig greifbar, dass wir die tieferen Schichten verfehlen könnten, sogar dann, wenn wir gewissenhaft die diagnostischen Fäden verfolgen, die zu einem wirkungsvolleren Ergebnis führen. Es ist nämlich so, dass der Körper-Geist-Zustand des Empfängers tatsächlich am ehesten die Ergebnisse der Behandlung bestimmt. Die Selbstheilungskräfte sind einerseits sehr stark, die unterbewussten regulierenden oder hemmenden Faktoren aber andererseits ebenfalls, so dass die Behandlung, die wir geben, oft weniger mit uns zu tun hat als wir oder unser Ego uns glauben machen, auch wenn wir den Klienten einsichtsvoll und ganzheitlich behandeln. Sogar eine gewöhnliche Behandlung wird bei hundert verschiedenen Menschen hundert verschiedene Ergebnisse bringen. Das Spektrum reicht von unbedeutend bis hin zu nahezu mirakulös. Dies mag eine entmutigende Vorstellung sein, und wir könnten uns fragen, „warum wir überhaupt Diagnose und spezielle therapeutische Ansätze lernen sollen?“ Die Antwort ist einfach, wir sollten deshalb umso mehr studieren und praktizieren, um das Besondere, was Shiatsu ausmacht, sichtbar zu machen. Wichtig ist allerdings – und das gilt, ob wir gut oder weniger gut ausgebildet sind –, dass wir den Menschen immer dann am meisten von Nutzen sind, wenn wir unseren Weg in Demut gehen und deren Integrität respektieren.
Was also könnten unsere Gründe sein, auf wirklich tiefgehende Weise Shiatsu zu studieren?
Alles in allem bleibt Shiatsu ein japanisches Wort, hat also eine japanische Grundlage. Ohne sie wären wir in einem gänzlich anderen Rahmen. Aber vielleicht ist es auch wichtig zu fragen, warum wir das fernöstliche Modell benötigen. Vieles, was gut und gültig ist, kann in unserer eigenen oder in anderen nicht-fernöstlichen Kulturen auch gefunden werden. Was aber macht den essentiellen Wert von Shiatsu aus? Warum können wir ihn nicht ignorieren? Warum sollten wir ihn hegen und pflegen? Warum ist er nicht übertragbar oder hat woanders kein Äquivalent? Meine Antwort besteht aus drei Aspekten:
Zusammenfassung der „kontextuellen Essenz“ von Shiatsu
- Über die taoistischen und naturorientierten Schulen in China und über Shinto und Zen in Japan vermittelt die Fernöstliche Tradition, aus der Shiatsu kommt, eine philosophische Auffassung, die ganzheitlich ist, die Mensch und Natur nicht von einander trennt, nicht Körper und Seele, nicht innen und außen, nicht Wissenschaft und Kunst – wie das im Westen der Fall ist. Sie vermittelt also eine andere spirituelle Vision.
- Obwohl der Name Shiatsu nur ein einfaches Spektrum von Techniken beinhaltet, ist Shiatsu mit einem hoch entwickelten System von empirischer Medizin und Gesundheitsvorsorge verbunden. Wir können deshalb aus einem einzigartigen Pool von lebenswichtigen Theorien schöpfen, aus Energiezuordnungen und regulierenden Techniken der fernöstlichen Medizintradition, um die Arbeit mit unseren Mitmenschen (und Tieren) in einer Weise abzustufen, die von grob physischen bis zu feinsten und verfeinerten Stufen reicht.
- Zum Shiatsu gehört eine Tradition von physischen, mentalen, ästhetischen und Lebens-Disziplinen, die sich durch die ganze östliche Kultur hindurchziehen. Die Vorstellung von Harmonie in bezug auf die Ausrichtung der verfeinerten Zentren in unserem Körper ist etwas Grundlegendes in der Chinesischen Medizin. Man findet dies auch in taoistischen Meditationspraktiken, im Tai Chi, der „inneren Schule“ der Kampfkünste und im Qi Gong. In Japan wurden diese philosophischen und praktischen Elemente bezeichnenderweise durch die Hara-Kultur verfeinert. Mentale Konzentration, integriertes Gewahrsein von Haltung und Bewegung, Eleganz, Ökonomie und Einfachheit sind Elemente einer kreativen Meisterschaft, die tief durch alle Formen der japanischen Kultur verlaufen. Sie sind auch die Attribute von spiritueller Kraft, für die das Hara der Fokus ist. Verbindet man Medizin und Gesundheit, Kunst und Handwerk, Lebenszeremonien und Feste, trägt die japanische Hara-Tradition auf einzigartige Weise zur Entwicklung des menschlichen Potentials bei und bringt Shiatsu essentielle Qualitäten, ohne die es weniger authentisch und im ganzen kraftloser wäre.
Ich denke, um hiermit zum Schluss zu kommen, dass es durchaus möglich und gültig ist, Shiatsu in seinen demütigsten Formen zu studieren und zu praktizieren – als einfachen Weg der Heilung. Aber man kann eben auch nach seinen hochentwickelten Anwendungen im medizinischen Bereich streben. Shiatsu ist tatsächlich am besten definiert durch Punkt 3 unserer obigen Betrachtungen. Und das Hara? Wenn wir beim Shiatsu mit dem Hara verbunden sind, können wir von essentiellem Shiatsu sprechen, sind wir es nicht, fehlt diese Essenz. Wenn wir Shiatsu entwickeln wollen, sollten wir die wahre Natur seines umfassenden Hintergrundes anerkennen und studieren. Dann können wir entscheiden, was wir authentisch von unserem eigenen Verständnis hinzufügen können.
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© Paul Lundberg begann 1974 Shiatsu zu studieren, 1975 auch Akupunktur. Seine Gradierung erhielt er 1978 vom International College of Oriental Medicine. In derselben Zeit wurzelt auch sein Interesse an Taiji und Qigong. Während seiner 25jährigen Zeit des Praktizierens und Unterrichtens von Shiatsu und Akupunktur studierte er fortwährend sowohl Chinesische als auch Japanische Heilmethoden und vergleichbare moderne westliche psychophysische Therapieansätze, wobei er mit vielen international anerkannten Meistern arbeitete. Insbesondere verbindet ihn eine lange Zeit der Lehre und Mitarbeit mit Akinobu Kishi. Seit 1981, als er zum ersten Mal nach Japan fuhr, um Shinto-Heilung und Seiki mit Kishi zu studieren, liegt sein Augenmerk auf der Integration des Verständnisses und der Praxis von Seiki in seine eigene Arbeit. Als Mitbegründer des Shiatsu College in Großbritannien (London, 1986) hat er anschließend eine Zweigstelle des College in Brighton eröffnet, die er fünf Jahre lang leitete. Er ist Autor des “Book of Shiatsu” ( 1992, 2003), das mittlerweile in zwölf Sprachen verlegt wird. Zur Zeit verbringt er die meiste Zeit des Jahres in Tenerifa mit Schreiben. Zudem gibt er weiterhin Kurse und Seminare in Großbritannien, Spanien und anderen Europäischen Ländern.