Therapie als Ritual. Versuch einer Darstellung der Hintergründe von J.R. Worsley´s Konstitutionstherapie (Josef Viktor Müller)
Vortrag zum Gedenken an J.R. Worsley
Die Funktion des Abschiednehmens ist eine zentrale Aufgabe der Metallfunktionen im Menschen, die dafür sorgen, dass die Essenz dessen, was nicht mehr materiell vorhanden ist, in uns als Erinnerung weiterlebt. Deswegen möchte ich nicht auf biographische Einzelheiten des Lebenslaufes von J.R. Worsley eingehen, sondern versuchen, das Wesentliche seiner Arbeitsweise aus einer kurzen Fallgeschichte herauszuarbeiten und zu seiner Bedeutung für die Praxis der CM im Westen hin zu verdichten.
Auf einem Lehrvideo von Worsleys “College of traditional Acupuncture” wurde er zusammen mit einem Patienten im terminalen Stadium von Morbus Hodgkin gezeigt. Worsley fragte diesen Patienten, der noch sechs Monate Lebenserwartung hatte, wie er sich mit dieser Prognose fühlen würde. Scheinbar unbeeindruckt antwortete der Mann “jeder muss einmal sterben”. Worsley reagierte darauf indem er sich abwandte und vorgab die Nase zu putzen. In dem ca. halbminütigen Schweigen blieb die Videokamera auf das Gesicht des Patienten gerichtet, das sich in eindrücklicher Weise veränderte: Die Maske der zynisch-stoischen Unerschütterlichkeit fiel in sich zusammen und in dem Schweigen trat das zuletzt gesagte “jeder muss einmal sterben” ins Bewusstsein, so dass die bislang unterdrückte Todesangst zum Vorschein kam. Hier wurde der Zusammenschnitt unterbrochen und wir erfuhren aus der Patientendokumentation, dass dieser Mensch tatsächlich nach sechs Monaten gestorben war, dass er aber während dieser Zeit noch geheiratet und sie als die reichste Phase seines ganzen Lebens bezeichnet hatte.
Im Schulambulatorium konnten wir immer wieder beobachten, wie J.R. Worsley durch seine oft nonverbale Interaktion ähnlich tiefgreifende Transformationsvorgänge in Menschen auslöste. Ich möchte daher dieses Wenige an expliziten Geschehen auf dem Hintergrund des impliziten Reichtums eines derartigen therapeutischen Vorgehens beschreiben.
Einen Eckpfeiler von Worsleys Konstitutionstherapie bildet die Darstellung des Kp.64 im Ling Shu über Yin/Yang und die 25 Charaktertypen des Menschen. Dabei handelt es sich im wesentlichen um 5 Menschentypen die den einzelnen WP zugeordnet und zu Untertypen verfeinert werden. Die Zahl 64 deutet an, dass durch diese Klassifizierung die gesamte Bandbreite von menschlichem Verhalten beschrieben wird, ähnlich wie die 64 Hexagramme des Yi Jing das gesamte Kräftespektrum unserer Wirklichkeit abbilden, das sich in den 64 Basenkombinationen des genetischen Codes reflektiert.
Gemäss der Klassifikation des Kp. 64 L.S. ordnete Worsley oben beschriebenen Patienten der WP Wasser zu, über den wir in Kp. 64 Ling Shu, Yin Yang und die 25 Charaktertypen, lesen:
Der Wassertypus schwingt mit dem oberen Yu Ton (der pentatonischen Skala) und trägt die Erbschaft des schwarzen Kaisers. Solche Menschen haben einen schwärzlichen Hauttonus, ihre Gesichter sind unebenmässig. Sie besitzen grosse Köpfe, gerundete Gesichtszüge, schmale Schultern, einen grossen Bauch und ihre Hände und Füsse sind ständig in Bewegung. Ihr Körper schwingt beim Gehen und sie haben eine lange Wirbelsäule. Sie zeigen keine angemessene Achtung vor Angst und sind gute Lügner. Es besteht eine Tendenz im Krieg oder durch in Ungnade fallen getötet zu werden. Ihre Widerstandskraft gegen Erkrankungen ist hoch im Herbst und Winter, aber gering im Frühling und Sommer wo sie sich Krankheiten zuziehen.
Dann werden vier Untertypen beschrieben, als Yin/Yang Klassifizierung mit einer Art Symmetrie der Körperregionen, die sich auch als Symmetrie von Verhaltensmustern sehen lassen, welche alle in unangemessenen Umgang mit der Emotion Angst bestehen.
- Yin-Fülle (rechter Fuß Tai Yang und obere Tai Yang-Region): Erstarrung (Katatonie)
- Yang-Fülle (linker Fuß Tai Yang und obere Tai Yang-Region): Überbetonung des persönlichen Ehrgeizes (“Adrenalin-Junkie”)
- Yang-Leere (linker Fuß Tai Yang und untere Tai Yang-Region): Handlungsunfähig (Willensschwäche)
- Yin-Leere (rechter Fuß Tai Yang und untere Tai Yang-Region): Ruhelos (mangelndes Urvertrauen)
Die Vektoren der Entfernung von angemessenem Ausdruck von Angst sind wichtig bei der Behandlung, da sie zu gänzlich unterschiedlicher Punktwahl führen. Die Punkte werden dabei nicht bezüglich der Regulation von Qi oder Substanzen gewählt, sondern bezüglich der Regulation von Verhalten. Die Leugnung von Todesangst durch den Willen erfordert z.B. eine Punktwahl die eine empfänglichere Wahrnehmung von Angst ermöglicht, im erwähnten Fall durch die Zerstreuung von Bl 52 Raum des Willens, mit gleichzeitiger Stärkung von Ni 10 dem Wasserpunkt, der die Qualität des Wassers repräsentiert, sich in die Tiefe der eigenen Aengste zu begeben und sie als lebensbewahrende Vorsicht zu erfahren.
Um zu einer Diagnose dieser nicht-physischen Ebene zu gelangen, die Kp.8 des Ling Shu als die Krankheits-verursachende ansieht, ist die Schulung der emotionalen Wahrnehmung von grösster Bedeutung. Darin liegt ein wesentlicher Beitrag von Worsleys Stil für die Chinesische Medizin, der sich dem Erhalt der ganzen Bandbreite von Wahrnehmungskanälen verpflichtet fühlt.
Emotionale Wahrnehmung bedeutet bereit zu sein mit dem Patienten mitzuschwingen und die Gefühle, die er erfährt in uns selbst als Resonanzinstrument zu spüren. Wenn wir lernen, dieser emotionalen Wahrnehmung systematisch Beachtung zu schenken, können wir uns sehr schnell auf einen Patienten einstimmen. Dazu ist aber die Bereitschaft notwendig, messbare Objektivität nicht als einzige Erkenntnismethode anzusehen, sondern auch der eigenen subjektiven Wahrnehmung zu vertrauen, die freilich später mit dem Verstand in Beziehung gesetzt werden muss.
Sinnliche Wahrnehmung besteht in der Kultivierung von Hören/Riechen/Sehen und Palpieren zu ungeahnter Schärfe, die in der japanischen Meridiantherapie in Yanagiyas Nicht-Fragen Diagnose gipfelt. Diese Kultivierung der Sinne entwickelt auch Vertrauen in die eigene instinktive Natur, welche in der Meisterschaft blinder japanischer Akupunkteure offensichtlich wird.
Intuitive Wahrnehmung, der Ort an dem eine solch umfassende Sicht eines Patienten entsteht, ist in der CM wie auch transkulturell der leere Raum des Herzens, aus dem heraus nicht ängstlich Symptome addiert werden, wie Pater Larre bemerkt, sondern aus dem heraus ein grosszügiges Bild der höchsten Vision eines Patienten entsteht. Diese Fähigkeit liess Worsley manchmal hellseherisch erscheinen, ist aber unser aller Geburtsrecht wenn wir uns vom rationalen Diktat des Verstandes abwenden und den leeren Raum des Herzens kultivieren.
Mit dem Verstand können wir gut den Mechanismus einer Erkrankung erfassen, aber wenn wir nur ihm folgen kommt zwangsläufig Reduktionismus dabei heraus:
Geistige Erkrankungen auf Störungen des Herz Qi zu reduzieren oder wie die Gen-Forscher alles Leben von seinem kleinsten DNS Bestandteilen zu erklären oder wie Prof. Unschuld alle medizinische Entwicklung in Ost wie West auf geschichtliche Umstände zurückzuführen.
Ein solches Verhalten würde gemäss DSM (Diagnostisch-Statistisches Manual der US-Psychiatrie Gesellschaft) unter den Krankheitsbegriff Literalismus fallen – das wortwörtlich-Nehmen einer Aussage, ohne ihren symbolischen Hintergrund wahrzunehmen. Wenn wir die Aussagen der chinesischen Medizinklassiker derart reduktionistisch interpretieren, geschieht mit ihnen genau das, was Heiner Frühauf schildert – sie landen in einem verstaubten Abstellraum, weil ihnen in ihrem überzeitlichen oder zeitlosen Charakter keine klinische Wirksamkeit zugestanden wird.
Diese klassischen Texte, Jing genannt, müssen jedoch wie die Essenzen, Jing, von Generation zu Generation weitergegeben werden da ihr Gehalt zeitlos ist. Und sie müssen daher auch in der klinischen Praxis präsent bleiben. Eine solche für Worsleys Stil wichtige Textpassage aus dem Huang Dei Nei Jing S.W. Kp. 13 lautet “In alten Zeiten behandelten die Weisen weder mit Kräuter noch mit Nadeln sondern benützten die Methode der Inkantation (Besingung bzw. schamanisches Ritual)”.
Versteht man den Begriff in alten Zeiten wortwörtlich, so kann man ihn historisch als „primitive schamanische“ Stufe der Medizin interpretieren oder aber ganz traditionalistisch als goldenes Zeitalter verstehen in dem sowieso alles besser war. Versteht man die Aussage des Kp. 13 S.W. aber symbolisch, dann bedeutet in alten Zeiten eine andere Dimension von Zeit, die nicht historisch linear erfahren wird, sondern die in den Worten von Meister Ekkehard das “Ueberall und Immerdar” im Gegensatz zum Hier und Jetzt darstellt.
Kaptchuk greift diesen Gedanken vom schamanischen Ritual oder der Methode der Inkantation / der Besingung auf, wenn er bemerkt, dass es ein Missverständnis ist zu glauben wir würden mit der Nadel oder mit Kräutern dem Patienten etwas zuführen. Vielmehr dienen sie nur als Mittel um eine Resonanz im Patienten zu erzeugen. Auch Dr. Shens Aussage geht in die gleiche Richtung: CM ist 5% Kräuter, 5% Nadel und 90% Lebensführung.
In der eingangs erwähnten Fallgeschichte brachte J.R. Worsley den Patienten zuerst mit lange unterdrückter Angst in Resonanz und stimmte ihn dann auf eine neue Lebensführung ein, die zwar nicht sein Leben verlängerte, aber eine ganz andere Qualität in sein Leben brachte. Dadurch konnte Weisheit als Tugend der WP Wasser hervortreten, der man umso näher ist, je näher der Tod ist. Statt zu erlauben sich durch Rationalisierung abzuwenden, konfrontierte Worsley diesen Patienten mit der Dringlichkeit seiner Lage auf nonverbale Weise und diese Konzentration auf die geistige Ebene der Erkrankung vermittelte dem Patienten eine ganz neue Dimension der Sinnfindung. Dies ist nach Viktor Frankl die wichtigste Dimension von Therapie, der dementsprechend seine Logotherapie entwickelte und daher erklärt sich Worsleys Aufforderung: “Sehen Sie ihre Klienten immer im Zustand ihres vollen Potentials.” Dies ist allerdings für viele Menschen alles andere als angenehm und beruhigend, denn es ist nicht auf “restitutio ad integrum” ausgerichtet sondern auf Transformation: Sinn in seinem Leiden zu finden und es als Herausforderung zur Entwicklung neuer Qualitäten zu betrachten. Krankheit ist so verstanden ein Mittel persönlicher Transformation und dazu müssen Therapierende Leid selber erfahren haben. Statt dem einfältigen Bild von ständig robuster Gesundheit zu entsprechen, trägt der archetypische Heiler selbst eine Wunde, so wie Worsley selbst mehrere Herzinfarkte erlitt.
Aus all diesen Erfahrungs- und Wahrnehmungsebenen heraus versuchte Worsley ins Zentrum der Einzigartigkeit jeder Erkrankung vorzudringen und durch individualisierte Punktwahl und Interaktion die einzigartige Bestimmung der Seele eines Menschen anzusprechen, die dann hervortreten kann, wenn sich die Tugenden der WP ungetrübt durch konditionierte Emotionen ausdrücken.
Dieses Vorgehen nennt Kp.13 S.W. schamanisches Ritual und auf wesentliche Elemente dieses Rituals in moderner Form möchte ich nun näher eingehen. Dabei stütze ich mich auf Jungs Aussage, dass der Alchemistische Prozess ein Modell für Therapie darstellt. Traditionell gelten die daoistischen Alchemisten als Nachfolger der Schmiede und Schamanen und die von ihnen im Dao Zang entwickelten Modelle können als praxisrelevantes Vorgehen für den Transformationsvorgang in der Therapie verstanden werden, der die Analyse des Krankheitsmechanismus ergänzen soll. Dabei wird der Therapieraum als alchemistisches Labor betrachtet, als ein Ort, der von den Einflüssen der Aussenwelt geschützt werden muss und in dem man beginnt mit dem Ausgangsstoff der prima materia d.h. mit den Problemen des Patienten zu arbeiten. Dieser Raum darf nicht mit vorgefassten Meinungen und Small Talk gefüllt werden, sondern er dient dazu, dass der Patient seine persönliche Geschichte hier auf bedeutungsvolle Art hineinstellen kann und ihr zuzuhören beginnt, so dass sie Sinn macht. Dante hat erklärt, dass man seine göttliche Komödie auf mindestens vier verschiedenen Ebenen lesen kann, und so können auch wir die persönliche Geschichte eines Patienten auf verschiedenen Ebenen verstehen.
Die Ebene der Fakten: bezieht sich auf den Lebenslauf mit wichtigen Daten, den beruflichen Werdegang und die körperlichen Symptome.
Die psychologische Ebene: bezieht sich auf das Selbstverständnis einer Person, die Geschichte die sie gelernt hat über sich zu glauben als Opfer von Umständen, der Familie, der Erziehung. Dies ist oft die Biographie eines Opfers, die umgeschrieben werden kann.
Dahinter liegt die archetypische Ebene: d.h. welche tiefen psychischen Prägemuster sich in der individuellen Geschichte ausdrücken. Ein solches Muster ist z.B. im Mythos des Prokrustes beschrieben. Jeder Mensch der nach Athen hinein wollte und den Normen nicht entsprechen konnte wurde hier in die Länge gezogen bzw. abgeschnitten. Und so finden sich auch in unserer Psyche Teile, die zu uns gehören aber die wir zurechtgebogen oder abgeschnitten haben um den Normen zu entsprechen. Diese bisher ungelebten Teile rufen in dieser Erkrankung oft nach Beachtung und deshalb formuliert A. Mindell “don’t let yourself be limited by your present identity”.(Lassen Sie sich nicht von ihrem jetzigen Identitätsbegriff begrenzen!)
Die vierte und entscheidende Ebene ist die Ebene der individuellen Bestimmung Tian Ming, denn wie Plato im Staat formuliert hat, sucht sich unsere Seele die passenden Umstände aus, um sich zu verwirklichen: In dieser Sicht ruft Erkrankung nach Ueberwindung der herrschenden Persönlichkeitsstruktur, um neue Qualitäten manifestieren zu können. Indem man nur den Qi-Mechanismus der Erkrankung reguliert, liesst man daher die Geschichte eines Patienten auf der faktischen Ebene von erfassbaren Daten. Demgegenüber fordert das Su Wen nicht nur das Qi zu regulieren, sondern dass Shen und Qi in diesselbe Richtung gehen müssen. Sonst erzeugt die Therapie nur noch mehr Spaltung, da sich die innere Notwendigkeit von seelischer Bestimmung einer Regulation entgegenstellt, die nur darauf abzielt, dass es wieder wird wie es war.
Schamanisches Ritual bei der Behandlung wie es Worsley ausführte war das Herstellen dieser Uebereinstimmung von seelischer Absicht und äusserer Darstellung durch die Persönlichkeit. Die Konstitutionstypen der einzelnen WP liefern dazu den Fokus um überbetonte Haltung und Gefühle gehen zu lassen und nichtgelebte Wesenszüge zu fördern. Die Erinnerung an diese ungelebten, schlummernden Potentiale können durch die Namen der Punkte geweckt werden, Besingung durch schamanisches Ritual bedeutet über die Akupunkturpunkte mit längst verborgenen oder abgeschnittenen Teilen des eigenen Wesens wieder in Resonanz zu treten.
Eine weitere Analogie aus der Alchemie begreift Therapie als alchemistisches Gefäss wie es in den Punktnamen Di 18 Tian Ding, Himmlischer Dreifuss oder im HG 50 Der Tiegel ausgedrückt ist. In diesem Tiegel müssen konditionierte Haltungen geopfert und eingeschmolzen werden. Dieses Einschmelzen ist ein schmerzhafter und destabilisierender Prozess, an dessen Ende aber das Gold einer transformierten Haltung steht. Statt in einem Zustand unterdrückter Angst mit grossen Schmerzen im unteren Rücken zu verbleiben, kann die Angst ins Bewusstsein hochsteigen, z.B. durch Oeffnen des Himmelsfensters Bl 10 Himmlischer Pfeiler und dann in die realistische Haltung der Vorsicht durch Kunlun, Bl 60 umgewandelt werden. Nur den Qi Mechanismus im unteren Rücken zu regulieren, bedeutet dass die Angst in tiefere Körperstrukturen verschoben wird.
Die Rolle des Therapeuten in diesem alchemistischen Prozess ist durch die Analogie mit Hermes oder Merkur ausgedrückt, der als Begründer der westlichen Alchemie gilt und der den Prototyp des Schamanen verkörpert. Merkur/Hermes der Götterbote bedeutet eine sehr fliessende Persönlichkeit einnehmen zu können, um Menschen auf verschiedenen Ebenen ihres Wesens Hilfe zu geben. Traditionell reist er zwischen Himmel, Menschenwelt und Unterwelt und übertragen bedeutet es zu vermitteln zwischen Körpersymptomen als unterdrückte Inhalte des Bewusstseins und den Zielen der Bestimmung und beide in die Alltagserfahrung zu integrieren. Zuerst kommt dabei die Konfrontation mit der Dunkelheit, die den alchemistischen Prozess des Nigredo darstellt und erst dann kann ein Aufstieg erfahren werden ohne dass es “spiritelles bypassing” darstellt. Dieses Modell des Schamanen als Seelenführers hat J.R. Worsley repräsentiert, indem er den Sinn der Symptome, des in der Unterwelt von Krankheit gefangenen Bewusstsein zu erfassen suchte und verstand, wie die Symptome zur Verwirklichung nichtgelebter Aspekte auffordern.
Dadurch wird das lineare Ursache – Wirkung Denken bzgl. Krankheit ersetzt durch das Erfassen des Sinns oder der Absicht – eine Tatsache die in der fraktalen Geometrie der Chaostheorie als Attraktor bezeichnet wird – ein auf sich hin organisierender Faktor der nicht aus der Vergangenheit wirkt, sondern auf eine zukünftigen Entwicklung drängt. Die Aufgabe des Therapeuten als Repräsentant des Götterboten Hermes ist die Botschaft zu bringen: du musst nicht immer in der Unterwelt bleiben wenn du verstehst wohin der Attraktor in deinen Leiden dich ziehen will. In den Worten des Mathematikers Euler: Die Anziehungskraft der Zunkunft ist stärker als die Schubkraft der Vergangenheit.
Eine solche Resonanz mit dem eigenen Potential herzustellen liegt oft nicht im Interesse der konditionierten Persönlichkeit und daher ist im Archetyp des Hermes auch der Trickster oder Schelm angelegt, der Patienten auf oft gar nicht politisch korrekte Weise überlistet, so wie Worsley eine Kettenraucher, der seine Nikotinsucht nicht reduzieren wollte, erklärte: “Dann lernen Sie auf einem Bein weiterzurauchen”.
Damit steht Worsley in der langen Tradition berühmter chinesischer Aerzte die die sogenannte Medizin ohne Form praktizierten, indem sie verhärtete Haltungen und konditionierte Emotionen auf schelmische und oft provozierende Weise in Frage stellten, wobei sie sich der Gesetze von Sheng- und Ko-Zyklus auch auf der emotionalen Ebene bedienten. Diese Kunst der persönlichen Intervention droht durch die immer grössere Tendenz zu rationaler Verschulung verloren zu gehen, ebenso wie das Verständnis des Körpers als heiliger Mikrokosmos dabei schwindet, dessen 365 Punkte die 365 Grade des Sternkreises in uns widerspiegeln. Ohne diese Wurzel im Unsichtbaren, Zeitlosen, Nichtmessbaren wird der Mensch auch in der CM zu einem blossen Objekt reduziert, das mit standardisierter Diagnose und Behandlung repariert wird. Ein derartig einseitiges rationales Weltbild konstelliert automatisch religiösen Fundamentalismus, der die Verwurzelung im Unsichtbaren wiederherstellen möchte, aber unerträglich ist in seiner engstirnigen und gewaltsamen Durchsetzung von Religio/Rückbindung.
Darauf bezieht sich die Symbolik des 11. September mit seinen beiden einstürzenden Türmen: können wir zwischen den Extremen des wissenschaftlich-ökonomischen und des religiös-fundamentalistischen Weltbildes mit ihren totalitären Machtsansprüchen hindurchsteuern, ohne zwischen ihnen zerrieben zu werden. Wir müssen aus dieser höchst einfältigen Polarisierung herauskommen, denn wie James Hillman in seinem Essay zum 11. September formuliert: bezieht sich die Symbolik des einstürzenden Turms keineswegs auf die Strafe Gottes, sondern auf die Absicht des Dao – auch auch hier wieder ein Attraktor. Das Dao will keinen globalisierten Markt, keine Alleingültigkeit beanspruchende anglo-amerikanische Kultur des Raubtier-Kapitalismus, keinen Alleingültigkeit beanspruchenden Monotheismus, keine normierten Durchschnittswerte von Gesundheit, keine einheitliche Feldtheorie in der Physik und keine standardisierte Form der chinesischen Medizin. Auf Ground Zero angekommen finden wie uns auf dem gemeinsamen Boden unserer Menschlichkeit voll stolzer Demut wieder und erkennen, dass wir nur gleich in unserer Einzigartigkeit sind – und in sonst nichts. Hillman drückt dies durch den berühmten Vers des Sufi Mystikers Rumi aus: es gibt hundert Arten niederzuknien und den Boden zu küssen.
Solche Individualisierung muss keineswegs zur Zersplitterung führen, sondern kann sich an Bachs Ideal von einem Orchester als Beispiel für die menschliche Gemeinschaft orientieren. Darin schwebt Bach vor, dass jedes Instrument seinen persönlichen Ausdruck in den Dienst des musikalischen Gesamtwerkes stellt ohne seinen individuellen Charakter zu verlieren.
Kaptchuk erzählt anekdotisch eine Geschichte die die Wichtigkeit von individualisierter Therapie klarmachen soll: ein Kranker konsultiert drei Aerzte. Der erste sagt: du bist krank weil du diene Anpassung an die Umwelt verloren hast. Gut, er geht zum zweiten, der diagnostiziert: du bist krank, weil sich eine bestimmte Art der Krankheitsveranlagung darin ausdrückt. Der Kranke ist immer noch nicht zufrieden und geht zum dritten Arzt, der sagt: jede Krankheit hat ihre individuellen Wurzeln. Diesen Arzt wählt der Patient.
Eine derartige Individualisierung drückte sich oft in Worsleys einzigartiger Punktkombination und Behandlungssequenz für einen bestimmten Patienten aus, damit diese Person in sich selber Sinngebung finden konnte, indem sie die tötende Sinnlosigkeit des eigenen Leidens durch Entwicklung neuer Qualitäten und Haltungen überwand, angeregt durch die Resonanz der Nadelung.
In diese Richtung von individualisierter Bewusstseinsveränderung bewegt sich auch der medizinische Forschungszweig der Psycho-Neuro-Immunologie. Dr. Pert, ein führender Vertreter formuliert die ausschlaggebende Bedeutung von innerer Haltung so:”Emotionen geschehen nicht im Kopf, es gibt zelluläres Bewussstsein mit Weisheit in jeder Zelle. Die emotionale Energie kommt zuerst und erst dann werden überall Peptide ausgeschüttet. Bewusstsein geht der Materie voraus, nicht die Peptide erzeugen die Gefühle, sondern umgekehrt.” Damit widerspricht Dr. Pert der allgemeinen Tendenz die mit Descartes begann und im wesentlichen wird die Aussage von Ling Shu Kp.8 durch Dr. Pert bestätigt: “Die Wurzel der Erkrankung liegt im Nichtphysischen.” Der Physiker und Nobelpreisträger Dr. David Bohm formuliert das Gleiche mit anderen Worten: “Intelligenz und Bewusstsein operieren aus der impliziten, nicht materiell manifestierten Wirklichkeit heraus in die explizite objektivierbare Wirklichkeit als verschwindend geringer Teil eingebettet ist. Im Dao De Jing lautet diese Aussage: “Das Formlose ist die Mutter der Form” und die buddhistische Formel: “Gehen ohne Beine, Fliegen ohne Flügel” könnte dahingehend erweitert werden zu “Denken ohne Gehirn”.
Auf diese Art von Wahrnehmung und Bewusstsein in der Diagnose und Therapie weist auch der Begriff Gestalt: etwas worin mit der Plötzlichkeit einer Offenbarung das nichtphysische Wesen eines Menschen in Haltung, Gestik, Stimme und Gesichtsausdruck erscheint. Auf diese Art der Erkenntnis die über rationale Analyse hinausgeht bauten so herausragende Wissenschaftler wie Heisenberg, Niels Bohr oder Schrödinger. Der französische Mathematiker Poincare schildert solch ganzheitliches Erkennen mit der Aussage: “Das erschütterndste Erlebnis ist plötzliche Erleuchtung.” Diese blitzartige Erleuchtung, die auch im Schriftzeichen von Shen ausgedrückt ist, integriert die Gesamtheit aller Wahrnehmungskanäle von Verstand, Intuition, Gefühl und Körperempfindung zu einem Gesamtbild, zu einer Gestalt, die erlaubt die Geschichte eines Patienten auf der nichtphysischen Ebenen von Bedeutung, Sinngebung und Bestimmung zu erfassen. Objektivierbare Fakten finden sich nur in den äusseren Schichten unseres Wesens, die der Analyse zugänglich sind. Um tiefer zu gehen und die Wurzel der Erkrankung im Nichtphysischen anzusprechen, bedarf es einer individualisierten und synthetischen Wahrnehmung: “Es kann erfahren aber nicht gelehrt werden” (Ling Shu Kp. 1). J.R. Worsley lebte solche Erkenntnis in Bezug auf Patienten vor.
Auch Dr. Zhang, eine lebende Legende der Akupunktur in Peking betont, dass grosse analytische Fähigkeiten durch umso grössere synthetische Sicht ausgeglichen werden müssen, deswegen behandelt er unterschiedlichste Krankheitsmechanismen alleine durch den Punkt Niere 3.
Wie können wir uns auf eine solche synthetische Sicht von Patienten zu bewegen, die nicht bei der Addition ihrer Symptome stehenbleibt sondern auch das Potential, den Attraktor einer Erkrankung berücksichtigt? James Hillman versucht in seinem Buch Der Code der Seele eine Antwort darauf zu geben indem er die Eicheltheorie des deutschen Biologen Hans Driesch auf die seelische Entwicklung des Menschen anwendet. Diese Theorie stützt sich auf die Idee der Entelechie von Aristoteles, die besagt, dass jede Seele ihr Ziel in sich trägt, so wie die Eichel das Bild des ausgewachsenen Baums enthält. In der Sprache der Chinesischen Medizin heisst das Ming / Bestimmung und die Sprache in der die Seele uns ihre Absicht kommuniziert ist die von Bildern, Träumen, Symbolen und Körpersymptomen. Der Code der Seele kann nicht verstanden werden durch Analyse von genetischer Veranlagung, Umwelteinflüssen und Krankheitsmechanismen, sonst lesen wir die Geschichte eines Menschen nur als Biographie eines Opfers. Die westliche Psychologie wie die Tradition des konfuzianisch-kindlichen Gehorsams haben die Eicheltheorie oder die Idee der Entelechie fast ganz ausgemerzt und deswegen ist es leicht sich als Opfer der Eltern, der Gesellschaft oder der Chromosomen zu sehen.
Auch Freuds Theorie der Sublimierung reduziert alle höheren Fähigkeiten des Menschen auf die niedrige Quelle des unterdrückten Körperwunsches nach sexuellem Kontakt mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil.
Wenn wir diese Sicht akzeptieren, sind wir von vornherein als Opfer in die Welt “geworfen” wie Heidegger es formuliert und gleichzeitig noch der Vererbung unterworfen. Die grosse Täuschung der Bedeutung von Anlage und Umwelt, von Erziehung und Chromosomen lenkt uns ab von unserer individueller Bestimmung, indem wir über Eltern und die Ahnenkette definiert werden. Dieser Täuschung ist Franziskus von Assisi entgegengetreten, indem er symbolisch seinen Vater die Kleider zurückgab und Khalib Gibran spricht es aus: “Eure Kinder sind nicht eure Kinder”. Wenn wir akzeptieren, dass unser himmlisches Erbe der Bestimmung auf den biologischen Stammbaum reduziert wird, dann schrumpft das unsichtbare Muster unserer Seele auf den biologischen Gegenstand der Chromosomen zusammen – das ist das Zauberwort der Genforscher: Reduktionismus, das Leben wird auf seine kleinsten Bausteine, den kleinsten gemeinsamen Nenner reduziert. Seele wird transkulturell aber nie als Ableger des Familienstammbaums angesehen, sondern als der bestimmende Faktor, denn nach Plato wählt sie sich Eltern und damit Chromosomen und Lebensumstände gemäss ihrer Bestimmung. Ling Shu Kp.8 formuliert dasselbe: “Wenn zwei Essenzen sich vereinen kommt Shen herbei”.
Der Schwerpunkt des therapeutischen Handelns von J.R. Worsley war ausgerichtet auf die Entwicklung dieses unsichtbaren, individuellen Kerns, auf die Wahrnehmung dessen, was als Möglichkeit in uns angelegt ist und das sich nur unter der wohlwollenden Betrachtung durch das Auge des Herzens entfaltet. Hillman meint zu dieser Art von Sehen: “Es segnet, weil es transformiert, denn es übersteigt blosse rationale Einsicht, die grosse Täuschung der Psychonanalyse”.
Daher kommt die grosse Betonung des Herzens in den klassischen Texten als konkrete therapeutische Haltung und daher formuliert das Su Wen: “Alle Meridiane haben Punkte, nur das Herz hat keine.” Deswegen darf diese Dimension nicht auf die Menge des Herz Qi reduziert werden, welche durch Schleim oder Hitze getrübt wird, sondern sie muss selbst erfahren werden als etwas was aktiv unseren Weg erleuchten kann, wenn wir vom hohen Ross des Intellektes heruntersteigen. Heiner Frühauf beschreibt in diesem Zusammenhang die Verdunkelungssymbolik des Dünndarms auf der Höhe des grellen Verstandeslichts am Mittag. Aus dieser Höhe ist es wichtig freiwillig herabzusteigen in die Dunkelheit des spirituellen Uterus im Herzbeutel, wo eine tiefere, umfassendere Form des Denkens erfahren werden kann. Nur von hier aus wird Therapie zum schamanischen Ritual der Inkantation, der Besingung, wie J.R. Worsley es praktizierte und wodurch man seine individuelle Bestimmung jenseits des Familienstammbaums entdecken kann – in den Worten Buddhas: sein extrasamsarisches Erbe.
Man erfährt sich wie im chinesischen Schriftzeichen für Mensch ausgedrückt ist als Kind von Himmel und Erde – nicht in das sinnlose Räderwerk der Welt geworfen, sondern mit einem Auftrag versehen, der aus uns selbst entspringt und mit allem versehen was wir dazu brauchen. Deswegen kommen Menschen letztendlich in Therapie, was symbolisch in E.Ts Geste “nach Hause” ausgedrückt ist. J.R. Worsley hat beispielhaft im Behandlungsraum vorgelebt wie mit Nadeln Erinnerung und Rückbindung/Religio an dieses Zuhause im Formlosen/Wu hergestellt werden kann.
———————————————————————–
© Josef Viktor Müller: Ausbildung in Shiatsu beim Ohashi Institut New York, Studium der Akupunktur am College of Traditional of Acupuncture von J. R. Worsley, TCM Ausbildung bei der AG TCM (D), Fortbildungen in Cranio Sacral und verschiedenen Stilen der klassischen Akupunktur, sowie in transpersonaler Traumarbeit, Inhaber der Ben Shen Schule (www.benshen.ch) in Zürich und Autor von „Den Geist verwurzeln, die Namen der Akupunkturpunkte als Bindestrich der Psychosomatik“.