Störung in der Stille. Abgrenzung in Shiatsu. Reflexionen zu unbewussten Geschehen in der Shiatsu-Praxis (Alena Maria Schneider)
Elementar für Shiatsu ist die Grundhaltung der Meditation. Sehr kurz umrissen gehört dazu die Haltung innerer Zentriertheit, die Übung innerer Stille und Leere, und eine sorgfältige und durchlässige Aufrichtung zwischen den Polen Himmel und Erde. Die Übung dieser drei Aspekte der Meditation scheint mir unentbehrlich dafür, dass ich mich den zu Heilung strebenden Lebensprozessen, denen wir uns ja im Shiatsu widmen, zur Verfügung stellen kann. Darüber hinaus stellt die Haltung der Meditation einen Rahmen zur Verfügung, in dem eine ungewöhnliche Begegnung stattfinden kann. Die Begegnung zwischen zwei Menschen im Shiatsu ist einerseits sehr konkret und „handfest”, andererseits aber sehr fein. Es entsteht eine außergewöhnliche Situation von Nähe, die sehr viel Klarheit braucht.
Indem ich mich als Shiatsu-Übende in die Haltung der Meditation begebe, übe ich gewissermaßen Abstinenz, was meine momentanen Gefühle und Verwicklungen angeht. Das ist unverzichtbare Voraussetzung dafür, dass ich meine Shiatsu-Partnerln frei und sich selbst lassen kann. Die sosehr besondere Begegnung im Shiatsu beinhaltet außergewöhnliche Chancen. Leider kann sie auch unbewusst so gestaltet werden, dass nicht nur diese Chancen vertan werden, sondern auch kränkende und verwickelnde Aspekte für beide Beteiligten entstehen. Eine solche Gefahr wäre z.B. das unbewusste Herstellen einer symbiotischen Beziehung zwischen den Shiatsu-Partnerlnnen.
Wer mit Shiatsu (oder auch Reiki oder ähnlichen Wegen …) unreflektiert umgeht, meint vielleicht eine sehr innige Form von Liebe und Zuwendung zu praktizieren, zelebriert dabei eigentlich seine unbewussten symbiotischen Sehnsüchte. Wenn diese unbewusste Motivation auf entsprechende „Gegenliebe” stößt, wird der gemeinsame Shiatsu-Prozess mehr der zunehmenden Verwicklung und der Kränkung dienen als der Heilung. Das kann beiden Seiten einiges an Schmerz und Verwirrung bescheren.
Meiner Ansicht ist es unverzichtbar für Shiatsu-Therapeutlnnen, an der inneren Klarheit und Meditation stetig zu arbeiten – es ist eine Bedingung des Schutzes für beide Beteiligten. Denn wenn ich mich einigermaßen gut kenne und mit meiner eigenen Selbsterfahrung gewissenhaft fortschreite und andererseits zentriert und in meiner Achse aufgerichtet bin, haben unbewusste Motive kaum eine Chance die Regie zu übernehmen, auch wenn sie natürlich da sind.
Die Psychoanalytikerlnnen haben für sich die Regel der „Abstinenz” aufgestellt. Man denkt dabei zuerst an die Grundregel, die besagt, dass der Patient als Sexualpartnerln tabu ist. Es gehört aber auch dazu, dass die behandelnde Person ihre Gefühle und Anliegen nicht in der therapeutischen Beziehung auslebt. Es darf zu keinem „Brauchen” von Patienten kommen, dass ja de facto ein Missbrauch wäre.
Um die Regel der Abstinenz einhalten zu können, ist es wichtig, sich selbst gut zu kennen, auch was die Ehrlichkeit gegenüber den eigenen Schattenseiten angeht. Es gehört auch dazu, die eigene menschliche Einsamkeit anzunehmen, um von dort aus freie Beziehungen zu Menschen eingehen zu können, die jeden sich selbst lassen. Und schließlich gehört die Fähigkeit der Selbstbeobachtung dazu.
Damit meine ich, dass ich mich zum Behandeln in die Meditation begebe, in den wieder und wieder geübten und bereiteten Raum der Zentriertheit, Leere und Aufrichtigkeit und mich gleichzeitig sanft beobachte – meine Körperhaltung korrigiere, Gefühle und Gedanken kommen und wegziehen lasse, wahrnehme, was an Empfindungen in mir auftaucht und versuche immer wieder zum „unbeschriebenen” Blatt zu werden …
Und dann kann es passieren, dass die Heimkehr in die Stille nicht mehr möglich ist, dass wachsendes Unbehagen entsteht, Hemmungen im Behandlungsfluss auftreten, die Klarheit und die professionelle Distanz verloren gehen – ja – und an der Stelle wird es sehr interessant. Ein wahrer Profi wird die Behandlung mit Anstand und guter Technik zu Ende bringen, vielleicht danach ein paar wichtige Fragen aussprechen und sehr genau hinschauen – den Menschen anschauen, mit dem diese Erfahrung aufgetreten ist, UND sich selbst. Meistens liegen in diesen Störungen und Reibungen kraftvolle Entwicklungspotentiale. Und meistens werden sie von unbewussten Inhalten genährt. Die Entwicklungspotentiale werden dann zugänglich, wenn wir nicht mehr blind in der Störung umherirren, sondern fähig werden, das ganze Zusammenspiel in seinen Zusammenhängen zu betrachten.
Ein Beispiel, wie sich das Unbewusste in Shiatsu-Behandlungen einschalten kann: Eine Behandlerin beobachtet, dass für sie selbst immer wieder in der gleichen Situation im Behandlungsverlauf Unbehagen auftritt. Das Unbehagen tritt immer dann auf, wenn sich die Shiatsu-Partnerin ganz vertrauensvoll überlässt und die Zuwendung durch die Therapeutin aus ganzem Herzen annimmt. Ohne jede bewusste Absicht unterbricht die Behandlerin an dieser Stelle den Fluss des Geschehens und geht zu abrupten, manchmal für die Partnerin erschreckenden Techniken über.
Hat die Behandlerin die Fähigkeit zur Selbstbeobachtung und Reflexion nicht entwickelt, so könnte sich die Geschichte so fortspinnen: Die behandelte Person äußert nach der Behandlung ihr Unbehagen über den Bruch. Die Behandlerin fühlt sich angegriffen und hat das Gefühl, die Klientin habe überzogene Ansprüche an sie. Sie fühlt sich genervt und gereizt. Untermauert mit der Autorität ihrer Rolle als Therapeutin weist sie die Klientin zurück, deutet sachliche, ihrer Fachkompetenz unterliegende Gründe für ihren Behandlungsstil an und erklärt damit, was sie tue sei schließlich zum Besten der Klientin. Diese ihrerseits – untergraben von ihrer Rolle als Hilfesuchende – zweifelt an ihrer Wahrnehmung für sich selbst, fühlt sich irgendwie gekränkt, aber falsch in dem Gefühl und geht kleiner und verwirrter als sie gekommen ist.
Wenn auch die Klientin unerfahren ist in der Selbstbeobachtung, befindet sie sich jetzt in einer Wiederholung alter Schmerzen und Verdrehungen. Hat sie hingegen die Fähigkeit, das unbewusste Spiel zu durchschauen, wird sie sich vermutlich verabschieden und nicht mehr wieder kommen. Oder sie wird der Therapeutin die Ehre erweisen, sich mit ihr auseinanderzusetzen und auf einen gemeinsamen Wachstumsprozess vertrauen. Dann ist allerdings für den Moment sie selbst die Therapeutin. Den sie ist es, die die Klarheit, die Liebe und das Vertrauen einbringt, die für die Heilung aller Beteiligten nötig sind.
Spielen wir jetzt einmal die Geschichte anders durch: Gehen wir davon aus dass die Behandlerin eine fundierte Selbsterfahrung hat und sich in kritischen Prozessen selbst erkennen kann. Sie beobachtet, was ihr Unbehagen auslöst. Sie erkennt die Gereiztheit hinter dem Unbehagen und eine erstaunlich heftige Wut, die ihr zunächst unerklärlich und verrückt erscheint. Sie beendet die Behandlung mit Achtsamkeit und Selbstdisziplin und beobachtet sich und die Partnerin dabei weiter. Nach der Behandlung sagt ihr ihre Klientin, dass sie eine sehr besondere Erfahrung des Aufgehoben- und Gehalten-Seins gemacht habe. Sie zeigt sich sehr berührt und offen. Die Behandlerin beobachtet, dass hinter ihrer Wut Schmerz und Tränen lauern. Sie kann das Geschenk der Rückmeldung durch ihre Klientin annehmen und diese mit ihrer Erfahrung frei gehen lassen. Sie hat die Reife zu spüren, wie sehr ihr selbst gerade das Gefühl gut aufgehoben und getragen zu sein fehlt und kann es sich mit allen Schmerzen eingestehen. Hoffentlich sucht sie sich ihrerseits Begleitung. Beide sind jetzt aufs konstruktivste im Fluss des Lebens und in ihrer eigenen wahren Verantwortung angekommen.
Und von da aus geht es weiter. Unbewusste Übertragungs- und Beziehungsgeflechte, wie hier entworfen haben die Tendenz, bei Nichterkennen sich immer weiter zu verfilzen. Ein Spiel von Übertragung und Gegenübertragung kann entstehen, das beide Anteilhabende dazu bringt, sich immer tiefer in emotionale Aspekte, die meist aus Kindheitserfahrungen gespeist werden, zu verstricken. Oben beschriebener Klientin wurde schon in Kindheitstagen zu verstehen gegeben, dass ihre Wahrnehmung nichts gelte und ihr Empfinden für Situationen unangemessen sei. Vielleicht hat sie auch früher schon erfahren, dass sie sich nicht „gehen lassen” dürfe, da sonst unweigerlich Bruch und Schrecken folge. Vielleicht hat sich ihr das Leben durch ihre Eltern so dargestellt, dass sie für diese Verantwortung zu tragen habe und nicht umgekehrt. Vielleicht wird sie von daher jetzt versuchen, Verantwortung für ihre Therapeutin auf sich zu laden. Fatal, wenn sie unbewusst beschließt, diese zu stützen und zu nähren, damit sie ihr eines Tages ungebrochene Zuwendung geben kann!
Die Therapeutin ihrerseits hat vielleicht nie elterliche Geborgenheit und Aufgehobenen-Sein erleben dürfen. Womöglich hat sie gerade aus dem erlittenen Mangel instinktiv begriffen, wie wichtig menschlichem Wachsen und Gedeihen diese Qualitäten sind und deshalb den Beruf der Shiatsu-Therapeutin gewählt. Vielleicht wurde sie darüber hinaus von ihren Eltern beengt und emotional ausgenutzt und muss deshalb die Gefühle von Wut und Neid erleben, wenn sie ihre Shiatsu-Partnerin unterstützt, zu finden, was sie selbst zutiefst entbehrte.
Es wird sicher deutlich, wie ungemein wichtig es ist, dass wir selbst uns als Shiatsu-Praktizierende über uns klar werden und für uns sorgen. Denn sonst kränken wir nicht nur uns selbst (bis wir wirklich organisch krank sind), sondern wir schicken die, die sich uns anvertrauen in tiefere Verwirrungen, wo wir ihnen eigentlich zur Seite stehen sollten bei der Klärung, Reinigung und Entwicklung aus alten Verdrehungen und Verletzungen.
Während in der psychoanalytischen Therapie ausdrücklich mit Übertragung gearbeitet wird, geht es für uns Shiatsu-Therapeutinnen meiner Ansicht nach darum, Übertragungen, wo sie entstehen, zu erkennen und uns ganz auf die Seite einer Klarheit in der Wirklichkeit des Hier und Jetzt zu stellen. Das Shiatsu-Setting, in dem sich eine Person sehr überlässt, schon allein indem sie sich hinlegt und jemand anders den aktiven Part übergibt, lädt ein zum Wiedererleben frühkindlicher Erfahrungen. Schon damit besteht eine Einladung zur Regression und möglicherweise Übertragungserlebnissen. Die Kontaktebene des Berührens und des Berührt-Werdens wird zudem an Erfahrungen rühren, die weit vor der Zeit liegen, wo wir uns sprachlich ausdrücken oder die Welt und die Menschen um uns her gedanklich begreifen konnten. Darüber hinaus kann Shiatsu ja bis in die Tiefe das Ki, das unsere ganze Körper-Geist-Seele ausmacht, in Bewegung bringen und damit auch sehr tief Verschollenes wieder hervorholen – im besten Falle zur Integration. Shiatsu kann also eine Wiederbelebung und Begegnung mit im Unbewussten verzeichneten Erlebnissen und Gefühlen sein und eine entsprechende Dynamik entwickeln.
Darin liegt eine wunderbare Chance, auf eben diesen Ebenen Umstimmung und Heilung zu erfahren. Nur muss ich immer wieder betonen, dass diese Chancen vertan werden oder sich gar in ihr Gegenteil wenden können, wenn wir uns als Shiatsu-TherapeutInnen den unbewussten Anteilen unserer eigenen Persönlichkeit nicht stellen und uns mit erforschten Gesetzmäßigkeiten unbewusster Phänomene nicht auseinandersetzen. Hier, wie an so viel anderen Stellen beim Shiatsu, gilt es zu sehen, zu lernen und wach zu werden. Und wir müssen uns ständig erneut klären in dem, was wir ehrlichen Herzens anbieten können und wollen, damit wir keine doppelten oder unangemessenen Botschaften aussenden.
Es kann im Behandlungsverlauf dazu kommen, dass jemand versucht, uns in sein Übertragungsmuster hineinzuziehen, um mit uns eine Wiederholung alter Verletzungen zu inszenieren.
Ich selbst habe es mir zur Regel gemacht, wenn ich spüre, jemand versucht diese Art von Netz nach mir auszuwerfen, auf der Hinzuziehung einer PsychotherapeutIn oder einem Wechsel zu dieser zu bestehen.
Für mich ist dabei der Gradmesser, dass wir beide in jeder Stunde wieder in die klare Wirklichkeit unserer Beziehung im Hier und Jetzt heimfinden. Das schließt ein, dass wir unterwegs etwas miteinander erleben können, was aus anderen Zeiten und dem Erleben mit anderen Personen genährt sein kann. Es schließt ein, dass die Shiatsu-Partnerin unter der Behandlung Mütterlichkeit oder Schwesterlichkeit in mir erleben kann, die sich vielleicht streckenweise in ein Erleben von Mutter oder Schwester oder … verkleidet.
Das ist für mich in Ordnung, wenn das alte Dia entfernbar bleibt vom heutigen wirklichen Bild unserer Begegnung. Das „Dia aus alter Zeit” darf nicht vor der Wirklichkeit bleiben. Kämpft eine Person mit mir darum, sich nicht von diesem Dia zu lösen, begibt sich der Prozess auf Ebenen, die meine Kompetenz überschreiten, und ich muss entsprechende Konsequenzen daraus ziehen. Jede wird in Bezug auf solche Ereignisse eigene Grenzen haben. Wir sollten um diese Grenzen wissen und deutlich sein. Je klarer ich diesbezüglich meinen Shiatsu-Partnerlnnen gegenübertrete – und damit meine ich nicht große wortreiche Erklärungen, sondern eine innere Aufgeräumtheit – desto unwahrscheinlicher wird es, dass das Erleben und der Kontakt sich in unauflösbare Übertragungen verirrt. Selbstüberschätzung jedoch ist Gift für die Klarheit.
Außerordentlich hilfreich ist die Haltung und Übung der Meditation, das achtsame, sanfte Sich-Beobachten, eine fundierte und ehrliche Selbsterfahrung, möglichst auch als Shiatsu-Empfangende und wenigstens eine gewisse Einsicht in die Dynamik unbewusster Phänomene, wie Übertragung, Gegenübertragung, Wiederholung und Projektion. Viele Shiatsu-Therapeutlnnen tauschen Shiatsu miteinander aus – vertrauen sich aber nie jemanden wirklich an. Das hält die Ebenen, wo es brisant wird, vor der Tür. Vielleicht sollten wir auch einmal miteinander nachsinnen, ob unsere Ausbildungen in psychologischer Hinsicht ergänzt werden könnten. Das ist sicher nicht leicht in einer sinnvollen Form durchzuführen, da allein das intellektuelle Begreifen ohne Erfahrung und Reife wenig nutzt. Oft wünsche ich mir eine Supervisionsgruppe, vielleicht eine Art Balintgruppe.
Da ist ein leerer Raum. Da könnte etwas Neues wachsen …
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© Alena Maria Schneider leitet in Hamburg den Frühlingsgarten (22763 Hamburg, Bei der Rolandsmühle 6, Tel. +49 40 881 32 09, www.fruehlingsgarten.org), ein Studio für Taichi, Qigong und Shiatsu. Sie ist von der GSD zur Ausübung von Shiatsu Praxis und Lehre anerkannt und Autorin des Buches “Wenn Lachen und Weinen einander freundlich grüßen – Shiatsu-Wege der Entfaltung” (Verlag Ganzheitlich Heilen, 2005)