Shiatsu und Trauma-Therapie. Das Erkennen und der Umgang mit dem chronischen Schockzustand (Paul Lundberg)
In der traditionellen chinesischen Medizin gibt es neun prinzipielle Ursachen für die Entstehung von Krankheiten, eine davon ist die Kategorie „Trauma und Verletzung“, ohne dabei zwischen körperlichen, emotionalen und mentalen Aspekten zu unterscheiden und ohne den Schweregrad einer erlebten Verletzung näher zu betrachten. Jede Verletzung muss so diagnostiziert und behandelt werden, wie man sie vorfindet, unter Anwendung von operativen Eingriffen, sowie von Knocheneinrenkverfahren, von Kräutersalben, Akupunktur oder manueller Therapie, je nachdem, was notwendig ist. Wir müssen uns einen tieferen Einblick in die traditionellen Verfahren hinsichtlich der Vorgehensweise bei emotionalen und mentalen Themen verschaffen und wenn wir da nicht genug finden, müssen wir andere Wege gehen, um verstehen und um helfen zu können.
Heutzutage, am Beginn des einund-zwanzigsten Jahrhunderts, ist die zivilisierte Gesellschaft besser in der Lage und auch mehr geneigt, mit Sensibilität und Fachkenntnis traumatischen und schockierenden Erlebnissen zu begegnen; ob es sich dabei um Einzelpersonen, eine begrenzte Gruppe, grössere Gemeinschaften oder sogar um die Gesellschaft als Ganzes handelt.
Ich denke, angesichts der Fortschritte in den Bereichen Medizin, Psychologie und Soziologie und den allgemeinen Verbesserungen bei Erziehung, Dienstleistungen und im sozialen Bewusstsein im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts, sind wir berechtigt, eine solche Beurteilung abzugeben, aber nur versuchsweise. Es war ein schwieriges Jahr-hundert und möglicherweise sind wir noch im Schockzustand.
Ich habe den Umfang dieses Themas erst allmählich verstanden und es hat in mir einen Prozess ausgelöst, der sowohl meine praktische Arbeit in der Klinik beeinflusst, als auch mich persönlich und meine eigene Entwicklung tief berührt hat.
Um diesem schwierigen Thema des chronischen Schocks umfassend gerecht zu werden, scheint es mir sinnvoll, uns in Kurzfassung die verschiedenen Klassifizierungen des Traumas und die allgemeine Behandlung bei Schock und Verletzung, sowohl aus der Perspektive der traditionellen östlichen Medizin, als auch aus der zeitgenössisch medizinischen Sichtweise zu betrachten.
Klinische Studien – Traditionelle und moderne Ansichten über Traumen, Verletzungen und Schocks
In der Praxis werden uns geringfügigere Traumen begegnen, angefangen von örtlichen Schwellungen, Schnittverletzungen, Blutergüssen und Schmerzen, bis hin zu Verrenkungen und Knochenbrüchen. Nach der notfallmässigen Erstbehandlung würde man all diese Verletzungen traditionell als „Meridianprobleme“ betrachten und würde sie mit Shiatsu und Moxibustion über die Meridiane behandeln, um die „Energie da zum fliessen zu bringen, wo sie blockiert ist“. Gleichzeitig können solche Verletzungen jedoch auch Teil eines ernsthafteren Traumas sein, mit tiefen Auswirkungen aus das gesamte System und die Integrität der betroffenen Person.
Solche Traumen manifestieren sich häufig mit Symptomen, wie Palpitationen, Schwindel, Ohnmachten, Zittern und Kälte-schauern, Desorientierung und Gedächtnisverlust, oder sogar noch extremeren Zuständen, wie Kollaps und Bewusstlosigkeit. Einige dieser Symptome können in der Rekonvaleszenz wiederholt auftreten, dabei verschlimmern sie bereits bestehende Krankheitsmuster oder vereinigen sich mit diesen, und es ist ebenso möglich, dass wiederkehrende oder lang anhaltende Symptome von Spannung und Schmerz (Energieblockaden) auftreten, obwohl die ursprüngliche Behandlung zur scheinbaren Heilung geführt hat. Weiterhin können einige akuttraumatische Krankheiten Ähnlichkeiten mit akuten Episoden von chronischen Krankheiten aufweisen, z.B. Herzattacken und diabetische Notfälle oder Schlaganfälle.
Als Reaktion auf Notfälle erreicht und übergeht der Körper gewisse Grenzen beim Versuch, die lebensnotwendigsten Funktionen zu beschützen. Wenn wir überleben, gibt es viele, oft verspätete Folgen für unser System. Die offensichtlichsten Folgen betreffen das Herz und das Blut. Nach Ansicht der traditionellen östlichen Medizin schaden Blutungen direkt dem Blut und erschöpfen die Körperflüssigkeiten. Umgekehrt erschöpfen schwere Krankheiten mit Erbrechen und Durchfall die Körperflüssigkeiten in kürzester Zeit und schädigen dadurch das Blut. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das „der Sommerhitze ausgesetzt sein“, dabei attackieren Hitze oder Feuer das Yin und Fieber mit profusem Schweiß reduziert die Körperflüssigkeiten zusätzlich. Es kommt zu. schnellem Herzschlag, Palpitationen, deliriösen Hallu-zinationen und schliesslich zu Frösteln und Bewusstseinsverlust. In dieser extremen Situation erkennen wir, dass auch der „Shen“ gestört ist, denn er wohnt im Herzen und hat seine Wurzeln im Blut.
Abgesehen von der normalen Bandbreite an Verletzungen, die gewöhnlich mit Unfällen und Notfällen in Verbindung stehen, welche auf herkömmliche Art und Weise in modernen Krankenhäusern behandelt werden, beinhaltet das oben skizzierte Symptombild Aspekte, die in der modernen Medizin als „klinischer Schock“ bezeichnet werden. Dieser klinische Schock steht normalerweise in Verbindung mit extremem Stress und Verlust von Blut oder Flüssigkeit. Wenn es als herzbedingte Stresssituation mit Blutdruckabfall diagnostiziert wird, betrachtet man es als medizinischen Notfall. Es gibt standardisierte Vorgehensweisen, um das Herz zu stabilisieren und den Blutdruck wieder in den Normbereich zu bringen. Diese beinhalten Medikamente, Verabreichung von Körperflüssigkeiten oder Ruhe unter Beobachtung. Prinzipielle Symptome sind Palpitationen oder unregelmässiger Herz-schlag, Blässe, Frösteln, spontane Schweiss-ausbrüche und Anurie (Verlust der Blasenfunktion). Weniger heftige Symptome beinhalten Orientierungslosigkeit, Konzentrationsschwäche, ängstliche Unruhe und Vergesslichkeit, nach Ansicht der chinesischen Medizin sind dies alles Symptome von „Mangelndem Blut“.
Im Allgemeinen reagiert der Sympatikus auf Notfälle, es kommt zum sogenannten „Kampf oder Flucht Mechanismus“, wobei Adrenalin ins Blut abgegeben wird. Ein Zustand erhöhter Wachsamkeit mit verschärftem sensorischen Bewusstsein und erhöhter Blutzirkulation zum Herzmuskel und zu peripheren Blutgefässen ermöglicht dem Betroffenen, mit den schlimmsten Situationen umzugehen. Geist und Körper werden schlagartig ins Hier und Jetzt katapultiert. Möglicherweise braucht es in diesem Moment nur Kraft und Schnelligkeit. Schmerzen sind kaum fühlbar. Zu diesem Zeitpunkt ist die Blutzufuhr zu bestimmten inneren Organen reduziert und deren normale Stoffwechselaktivitäten kommen teilweise zum Stillstand (beispielsweise Verdauungssekrete und Peristaltik).
Danach, wie auch immer die Situation ausgegangen ist, muss sich das System erholen, unabhängig von der durch-gemachten Anstrengung kann es zum plötzlichen Kollaps mit Akutsymptomen, wie oben beschrieben, kommen. Manchmal führt es zu einem kompletten Gedächtnis-ausfall, dies dient als weitere Schutzfunktion, bis die körperlichen Bedingungen der Situation gerecht werden. Zu guter Letzt kommt es zu einer Periode von Erschöpfung, gefolgt von Orientierungs-losigkeit, die eine ausreichende Ruhe erforderlich macht. Länger anhaltende oder sich wiederholende Notfälle können offen-sichtlich ernste Schäden hervorrufen.
Nicht alle Traumen entstehen aufgrund von körperlichen Verletzungen. Manche wirken hauptsächlich schockierend auf Geist und Gefühle, zum Beispiel beim Hören oder Erleben von schrecklichen und unerwarteten Ereignissen, aber wir sollten uns daran erinnern, dass Körper und Geist voneinander abhängen und dass Auswirkungen von einem Bereich auf den anderen übergreifen können. Körperliche Symptome entstehen aufgrund von emotionalen oder mentalen Traumen. Als Praktizierende der östlichen Medizin fällt es uns weniger schwer, die Verbindungen zu verstehen. Qi (Energie), und Blut, Essenz und Geist (Shen) sind unzweifelhaft miteinander verbunden.
An dieser Stelle sollten wir uns auf die „sieben Gefühle“ oder „Leidenschaften“ beziehen. In der östlichen Medizin werden diese als innere Hauptursachen für die Entstehung von Krankheit angesehen, wann immer Gefühle übermässig, überwältigend oder unterdrückt sind. Die Liste beinhaltet sowohl Furcht als auch Angst (bzw. Schreck), um einen extremeren Zustand, den wir heute als „traumatischen Schock“ bezeichnen, zuzuordnen. Furcht hat zur Folge, dass das Qi nach unten sinkt (ein Mensch kann weiche Knie bekommen oder die Kontrolle über Blase und Darm verlieren); Angst hat zur Folge, dass das Qi sich zerstreut und in ähnlicher Weise den Geist beeinträchtigen kann. Als Folge des Adrenalinausstosses kommt es zu übermäßigen Schwankungen in der Blutzirkulation, was man auch als „Shen in seinen Wurzeln erschüttern” interpretieren kann. Die harmonische Beziehung zwischen Herz und Nieren gerät in Gefahr und dadurch ist auch der Wille betroffen. Diese zwei Organe formen die „Achse der Konstitution“, regulieren Feuer und Wasser, Blut und Essenz, Yang und Yin.
Wen wir gut in unserer Kunst ausgebildet sind, werden wir wissen, ob und in welchem Umfang wir solch ernste Zustände und deren Spätfolgen behandeln können. Es kommt zwar selten vor, dass Shiatsu Praktizierende bei lebensbedrohlichen Situationen involviert sind, aber wir wären gut beraten, einen Erste Hilfe Kurs mit Einbeziehung von Herz und Lungen Reanimation zu besuchen. Und wir sollten uns die Schlüsselpunkte zur Wiederbelebung ins Gedächtnis rufen:
LG 26 (Lenkergefäss), Lunge 9, Magen 36, Herz 7 und 9, und Niere 1. Denke an Moxa an den Punkten LG4, LG20 und KG6 (Konzeptionsgefäss), zur Behandlung von Erschöpfung mit extremer Kälte. Moxa über eine Ingwerscheibe an KG8 (dem Bauchnabel) beendet Durchfall aufgrund von feuchter Hitze (Dysenterie). Andere hilfreiche Punkte hierfür sind auch KG6 und 12, ebenso Magen 25. Behandlung von Dünndarm und Blasenmeridian beeinflusst Wirbelverletzun-gen, Schleudertraumen und Schock – Dü3 und Bl 62 öffnen das Lenkergefäss. HP6 (Perikard) stoppt Erbrechen und HP7 und 8 können bei der Behandlung von Fieber zur Anwendung kommen.
Aber wir sollten unsere Grenzen kennen und wissen, wann wir Hilfe anfordern sollten. Viele Notfälle produzieren eine Mischung von Symptomen, die Diagnose und Behandlung mit zeitgenössischen oder traditionellen Verfahren oder eine Mischung aus beiden erforderlich machen. Normalerweise kommen wir eher beim zweiten Stadium der Behandlung ins Spiel, wo wir den Genesungsprozess nach Verletzungen, Unfällen und Operationen unterstützen, nachdem die Notfallsituation vorbei ist. Meistens werden wir dann am oder vom Hara aus und natürlich abhängig von unserer Diagnose behandeln, dabei behalten wir bestimmte Meridiane zur Behandlung von Verletzungen und Schmerz, wie oben beschrieben, im Hinterkopf.
Dieser Artikel beabsichtigt nicht, tiefer in Behandlungsstrategien für Verletzungen oder akutes Trauma und seine Nachwirkungen einzutauchen, sondern er möchte Symptome und Anzeichen von Schock hervorheben, welche Begleiterscheinungen von jeglichem Trauma sein können und weiterhin möchte er diese in den richtigen Kontext stellen, damit diese klar erkannt werden können.
Es ist eine Tatsache, dass viele Menschen lebenswichtige medizinische Be-handlungen bekommen, die manchmal lebensrettend sind, und sie erholen sich von akuten Traumen auf die eine oder andere Weise, werden dann aber mit den subtileren Auswirkungen der schockierenden Erfahrung alleingelassen. Viele Menschen scheitern an der Herausforderung, ihr Leben so gut wie möglich wieder in den Griff zu bekommen.
Latenter oder chronischer Schock
Wir müssen tiefer in die Hintergründe eindringen, um die obskuren Szenarien des chronischen oder ungelösten Schocks zu verstehen, die entstehen, wenn wirksame Behandlungen fehlen oder nicht weit genug gehen, um dann einen latenten Zustand hervorzurufen, welcher weitreichende Kon-sequenzen haben kann – nicht nur für den Patienten selbst, sondern auch für sein persönliches Umfeld, inklusive des Therapeuten.
Es ist schockierend zu realisieren, dass viele Menschen an den Folgen von traumatischen Episoden leiden und dass sie keine passenden Behandlungen erhalten haben und dass dies sowohl für die Be-troffenen, als auch für den Therapeuten unerkannt bleibt. Wenn wir diese Menschen wegen irgendeiner Beschwerde behandeln, sei es bald nach einem traumatischen Zwischenfall oder viele Jahre später, sollten wir wachsam auf Zeichen achten, dass Schocksymptome sich noch im System befinden und sollten darauf vorbereitet sein, dass diese Symptome aus dem latenten Zustand erweckt werden, und unsere Form der Therapie begünstigt diesen Prozess sogar. Wir sollten bereit sein, uns nicht von störenden Krankheitsmanifestationen ablenken zu lassen und den Klienten/ Patienten im Prozess der kompletten Wiederherstellung und bei der bewussten und energetischen Reintegration von zuvor unterdrückten Erinnerungen und sowie bei der Beseitigung von Blockaden zu unterstützen, die zur Verteidigung aufgebaut wurden.
Schock ist ansteckend: Menschen, die an chronischen und unterdrückten Schockzuständen leiden, involvieren häufig ihr Umfeld durch starre Verteidigungsstrategien, die unbewusst von der ganzen Gruppe mitgetragen werden. Wenn sich die Blockade verändert, reaktiviert die Erkenntnis über das, was passiert ist, den Schock, jetzt mit der Möglichkeit der vollständigen Heilung. Wenn aber die Menschen im Umfeld nicht angemessen reagieren und Widerstand leisten, weil das ihnen selbst zu nahe geht oder sie auch in Schock versetzt, dann kann die ursprünglich betroffene Person retraumatisiert werden und es kommt zu keiner Auflösung. Ein Therapeut oder ein anderer Beteiligter kann die Situation fälschlicherweise als Notfallkrise bewerten oder wenn ein entsprechendes Bewusstsein fehlt, kann diese Person abwehrend oder unangemessen reagieren. Dabei kann eine wertvolle Gelegenheit vergeudet werden.
Das Auftreten des chronischen Schocks – im Menschen und in der Gesellschaft
Gewöhnliche Unfälle wird es immer geben – Menschen werden weiterhin vom Baum, von Pferden oder von Leitern fallen, werden unvorbereitet furchtbaren Stürmen im Gebirge oder an der Meeresküste ausgesetzt sein, werden ihre Autos schrotten und manchmal in grössere Tragödien verwickelt, wie beispielsweise Zugunglücke. All das ist schlimm genug für die Verletzten und die Hinterbliebenen, aber wenigstens werden sie als Unfälle gesehen und anerkannt und es besteht die Chance, dass Familien und Gemeinschaften Verständnis aufbringen und an die Seite der Betroffenen eilen, um diese zu unterstützen. Jedoch gibt es grosse Lücken in unserem kollektiven Bewusstsein in Bezug auf Ursachen und Auswirkungen von schlimmeren und selbstverursachten Katastrophen.
Nach anfänglichem Widerstand nahmen viele Menschen mit medizinischen Berufen Notiz von Freud’s Experimenten über das Unterbewusstsein und seine Katalogi-sierungen über die Funktionsweise des Gehirns. Aber die Psychologie steckte noch in den Kinderschuhen, als der Schrecken des Weltkrieges über dem Globus ausbrach. Die fortwährenden Auseinandersetzungen in den Gräben führten bei vielen Soldaten zu extremem mentalen Stress, ebenso zu körperlichen Verletzungen und Entbehrungen. Diejenigen, die das Glück hatten, zu überleben, kehrten mit unvorstellbaren Traumatisierungen zurück, betäubt, sprachlos und unfähig, sich im normalen Alltag wieder zurechtzufinden. Erschöpften Offizieren bot man Erleichterung durch Klinikaufenthalte und offerierte ihnen ver-schiedene experimentelle Behandlungen, aber die Klinikärzte hatten diesen nervenkranken Zuständen wenig entgegenzusetzen. Das Wort „Kriegsneurose“ war geprägt und wurde in den Sprachgebrauch aufgenommen – die erste Anerkennung der anhaltenden Auswirkungen von Traumen. Die normalen Soldaten hatten jedoch nur eine Option – die erlittene und erlebte Gewalt mit nach Hause zu nehmen, und die Familien hatten nur die Möglichkeit, die Konsequenzen zu ertragen und so gut wie möglich mit der Situation fertig zu werden. Zur Zeit des Vietnamkrieges, ein halbes Jahrhundert später, wurde der beschönigende Ausdruck „Kriegsmüdigkeit“ anstelle von „Kriegsneurose“ verwendet.
Trotz Fortschritten in der Psychologie und Psychotherapie gab es noch immer wenig Hilfe für die Überlebenden des Krieges. Viele Veteranen wurden mit ihren schlimmen Erfahrungen alleingelassen, und fühlten sich in der mit sich selbst be-schäftigten Konsumentengesellschaft, zu der sie zurückgekehrt waren, entfremdet. Wir ertragen es nicht einmal, uns auch nur die Nöte all der Zivilisten vorzustellen, die auf beiden Seiten eines solchen Konfliktes gelitten haben und noch weiter leiden. Wir unterdrücken dies. Seit Franco die Luftwaffe eingeladen hat, die Stadt Guernica zu bombardieren, bis hin zu den kürzlichen lokalen Angriffen der Israelis auf Häuser in Beirut, haben es Regierungen als angemessen empfunden, Zivilisten umzubringen, ohne Ausnahme von Frauen und Kindern, und Terroristen sind ihrem Beispiel gefolgt. Die mitfühlendsten Menschen aus der Gesellschaft fühlen sich vielleicht berufen, an Notfallsituationen und medizinischer Hilfe teilzunehmen. Aber das Trauma lebt in uns allen. Krieg ist in unserer Spezies heimisch geworden.
Die Tragödien, die gelegentlich ganze Gemeinschaften erschüttern- Minenunfälle, Erdrutsche, Überschwemmungen – verursachen heldenhafte Reaktionen von Hilfsorganisationen und Wiedergutmachungen seitens der Regierungen, aber es dauerte bis Ende des letzten Jahrhunderts, bis „psychologischer Beistand“ als akzeptable Therapie in offiziellen Kreisen angesehen wurde und bis man diesen den Opfern und ihren Familien selbstverständlich zur Verfügung stellte.
Heute gilt „posttraumatische Belastungsstörung“ als offizieller medizinischer Begriff, aber Behandlung steht nicht universell zur Verfügung und es gibt viele Bereiche, wo diese Fortschritte wenig Eindruck hinterlassen haben. Im Bereich der experimentellen Psychologie und der Behandlung von Alkoholismus und Drogenmissbrauch hat man erkannt, dass das Umfeld und die Art der Erziehung eines Kindes wichtige Auswirkungen auf dessen mentale und emotionale Stabilität haben. Muster von Alkohol oder Drogenmissbrauch und Gewalt fanden sich seit Generationen in Familien. Die Rollenverteilung von Opfer, Retter und Täter war auf lange Zeit gesehen austauschbar, ein komplexes Muster, welches unbewusst den Schaden innerhalb von Familien und Gemeinschaften endlos fortsetzte. Diese Zusammenhänge brachten der gesamten Gesellschaft neue Erkenntnisse.
Fernsehsendungen, welche das Ausmaß von Kindesmissbrauch im England der achtziger Jahre enthüllten, schockierten die Nation und Notrufeinrichtungen begannen, die „Kultur des Verleugnens“ zu verändern. Es kommt heutzutage häufiger vor, dass Polizisten spezielle Ausbildungen erhalten, um mit Vergewaltigungsopfern oder Opfern von häuslicher Gewalt umzugehen, aber viele Frauen und gleichgeschlechtlich orientierte Menschen finden es schwierig, diesen kürzlich errungenen Zugeständnissen zu glauben und zu vertrauen.
In Spanien, wo ich jetzt lebe, können sich die Menschen erst heute mit dem Ausmass an häuslicher Gewalt auseinander-setzen, welche unsagbar lange Zeit still toleriert wurde und finden jetzt Wege, öffentlich damit umzugehen. Bei vielen Gemeinschaften, die selber noch verletzt und unerlöst von vergangenen Traumen sind, schwelt Hass noch dicht unter der Oberfläche, und dieser Hass tritt in weiteren Akten von rassistischer und religiöser Gewalt innerhalb der Gemeinschaft hervor. Das war der unbestrittene Grund für kürzliche Kriege, vom Balkan bis nach Somalia. Die Anwendung von Folter ist ein fortwährendes Thema der Vereinten Nationen.
Der chronische Schock selbst ist heimisch geworden in der menschlichen Rasse. Selbstschutzmechanismen betäuben den Schmerz, lassen ihn aus dem Gedächtnis verschwinden und helfen uns, um zu überleben. Aber unsere eigene Ignoranz und Angst verhindern vollständige Genesung und verursachen unbewusste Wiederholungen von Gewalt unter Unseresgleichen. Das Verleugnen verhindert unser wahres menschliches Potenzial zu mitfühlendem Heilen und kreativem Streben.
Die funktionellen Abläufe des Schocks und der Genesungsprozess
Der Schock ist eine normale Antwort auf eine Extremsituation, die uns weitermachen lässt – und zu diesem Zeitpunkt ist der Schock ein guter Freund. Ein Schock erfolgt, wenn Ereignisse zu schnell oder zu intensiv ablaufen, und das Nervensystem damit nicht fertig wird. Das erste Stadium ist eine unmittelbare, nicht durchdachte oder instinktive Reaktion, dies entspricht einem primitiveren Zustand des Nervensystems, wobei anfangs Überempfindlichkeit und übermässige Alarmbereitschaft einhergehen mit erhöhtem Adrenalin, erweiterten Gefässen an der Oberfläche und erhöhtem Blutzucker.
Dann, im zweiten Stadium, finden wir Gefühllosigkeit, einen Zustand von weniger Wachsamkeit, Abwesenheit, kurzer Aufmerksamkeitsspanne und Gedächtnislücken. Im Allgemeinen finden wir reduzierte Sensibilität und seltsames Benehmen, und der Betroffene glaubt, ihm fehle nichts.
All das oben Beschriebene kann beim chronischen Schock in unterschiedlicher Ausprägung noch vorhanden sein. Es kann schwierig sein, zu einem normalen Zustand (präsent, offen und sensitiv) zurückzukehren und dafür braucht es tatsächlich eine gute Portion Vertrauen, denn der Schockzustand war eine notwendige Antwort, um zu überleben, aber jetzt mögen die Dinge anders liegen.
Im dritten Stadium kommt das Gedächtnis allmählich zurück mit erhöhtem Selbst-Bewusstsein auch für die sich stabili-sierenden körperlichen Funktionen, aber die Symptome des klinischen Schocks, die durch niedrigen Blutzuckerspiegel ausgelöst sind, können auch manifest sein und dieses Sta-dium verlängern oder erschweren. Erschöpfung in unterschiedlicher Ausprägung mag vorhanden sein, welche Ruhe erforderlich macht.
Das vierte Stadium von Genesung und vollständiger Reintegration wird oft ignoriert. Es beinhaltet die Notwendigkeit zu reden und Dinge nochmals durchzugehen, um das Ereignis nochmals in einem sicheren und unterstützenden Umfeld zu durchleben. Es ist wirklich wichtig, Erlebtes zu erfassen und zu akzeptieren, was geschehen ist.
Wenn dieses Bedürfnis nicht erfüllt wird, werden Menschen irgendwie versuchen, nochmals an den Punkt zurückzukehren, um ihn zu verstehen – aber häufig wird es nie vollständig aufgelöst. Schuldgefühle, dass dies alles vermeidbar gewesen wäre oder Ärger und Schuldzuweisungen an andere, erschweren die Situation. Da es nicht aufgelöst ist, ist es unterdrückt und eingelagert, aber die Energie davon kann die Psyche vergiften und die Beziehungen zu Mitmenschen beeinträchtigen. Häufig kommt es zu Depression, vergesellschaftet mit chronischer körperlicher Krankheit. Schlimmstenfalls kommen die unterdrückten Elemente wieder an die Oberfläche in Form von irrationalen Gefühlsausbrüchen und einem Zwang zu wiederholten gewalttätigen Akten.
Einzeltherapie oder Gruppentherapie (Beratungen) kann sehr hilfreich sein, wenn sie von der richtigen Art ist. Menschen müssen ihre Erfahrungen erzählen können ohne dass diese bewertet werden. Auch die Familie oder die Gemeinschaft kann dies anbieten und damit wird offizielle Therapie weniger notwendig. Der Geist des Pow-Wow wird herbeigeholt. Aber oft ist es auch Berührung, die diesen wichtigen Prozess in Gang setzt. Jetzt nähern wir uns dem Kern dieses Themas.
Chronischer Schock in der Shiatsu Praxis – Wie erkennt man ihn
Es gibt drei grundlegende „Diaphragmas“ im Körper (Scheidewände, Membranen):
- Der Kopf – die Muskelstrukturen von Schläfe und Kiefer
- Das Zwerchfell selbst, an der Basis des Rippenbogens
- Die Muskeln des Beckenbodens
Zusätzlich zu ihren speziellen Funktionen agieren diese horizontalen Strukturen als Regulatoren, kontrollieren den Energiefluss und nehmen Impulse aus anderen Körperregionen wahr und schicken sie weiter. Jedes dieser drei Diaphragmas oder „Tore“, um ein Bild aus dem Qi-Gong zu verwenden, kann blockiert sein, aber wenn alle drei eingefroren sind, zeigt das Schock an.
Es gibt eine Resonanz zwischen allen horizontalen Strukturen und ähnliche Spannungen und Blockaden können an den Fusssohlen, den Knien, Becken, oder Nacken und an der Kopfoberseite angetroffen werden. Dieses Muster weist klar auf das „Leber System“ in der östlichen Medizin hin. Die Leber ist verantwortlich für den „freien Fluss von Qi und Blut durch den gesamten Körper“. Dadurch, dass die Leber für das freie Fliessen des Qi verantwortlich ist – den Meridianfluss nach oben und unten – sorgt sie ausserdem für das Funktionieren der drei Tore. Hindernisse (Schmerz) an diesen Stellen lässt typische Leber Muster zum Vorschein treten – Scheitel- und Schläfenkopfschmerz, „Kloß im Hals“ (Pflaumenstein), Gefühl durch eine Blockade im Hals, Druck in der Brust und im Zwerchfell, Zusammenziehende menstruelle Schmerzen (Dysmenorrhoe), usw. – viele dieser Symptome beruhen auf unterdrückte Wut oder Ärger.
Abgesehen von diesen Schlüsselsymptomen gibt es eine Anzahl weiterer Hinweise, die uns helfen, die Anwesenheit des latenten Schocks im Klienten zu erkennen.
- Kein Fortschritt
Obwohl ein Mensch verschiedene Be-handlungssequenzen durchlaufen hat, hat er das Gefühl, dass er nicht weiterkommt, er kommt immer an den gleichen Ort zurück. Das mag Ausdruck seines allgemeinen Lebensgefühls sein. Wenn ein Klient zum ersten Mal mit einer langen Geschichte von fortwährenden und sich verschlimmernden Problemen kommt, können wir daran denken, dass vielleicht ein latenter Schock die Ursache ist, aber wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.
- Eingeschränkte Wirksamkeit
In der chinesischen Medizin entspricht das dem Muster „verletzter Shen“. Die Augen leuchten nicht, die Stimme ist monoton, die Sprache hat keinen Esprit und der Person fehlt es an Vitalität und Lebendigkeit.
- Verleugnung
Die Person kann ihre Situation nicht klar einschätzen. Es gelingt ihnen nicht, „offensichtliche“ Verbindungen herzustellen. Sie können auch einen offensichtlichen Mangel an Sensibilität sich selbst und Anderen gegenüber aufweisen. Wenn wir diese Menschen behandeln, kann uns nur langsam bewusst werden, was fehlt, ohne dass sie uns dies mitteilen.
Behandlung – Sanfte Berührung ist der Schlüssel
Ich mag nicht daran glauben, dass wir das vordergründige Konzept „Chronischer Schock“ behandeln sollten, sogar wenn wir dafür speziell ausgebildet sind, macht mir diese Idee Sorgen. Wir sollten zuerst den ganzen Menschen im Blick haben und das Muster der Disharmonie zu erkennen versuchen, wie wir es in unserer Ausbildung gelernt haben. Für mich ist Bewusstsein das Einzige, was nötig ist, damit ein Heilungsprozess stattfinden kann, die Behandlung unterliegt natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Ich habe mir medizinische und therapeutische Traditionen aus Ost und West angeeignet, und habe hilfreiche Hinweise von vielen Kollegen und Lehrern zu diesem strittigen Thema in Erwägung gezogen. Jedoch waren es hauptsächlich meine Patienten, die mir im Verlauf der Jahre gezeigt haben, dass ich ihnen am besten durch Bewusstsein, Integrität und durch Berührung helfen kann. Mit der Zeit hat sich meine Herangehensweise gegenüber den Patienten insoweit geändert, dass ich die meisten Behandlungsstrategien und zielorientierten Techniken hinter mir gelassen habe, um im diagnostischen Prozess präsenter zu sein. Durch diese aufmerksame Haltung hat sich eine einfühlsamere Kommunikation und raumgebende Berührung entwickelt, in der das Notwendige von selbst passiert.
Einfühlsame Hände sind der Schlüssel, um chronischen Schock zu erreichen und aufzulösen. Wenn wir mit Gefühl und Vertrauen berührt werden, wird sich unser ganzes System bereitwillig öffnen. In Verbindung mit einer fürsorglichen und kompetenten Einstellung und den dafür notwendigen Fähigkeiten ergeben sich große Heilungschancen.
Als Babys werden wir im Arm gehalten, genährt und beschützt, während wir ungeheuer verletzbar sind. Wie viel Sicherheit und Harmonie wir während dieser Phase der Abhängigkeit erfahren, dient als Referenz und Auslöser für alle späteren Reaktionen zu körperlicher Nähe, Intimität und Berührung. Auch als Heranwachsende sind wir von ausreichender, angemessen liebevoller und respektvoller körperlicher Berührung abhängig, damit wir vertrauensvoll menschliche Kontakte zulassen können.
Als angepasste Erwachsene der modernen westlichen Gesellschaft akzep-tieren wir die Grenzen und Normen unserer Kultur, aber unglücklicherweise sind viele von uns entweder auf dieser Ebene nicht ausreichend genährt worden, oder haben einen exorbitanten Preis dafür bezahlt, oder schlimmstenfalls Missbrauch von denen erlitten, die sie hätten beschützen sollen.
Unsere Körper reagieren auf solche negativen Erfahrungen mit Abwehrhaltung des Bindegewebes, das heißt Kontraktion des Gewebes und unser Nervensystem versucht, sich dieser Situation anzupassen. Dieser Prozess hat W. Reich zuerst als „Einpanzerung“ beschrieben, dabei reduziert sich unsere Sensibilität und beeinflusst unsere Wahrnehmung und unser Verhalten. Manche Menschen erleben verschiedene Krisen oder schwierige Zeiten und erholen sich vollständig, andere werden in Schlüssel-bereichen des Körpers chronisch verspannt und manche befinden sich schon in jungen Jahren in einer Art „Schockzustand“. Von Aussen betrachtet werden solche Menschen als „Unfallgefährdet“, „Unglücklich“, „Verwegen“ oder „Grob“ angesehen und es gibt eine ganze Skala von weiteren Zuordnungen, die diese Menschen durch ihr Verhalten zeigen. Wenn sie unsere Patienten werden, betrachten wir sie einfach nur als Menschen.
Drei Gründe, warum Shiatsu Behandlungen dazu führen können, dass latente Schockzustände an die Oberfläche kommen und möglicherweise aufgelöst werden können:
- Weil wir mit Berührung arbeiten, und weil wir durch Ausbildung und Erfahrung in der Lage sind, sorgsam und gefühlvoll zu berühren, so dass die Möglichkeit besteht, dass einige der Abwehrblockaden unserer Klienten aufgelöst werden.
- Weiterhin, weil wir Diagnosemethoden erlernt haben, um Blockade Muster zu lokalisieren und wir in Einklang sind mit den sanften Bewegungen des Qi’s, werden uns sanfte Stellen und Triggerpunkte, sogenannte Tsubos, oder resonante energetische Verbindungen begegnen, welche Nervenleitungen reaktivieren und Schlüsselprozesse im Empfänger auslösen können.
- Am allerwichtigsten, viele unserer Patienten, sogar besonders verletzliche und sehr verschlossene, lernen langsam, uns als Therapeut und Mensch genug zu vertrauen, um das Risiko einzugehen, Verborgenes zu zeigen und dieser Prozess kann manchmal eine schockierende Gefühlslawine auslösen.
An diesem Punkt müssen wir wissen, dass eine Person zu diesem Zeitpunkt nicht einen Schock erleidet, wie es den Anschein haben kann, sondern dass ein schon lange bestehender Schockzustand an die Oberfläche kommt, einhergehend mit dringenden Ängsten, Verwirrung und körperlichem Aufruhr, welche die ursprüngliche Situation gekennzeichnet haben. Es kann zu starken Projektionen kommen. Die Person mag davon überzeugt sein, dass wir die Krise durch unsere Behandlung ausgelöst haben. Anfangs gibt es vielleicht nur ein vages Gefühl, dass es mit ihrer eigenen Erfahrung aus der Vergangenheit zu tun hat. Die Dinge werden nicht von selbst an den „richtigen Platz rücken“. Damit die Situation vollständig realisiert und aufgelöst werden kann, braucht es Zeit und manchmal wiederholt positive Erfahrungen.
Wir müssen präsent sein, bis die Krisensituation bewältigt ist. Wir müssen einen kühlen Kopf und ein offenes Herz bewahren und gut „geerdet“ sein. Was bedeutet das in der Praxis?
Lösung
Mitten in der Behandlung fühlt sich der Empfänger gestört oder agitiert. Er hat das Gefühl, dass etwas Seltsames mit ihm passiert, aber zuerst verleugnet er es und versucht, die Kontrolle zu behalten. Häufig ist es der Behandler, der diese Veränderung bemerkt und fragt, ob der Empfänger sich wohl fühlt. Möglicherweise hat er begonnen zu hyperventilieren, oder die Zähne be-ginnen zu klappern, die Kiefermuskeln verspannen sich und die Person bewegt den Mund oder gähnt, um die Anspannung zu verringern. Möglicherweise fühlt sich der Empfänger ein wenig schwindlig oder hat plötzlich einen trockenen Mund und wird durstig. Vielleicht bittet er uns, mit dem, was wir gerade tun, aufzuhören. Wir müssen aufmerksam und respektvoll sein, aber es gibt keinen Grund zur Panik.
Im Gegenteil, wir reagieren so natürlich wie möglich. Zuerst können wir mit dem Empfänger über das sprechen, was gerade passiert. Er fühlt sich vielleicht verunsichert, aber wir können ihm sagen, dass es ein Prozess ist, der für den Körper nötig ist, dass es eine natürliche Reaktion auf die Behandlung ist. Vielleicht ist es bislang nicht passiert, aber es besteht immer die Möglichkeit, dass aus tieferer Ebene etwas hochkommt, welches für den Heilungsprozess notwendig ist. Vielleicht kann er das zwar akzeptieren, ist aber nicht in der Lage, sich zu beruhigen. Vielleicht ist er in kalten Schweiss ausgebrochen, wir decken ihn dann mit einer Decke zu. Es ist in diesem Moment nicht angezeigt, mit normalem Shiatsu weiterzumachen, sondern wir müssen unserer Intuition folgen und auf seine Bedürfnisse eingehen. Man kann zwei Hände auflegen, eine aufs Abdomen, eine auf die Brust, um die Atmung zu beruhigen, kann seine Hand in unserer halten und mit dem Daumen der anderen Hand Magen 36 drücken, kann seine Füsse an Niere 1 halten, oder seinen Kopf berühren; all dies sind Möglichkeiten, aber jeder Schritt muss einfach, stetig, direkt und ehrlich erklärt sein. Manchmal genügt das und der Patient kehrt zu einem normaleren Zustand zurück, manchmal reicht es nicht aus. Wir holen Wasser und lassen ihn trinken, wir geben ihm homöopathisches Arnika oder „Notfalltropfen“, wir erklären etwas zum Thema Schock. Es gibt keine Eile – wir geben ihm die Zeit, die er braucht – wir erklären dem nächsten Klienten die Verspätung, wir rufen ein Taxi um ihn heimzubringen oder tun alles was jetzt gerade angemessen erscheint. Wahrscheinlich beruhigt er sich, aber er kann sich ziemlich geschockt fühlen.
Vermutlich muss er darüber reden. Möglicherweise ist ihm selbst etwas klar geworden, oder er kann keinen Sinn erkennen und dann ist es besser, bis zum nächsten Termin zu warten. Wenn wir die Möglichkeit haben, können wir ihm Tee anbieten und ihm Zeit geben, seine Stabilität wiederzuer-langen; bevor er geht, empfehlen wir ihm, erst zu fahren, wenn er sich dazu in der Lage fühlt. Wir müssen grosse Geduld und viel Verständnis zeigen, vielleicht sogar mehrere Behandlungen lang. Vielleicht entwickelt er auch Ängste in Bezug auf weitere Behandlungen. Darauf sollten wir mit Mitgefühl reagieren. Die Möglichkeit, einen Klienten an einen geschulten Therapeuten oder psychologischen Berater weiterzuempfehlen, sollte immer in Betracht gezogen werden, aber lasst uns auch bedenken, wie wertvoll es sein kann, mit etwas fortzufahren, was sowieso nur passieren durfte, weil die „Zeit“ reif dafür war. Es gibt keine speziellen Strategien, abgesehen von der, dass man mit der Situation so umgeht, wie sie sich präsentiert, und an dieser Stelle möchte ich ganz klar machen, dass wir unsere normale Vorgehensweise nicht ändern müssen. Wir sollten nicht „auf die Jagd“ gehen, unsere normalen Shiatsubehandlungen sind ein authentisches Angebot für die Bedürfnisse des Klienten. Bei weiteren Klientenbesuchen sollten wir ganz normal weitermachen und bereit sein, mit allem umzugehen, was passiert.
Es ist für uns selbst wichtig zu wissen, wie wir uns abgrenzen und trotzdem mit Integrität und Ehre handeln können. Normalerweise wissen wir etwas über die Hintergründe des Klienten und werden intuitiv in der Lage sein, eine unerwartete therapeutische Krise von einem echten Notfall zu unterscheiden. Wenn wir Zweifel haben, und in jedem Fall von Kollaps und Bewusstlosigkeit, rufen wir den Rettungsdienst. Wenn andere Kollegen mit uns zusammenarbeiten, ist es ratsam, mit ihnen über Krisensituationen, die auftauchen, zu sprechen. Sie können uns unterstützen, wenn das nötig wird. Aber auch wenn wir alleine arbeiten, können wir mit Kollegen über unsere Zweifel und Belange sprechen. Das ist Teil einer notwendigen Offenheit rund um traumatische Zustände und deren weit reichenden Folgen.
Fälle
(Akupunktur Ausbildungs-Klinik, 1978)
Gewisse Patienten haben gelegentlich Reaktionen, ähnlich wie die obenbeschriebene, obwohl sie bereits vielenormal verlaufende Behandlungen erhalten haben. Man hat uns gesagt, es handle sich um „Nadel-Schock“ und dass wir die Nadeln sofort entfernen undMagen 36 entweder mit Massage oder mit Moxa behandeln sollen.
- Ein Mann auf einer Party, der anscheinend durch zuviel Alkohol einen sehr mitgenommenen Eindruck macht, aber als niemand ihn von seinem Rausch zurückholen kann, und er kalt und leblos erscheint, will man eine Ambulanz rufen. Aber sein Puls erscheint regelmässig, wenn auch eher schwach. Starker Druck auf GV 26, auf der Oberlippe, unter der Nase in Richtung Zahnfleisch, holt ihn rapide zurück. Er steht auf und versucht alleine zurechtzukommen. Trotzdem wird er von einem verantwortungsvollen Freund nach Hause zurück begleitet.
- Eine Frau, 48, mit komplexer Krankengeschichte, die seit einigen Jahren Behandlungen erhält, beginnt während einer Behandlung zu zittern und sich zu schütteln. Sie sagt, ihr sei nicht kalt, aber die Zähne klappern unkontrollierbar, und sie hat Erstickungsgefühl und Atemnot. Das passiert an ein oder zwei Gelegenheiten und wird mit sanftem Druck auf CV17 und CV6 und verbaler Unterstützung behandelt. Manchmal fühlt sie sich auch der Ohnmacht nahe und andere Wiederbelebungspunkte werden benutzt. Als dies bei einer späteren Behandlung wieder auftritt, schüttelt sie sich plötzlich, sitzt auf, schaut mich schräg an, mit wildem Blick, ohne mich zu erkennen und schreit mich an: Bleib weg von mir, hau ab! Ich behalte meine räumliche Distanz, aber bitte sie um Augenkontakt und sage zu ihr: Ich bin Paul. Anscheinend siehst du jemand anderen in mir und ich weiss, du fühlst dich bedroht, aber ich bin Paul. Du bist in meiner Praxis und du bist in Sicherheit. Ich werde hier in deiner Nähe bleiben und du kannst mit mir reden. Ich werde dich nicht berühren, bis du das Gefühl hast, dass es in Ordnung ist. Wenn du möchtest, kann ich meinen Kollegen hereinrufen. Bitte, versuch zu atmen, du bist hier sicher, und so weiter. Sie scheint zu erkennen, wo sie ist, und lehnt sich erschöpft zurück. Die Behandlung wird erfolgreich durch Kontakt und ein Gespräch abgeschlossen.
Das war ein Durchbruch in Bezug auf Erinnerungen an Kindesmisshandlung, welche sie später mit einem Therapeuten durchgearbeitet hat. Sie kam auch weiterhin zu Shiatsu Behandlungen und hat die Wichtigkeit dieser entscheidenden Prozesse bestätigt.
- Nach einigen Routinesitzungen mit einer geschiedenen jungen Frau, Mutter zweier kleiner Kinder, kam es während einer Behandlung zu ein, zwei Wutausbrüchen, für die sie sich gleich entschuldigte und sagte, sie wisse gar nicht, was über sie gekommen sei. Obwohl ihre Symptome körperlicher Natur waren, wusste ich aus ihrer Krankengeschichte, dass es ein „Thema mit Männern“ gibt. Während einer späteren Behandlung wurde sie plötzlich orientierungslos, zittrig und kalt, machte einen elenden, untröstlichen Eindruck, sie rollte sich auf dem Futon zusammen und sagte, sie müsse umarmt werden. Ich habe sie mit einer warmen Decke zugedeckt und ihr erklärt, ich würde in ihrer Nähe sitzen und sie halten. Eine Hand habe ich auf ihren Arm in Schulternähe gelegt, mit der anderen habe ich Stellen entlang der Wirbelsäule, unter anderem GV4, Ming Men, gehalten und habe sie eingeladen, über ihre Gefühle zu sprechen, wenn sie kann.
Sie hat noch einige Monate lang Shiatsubehandlungen bekommen, gelegent-lich zeigte sie ängstliche Unruhe, aber sie erlaubte sich selbst auch ein gewisses Mass an Verletzlichkeit. Ihr allgemeiner Zustand besserte sich und sie hörte mit den Be-handlungen auf. Zwei Jahre später hat sie mir einen Dankesbrief geschrieben, in dem sie mir erklärte, dass ihre „Probleme mit Männern“ mit häuslicher Gewalt und einem männlichen Therapeuten zu tun hatten, der sie missbraucht hatte. Sie hat später einen Verein für Missbrauchsopfer durch Therapeuten gegründet. Sie hatte sich zum damaligen Zeitpunkt nicht in der Lage gesehen, all das an die Oberfläche zu bringen, aber die Behandlungen mit mir hatten ihr Selbstvertrauen zurückgegeben und haben ihr geholfen, Männern wieder zu vertrauen. Sie schrieb, dass sie kurz nach Beendigung der Behandlungen eine neue Beziehung angefangen hat und dass diese nährend und unterstützend sei und dass es ihr gut ginge.
- Ein junger Mann, 26, bekam wiederholt Behandlungen für ein Knieproblem aufgrund einer Sportverletzung. Nach jeder Behandlung kam es zu einer Besserung, aber sobald er mehr Sport machte, wurde es wieder schlimmer. Während einer Behandlung schien es, als würde er einen „Schock“ bekommen, mit einer plötzlichen „Krise“ und „schlottern vor Kälte“. Eine Zeitlang konnte er nicht warm werden, trotz Decke und gutem Zureden. Später, als er sich erholt hatte, berichtete er von einem schlimmen Erlebnis an einer ausgesetzten Stelle eines Berges, wo er um sein Leben fürchtete. Zuvor hatte er dieses Schlüsselerlebnis nicht erwähnt. Ich benutzt Moxa an GV4 („Tor des Lebens“) und andere Punkte am unteren Rücken. Danach lösten sich seine Knieprobleme schnell auf. Vielleicht wurden auf diese Art und Weise Erinnerungen zurück ins Bewusstsein gebracht, die er verdrängt hatte?
- Eine Frau von 58 Jahren hat anhaltende Knie- und Beinschmerzen, nach einer „erfolgreichen“ Hüftoperation. Wiederholte Behandlungen brachten Erleichterung, aber die Schmerzen kamen ein paar Monate lang wieder. Allmählich erreichte sie eine Ebene von schmerzfreier Beweglichkeit, aber erst nach ein paar Behandlungen, in denen sie „seltsam“ war. Ihre Panikgefühle wurden zufriedenstellend bewältigt. Normalerweise beruhigte sie sich, wenn ich ihre Füsse hielt und Niere 1 drückte. Während solcher Behandlungen sprach sie über ihre Ängste, dass sie von ihrem älteren Ehemann abhängig werden könnte, diese Ängste hatte sie während der Operation und in der „Rehabilitation“ geheim gehalten.
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© Paul Lundberg, Autor des “Book of Shiatsu” und Mitbegründer des Shiatsu College (UK), unterrichtet in ganz Europa Shiatsu, Daoyin Qigong und Traditionelle Östliche Medizin. Er gibt spezielle Workshops über die Behandlung von Schmerzen und Posttraumatischen Belastungsstörungen in der klinischen Praxis für Shiatsu und Östliche Körpertherapie. Einladungen für Workshops zu diesen oder verwandten Themen sind willkommen: pbalundberg@yahoo.com.
Der vorliegende Artikel ist Teil des Kongressbandes “Europäischer Shiatsu-Kongress Kiental 2007”.