Shiatsu und TCM. Über die Zusammenarbeit von TCM-Ärzten und Shiatsu-Praktikern (Eduard Tripp)

„Gesundheit ist ein Weg, der sich bildet, wenn man ihn geht und gangbar macht.”
(Heinrich Schipperges, Medizinhistoriker, 1918 – 2003)

Einführung und Überblick

Dass die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) wirkt, ist unbestritten. Studien und Erfahrungen zeigen nachweislich die Wirksamkeit von chinesischen Heilmitteln und Akupunkturbehandlungen. Und dennoch ist die Akupunktur, wie auch andere ganzheitliche Therapieansätze in der Öffentlichkeit in eine Art Erklärungsnotstand gegenüber der wissenschaftlich begründeten Evidence Based Medicine geraten. Sie hinterfragt kritisch, welche Aspekte der Behandlung die Wirksamkeit der Nadelbehandlung ausmachen.


Nur eine Placebo-Wirkung?

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In diese Richtung geht die Diskussion der GERAC-Studien (German Acupuncture Trials). Das nicht signifikant bessere Ergebnis der Verum-Akupunktur gegenüber Placebo-Nadelbehandlungen wird sogar dahingehend ausgelegt, dass die Wirksamkeit der Akupunktur in unspezifischen Faktoren wie beispielsweise dem Nadelreiz liegt, vor allem aber, wie Der Spiegel im Juni 2007 schreibt, in ihrer Inszenierung als „Super-Placebo“ (seltsamerweise nicht hinterfragt wird dabei allerdings, mit welcher wissenschaftlichen Begründung man bei den untersuchten Kopf-, Rücken und Knieproblemen guten Gewissens konventionelle medizinische Behandlungen anbieten kann, wenn selbst die Placebo-Akupunktur deutlich erfolgreicher ist).

Placebo-Wirkungen haben einen schlechten Beigeschmack, wecken Assoziationen von „eingebildet“ und „nicht wirklich“. Gerade hier aber haben sich in den letzten Jahren, nicht zuletzt durch die moderne Hirnforschung, viele neue Erkenntnisse aufgetan. Die wichtigste, für Manche wohl auch unbequeme Erkenntnis ist, dass Placebo-Anwendungen ganz reale, auch hirnphysiologisch nachweisbare Auswirkungen zeigen. Dazu kommt, dass es keine definitive Vorhersagbarkeit gibt, wie ein gesetzter Reiz oder eine Behandlung verarbeitet wird. Das Ergebnis ist „offen“, was aber nicht bedeutet, dass es beliebig ist, was man tut und wie man es tut. Aufgehoben ist nur die aus der klassischen Physik hergeleitete Ursache-Wirkung-Beziehung und wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir es nur mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben. Professionelle und verantwortungsvolle Behandlung bedeutet deshalb, dass man versucht, die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Reaktion zu erhöhen.

Genau das haben Experimente zur Placeboforschung gezeigt. Je naheliegender man gewisse Reizantworten macht, desto häufiger kommt es zur erwarteten und gewünschten Reaktion – wenngleich man diese, wie schon gesagt, nicht erzwingen kann. Das Setting, die Informationen, die gegeben werden, so genannte Umgebungsvariablen generell und die Qualität der therapeutischen Beziehung beeinflussen maßgeblich die Wahrscheinlichkeit der Auswirkungen von Interventionen. Dazu kommen die Vorerfahrungen, Erwartungen und Ängste des Patienten wie auch Zuversicht und Überzeugung auf Seiten des behandelnden Arztes. Es macht deshalb einen großen Unterschied, ob der Patient durch den Arzt und dessen Umgang mit ihm Vertrauen in die Wirksamkeit einer Behandlung gewinnen kann – oder eben nicht. Und da sich die Reaktionen des Patienten nicht vorhersagen lassen, bewegt man sich mit der Behandlung in einem weiten Feld von Möglichkeiten. Das reicht von gewünschten Ergebnissen durch an und für sich unwirksame Behandlungsmethoden und -mittel (z.B. bewusst eingesetzte Placebos wie Milchzucker) bis hin zu Verschlechterungen durch als wirksam nachgewiesene Methoden und Behandlungstechniken.

Im Gesundheitsbereich spiegelt sich die Veränderung des wissenschaftlichen Weltbildes auch in den Definitionen von Gesundheit und Krankheit wider. Das heute gängige biopsychosoziale Modell und Weiterentwicklungen wie etwa die Theorie der Organischen Einheit heben die Trennung von körperlichen, psychischen und mentalen Vorgängen auf und sprechen zunehmend von einer Identität von Leib und Seele (Gehirn und Geist), die lediglich zwei Ebenen unseres Verstehens widerspiegeln. Eine Trennung zwischen physischen Interventionen und anderen Einflussgrößen, die heute teilweise unter den Begriffen der Placebowirkungen, Umgebungsvariablen oder therapeutische Beziehung abgehandelt werden, verliert unter diesen Annahmen ihre Sinnhaftigkeit.


Die Traditionelle Chinesische Medizin im Westen

Trotz aller Vorbehalte, die der Traditionellen Chinesischen Medizin entgegengebracht werden, hat sie im Westen in den letzten Jahren eine große Verbreitung erfahren. Sie hat, um mit Paul Unschuld zu reden, den Nerv der Zeit getroffen. In einer Zeit, in der sich die Technik und unpersönliche Untersuchungen mehr und mehr zwischen Arzt und Patient geschoben haben, entstand eine zunehmende Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit. Eine solche Ganzheitlichkeit verspricht die TCM, verspricht dem Patienten als Mensch wahrgenommen zu werden in allen Dimensionen seiner körperlichen, seelischen und sozialen bis hin zur spirituellen Existenz.

Nun aber unterscheidet sich die TCM im Westen von der heute in China ausgeübten TCM und diese wiederum von der Heilkunde der Vergangenheit. Nachdem die traditionelle Medizin in China zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einem Tiefpunkt angelangt war und sogar in Gefahr geriet, verboten zu werden, wurde in den Fünfziger- bis zur Mitte der Sechzigerjahre aus dem Erbe der traditionellen Medizin ein Kern herausgefiltert, der zentrale historische Versatzstücke auf der Grundlage moderner westlicher Logik vereinte (Paul Unschuld, 2003). Abergläubische und von unserem heutigen Kenntnisstand offensichtlich falsche und unsinnige Ansichten wurden dabei herausgefiltert und zugleich mehr und mehr Elemente westlicher Medizin in die Studienpläne der Zhongyi („Chinesische Medizin“) eingefügt. Grundlegende Widersprüche zum westlichen Denken wurden herausgenommen. Ziel dieser Strategie war es, das traditionelle Erbe allmählich zu verwestlichen und durch die wissenschaftliche Legitimierung tatsächlich wirksamer Praktiken der Arzneikunde und Nadeltherapie in eine akzeptable Ergänzung der modernen Medizin überzuführen.

Die bei uns im Westen praktizierte Traditionelle Chinesische Medizin unterscheidet sich aber nicht nur von der historisch in China praktizierten Heilkunde, sondern auch von der heute in China angewandten Traditionellen Chinesischen Medizin. Etwas überzeichnet formuliert hat die TCM in Europa nur wenig mit der historisch praktizierten Heilmethode zu tun, sondern ist, wie Paul Unschuld es formuliert, ein Kunstprodukt mit Elementen aus der Traditionellen Chinesischen Medizin. Gewachsen ist sie aus dem Bedürfnis der Patienten (und Behandler) nach Ganzheitlichkeit, Natürlichkeit und einer Medizin, die nicht aggressiv und technisch ist, sondern den Menschen in seiner Ganzheit von Körper, Seele und Geist wieder in den Mittelpunkt der Behandlung stellt. Zugleich gibt sie dem Patienten wieder Sinn und Bestimmung und weist ihm einen bedeutungsvollen Platz in der Welt, ja im kosmischen Gefüge zu.

Balancieren, Energien ausgleichen, Harmonisieren, in Fluss bringen und die Selbstheilungskräfte anregen, sind wichtige Aspekte der neu gestalteten Traditionellen Chinesischen Medizin im Westen. Diese grenzt sich damit vom Krieg der konventionellen Medizin gegen die vielfältigen Krankheiten ab, wo gleichsam als Kollateralschaden der Mensch an den Nebenwirkungen aggressiver und belastender Behandlungen leidet. Es gilt (auch) die Gesundheit zu fördern, indem Erwartungen, Bedürfnisse und Hoffnungen der Patienten erfüllt werden. Dies wird von der Wissenschaft aber als situative Variablen, therapeutische Beziehung oder eben – abwertend und geringschätzend – als Placebo-Effekte eingestuft werden.


Ost und West. Shiatsu im Wandel

Unterschiede zwischen Ost und West finden sich auch in der Geschichte des Shiatsu. Unterschiede, die zum Teil soweit gehen, dass Glyn Adams (2002) in einem Vergleich zwischen dem Shiatsu in Japan und dem in Großbritannien zum Schluss kommt, dass in vielen Bereichen das Shiatsu im Westen nicht so sehr von japanischen oder auch chinesischen Quellen geprägt ist, als vielmehr von Konzepten des New Age, von Ganzheitlichkeit und Verwirklichung eines individuellen, freien und authentischen Selbst.

In vielem von dem, was Shiatsu im Westen ausmacht, insbesondere auch in seinem Bild in der Öffentlichkeit (und für die Öffentlichkeit) spiegeln sich – ähnlich wie im Bild der TCM als „sanfte Alternative“ zur Schulmedizin – die Bedürfnisse der Menschen in unserer Gesellschaft und unserer Zeit. Allein schon das Ambiente, in dem Shiatsu stattfindet, soll dem Klienten vermitteln, das hier ein Ort der Genesung, der Heilung und Ganzheitlichkeit ist, in dem der Mensch mit Körper, Seele und Geist im Zentrum der Behandlung steht. Die in unseren Augen asiatische Gelassenheit ausstrahlende Atmosphäre, Naturmaterialien, Pflanzen im Behandlungsraum, Räucherstäbchen und Duftlampen, Zimmerbrunnen, eventuell eine entspannende Musik und ähnliches mehr sollen eine bestimmte Atmosphäre schaffen. Sie sollen vermitteln, dass man an diesem Ort Entspannung findet, Zentrierung und Gesundheit.


Gemeinsame Grundlagen und Ansätze

Shiatsu, in Japan ein Gesundheitsberuf, in Österreich ein Gewerbe, und die Traditionelle Chinesische Medizin haben viele Gemeinsamkeiten. Da sind vor allem der Hintergrund der Behandlungs- und Diagnostikverfahren, das energetische Verständnis des Menschen sowie die Konzepte der Disharmoniemuster, ihrer Diagnostik, ihrer Auswirkungen und ihrer Auflösung. Und auch im Verständnis der Ganzheitlichkeit des Menschen und seiner Einbettung in den Kosmos herrscht eine grundsätzliche Übereinstimmung. In dieser Hinsicht haben Shiatsu und TCM einen ähnlichen Ansatz. Sie haben ein ähnliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit und verheißen den Menschen, die ihre Methoden in Anspruch nehmen, eine Harmonisierung ihrer Energien, eine Förderung ihrer Selbstheilungskräfte und ein Zurückfinden in ihre persönliche Mitte, die Erfüllung und Sinn bedeutet.

Gerade diese Ähnlichkeit in Hintergrund und Ansatz bedeuten aber nicht nur eine (mögliche) Konkurrenzsituation, sondern machen ein Miteinander von Shiatsu und TCM interessant und lohnend. TCM-Arzt und Shiatsu-Praktiker sprechen eine, zumindest in weiten Bereichen gleiche Sprache, die Sprache der Traditionellen Chinesischen (Fernöstlichen) Medizin. Und sie haben ein grundsätzlich gleiches Verständnis, welche Behandlungsstrategie bei welchem Disharmoniemuster anzuwenden ist.

Für den Shiatsu-Praktiker bietet sich deshalb (wenn eine medizinische Behandlung sinnvoll und erforderlich erscheint) die Einbeziehung eines TCM-Arztes an. Beim TCM-Arzt kann er sich sicher sein, dass die Behandlung auf ähnlichen Prinzipien beruht, so dass er sein Shiatsu optimal unterstützend auf die Behandlungserfordernisse der TCM-Behandlung einstellen kann. Und auf der anderen Seite kann ein Klient – vor allem wenn ein direkter Kontakt zwischen TCM-Arzt und Shiatsu-Praktiker besteht – zusätzliche Unterstützung durch die Shiatsu-Behandlung erhalten. Das allerdings setzt voraus, dass Arzt und Shiatsu-Praktiker „teamfähig“ sind, dass Verständnis für den jeweils anderen Zugang da ist und keine Vorurteile und Berührungsängste einschränkend wirken.


Unterschiedliche Schwerpunkte

Trotz vieler Gemeinsamkeiten unterscheiden sich TCM und Shiatsu zugleich aber auch in vielen Bereichen, haben andere Schwerpunkte und Stärken. Bei Shiatsu steht die Stärkung und Förderung von Ressourcen im Vordergrund. Über die Auflösung von energetischen Blockaden durch körperliche Interventionen (z.B. verweilender und rhythmischer Druck) werden die Fähigkeiten des Klienten gestärkt, den Herausforderungen seines Lebens und eventuell auch einer bestehenden Erkrankung besser begegnen zu können, um Gesundheit und Wohlbefinden zu erlangen.

Ein wesentliches Merkmal von Shiatsu ist seine Berührungs- und Begegnungsqualität, in welcher der Empfangende Partner ist und die Behandlung dialogisch mitbestimmt. In der Sprache des Shiatsu wird dies durch die Betonung des Hara ausgedrückt, wobei Hara das japanische Wort für Bauch ist und sinngemäß als Zentrum der Lebensenergie und des inneren Wissens verstanden werden kann.

Weiterhin typisch für Shiatsu ist, dass es ohne Öl oder Cremen ausgeführt wird. Bei der Shiatsu-Behandlung bekleidet bleiben zu können (eine bequeme Kleidung ist allerdings erforderlich), gibt vielen Klienten Sicherheit und Schutz – eine Sicherheit, die sie darin unterstützt, sich fallen zu lassen und der Behandlung anvertrauen zu können.

Angenehm erlebte Berührung in der Massagebehandlung bewirkt, dass Oxytocin ausgeschüttet wird. Nachfolgende Stresssituationen werden dadurch ruhiger und entspannter bewältigt. Aber nicht nur kurzfristige Wirkungen können durch Shiatsu hervorgerufen werden, sondern auch langfristige und tiefgreifende Veränderungen. Solche Veränderungen betreffen z.B. den Zugang zum eigenen Körper und das Verständnis seiner Funktionen und Funktionsweisen. Und auch innere Strukturen (auch im Sinne von stabilen und harmonischen biologischen Rhythmen) können gestärkt werden und damit die biologisch-psychischen Voraussetzungen für Lebensbewältigung und Gesundheit.


Shiatsu verändert das Gesundheitsverhalten

Zudem verändert sich, wie die jüngst abgeschlossene europaweite Dreiländer-Studie zu Shiatsu (2007) belegt, das Gesundheitsverhalten von Shiatsu-Empfangenden. Klienten, die regelmäßig Shiatsu erhalten, sind insgesamt beschwerdefreier und benötigen weniger konventionelle Medizin. Zugleich aber suchen sie vermehrt Unterstützung durch komplementärmedizinische Methoden wie die TCM.


Soziale Netze und Zusammenarbeit

Networking ist heute zu einem wichtigen Begriff geworden. Durch die schwächer werdenden sozialen und kollektiven Kohäsionskräfte und Zwänge obliegt es mehr und mehr dem Einzelnen, sich soziale und zunehmend auch berufliche Netze zu gestalten. Während es früher viel häufiger selbstverständlich war einen Beruf lebenslang auszuüben, oft sogar in nur einer Firma, steigt in unserer Zeit die Zahl der befristeten und eingeschränkten Beschäftigungsverhältnisse. Arbeitnehmer sind zunehmend nur noch projektbezogen oder zeitlich begrenzt in einer Firma tätig, haben dafür aber oft mehrere, parallel ausgeübte Beschäftigungen. Bedingt durch diese Arbeitszeitmodelle unterliegen sie einem anderen Arbeitsrhythmus, der unter Umständen auch – gewollt oder nicht gewollt – beschäftigungsfreie Zeiten mit sich bringt – und Unsicherheit. In einer solchen, oft belastenden Situation erweisen sich soziale Netzwerke als sehr hilfreich.

Ähnliche Entwicklungen zeigen sich auch in der Medizin. Heute gibt es kaum mehr den einen Arzt, zu dem man mit nahezu allen Beschwerden geht, sondern mehrere, manchmal auch eine Vielzahl von Spezialisten, die im besten Fall miteinander vernetzt sind, zusammen und nicht gegeneinander arbeiten. Praxisgemeinschaften, aber auch andere Formen des Miteinander, sind hier Modelle, die sich mehr und mehr etablieren und auch zunehmend gewerbliche gesundheitsbezogene Berufe miteinbeziehen – aus der Erfahrung heraus, dass Bewegungstherapien ebenso wie Ernährungsberatung und Shiatsu unterstützend wirken und Behandlungserfolge stabilisieren, vielfach sogar noch verstärken können.

Bei manchen Patienten, die durch eine chinesische Pharmako- oder Nadelbehandlung wieder beschwerdefrei sind und keine Behandlung mehr benötigen würden, erscheint eine weitere Betreuung durch einen Shiatsu-Praktiker sinnvoll, um dem Wiederauftreten der Beschwerden entgegen zu wirken oder den Zeitraum bis zu deren Wiederauftreten zu verlängern. Hier kann der Shiatsu-Praktiker den Klienten/Patienten erfolgreich begleiten, seine Lebensbewältigung unterstützen und – wenn es wieder notwendig ist, weil die Beschwerden eine ärztliche Intervention erfordern – wieder zum TCM-Arzt weiter- bzw. zurückverweisen.

Ein anderes Beispiel einer guten Zusammenarbeit zum Wohle des Patienten zeigt sich, wenn der Shiatsu-Praktiker, zu dem ein Klient mit Beschwerden kommt, diesen motiviert, einen TCM-Arzt aufzusuchen (generell wird eine ärztliche Abklärung in solchen Fällen vom Berufsverband als „state of the art“ für professionelles Shiatsu betrachtet) und dieser sich, solange es erforderlich ist, parallel (oder vorübergehend auch ausschließlich) einer ärztlichen Behandlung unterzieht, um dann die weitere energetische Balancierung und Unterstützung wieder durch die Shiatsu-Behandlung zu erfahren.

Kurz zusammengefasst lässt sich sagen, und das bestätigt sich in der konkreten Praxis immer wieder, dass die Zusammenarbeit von TCM-Arzt und Shiatsu-Praktiker Vorteile für Alle mit sich bringt. Der TCM-Arzt profitiert von der Stabilisierung und manchmal sogar Verbesserung seiner Behandlungen, der Shiatsu-Praktiker durch die Sicherheit der medizinischen Abklärung und der optimalen Betreuung des Patienten/Klienten, die sich auch positiv auf das Vertrauen in die Professionalität des Shiatsu-Praktikers auswirkt. Und der Patient/Klient gewinnt durch eine gute und ganzheitliche Betreuung und erlebt nebenbei die Vorzüge der Kooperation von verschiedenen Berufsgruppen – ganz im Sinne der Traditionellen Chinesischen Medizin, die die Verbundenheit von Allen mit Allem als wichtiges Grundprinzip des Kosmos betrachtet.


Grundlagen und Implikationen


Gesundheit und Krankheit

War das Verständnis von Gesundheit und Krankheit lange Zeit stark von eindimensionalen Betrachtungen geprägt (z.B. die WHO-Definition 1948 oder die Definition von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit),

Gesundheit als Ideal

Health is the state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity. (WHO, 1948)

Negativbestimmung von Gesundheit

Gesundheit bedeutet die Abwesenheit von Krankheit. Wenn Symptome oder Beschwerden vorliegen, wird jemand als krank bezeichnet.

so wird Gesundheit zunehmend multidimensional betrachtet und auch Aspekte von Selbstverwirklichung und Sinnfindung ebenso wie der Zugang und die Nutzung von Ressourcen einbezogen. Hervorgegangen aus Studien zur allgemeinen Systemtheorie und ihrer Anwendung auf die Biologie (Ludwig von Bartalanffy, 1901 bis 1972), Paul A. Weiss, 1898 bis 1989),

Biopsychosoziales Gesundheitsmodell

Neben körperlichem Wohlbefinden (z.B. positives Körpergefühl, Fehlen von Beschwerden und Krankheitszeichen) und psychischem Wohlbefinden (z.B. Freude, Lebenszufriedenheit) umfasst Gesundheit auch Leistungsfähigkeit, Selbstverwirklichung und Sinnfindung.

Abhängig ist Gesundheit auch vom Vorhandensein, von der Wahrnehmung und vom Umgang mit Belastungen, von Risiken und Gefährdungen durch die soziale und ökologische Umwelt sowie vom Vorhandensein, von der Wahrnehmung, Erschließung und Inanspruchnahme von Ressourcen.

versteht das biomedizinische Gesundheitsmodell die gesamte Natur als ein hierarchisch geordnetes Kontinuum von immer komplexeren, größeren Einheiten. Jedes Niveau in dieser Hierarchie repräsentiert eine Ganzheit, ein organisiertes dynamisches System, und jedes System weist Qualitäten und Beziehungen auf, die für dieses Organisationsniveau typisch sind. Nichts existiert isoliert und jedes System wird durch die Systeme beeinflusst, von denen es Teil ist. Alle Ebenen der Organisation sind miteinander verbunden, was dazu führt, dass Änderungen auf einer Ebene auch Änderungen auf anderen Ebenen bewirken.

Ein Mensch, sein Erleben und Verhalten wird als ein Ganzes, eine Ganzheit betrachtet, es gibt keine Trennung zwischen Psyche und Soma (George L. Engel, 1976). Er ist aus Subsystemen zusammengesetzt und diesen Subsystemen (z.B. Nervensystem, Organsysteme) übergeordnet.

Bestimmte Eigenschaften, die sich aus dem Zusammenspiel der Subsysteme herausbilden und nicht auf deren isolierte Eigenschaften zurückgeführt werden können, werden als emergent bezeichnet, so z.B. geistige Phänomene. Sie sind bestimmt und erzeugt von physiologischen und physikochemischen Ereignissen, zugleich aber charakterisiert durch Eigenschaften, die unterscheidbar sind von der Neurophysiologie und nicht auf sie reduziert werden können.

biosoziales Modell

Das Modell der Identität von mentalen und psychischen Prozessen, das A. Goodman (1991) aufgreift, beruht im Wesentlichen auf der Theorie von Spinoza der Identität von Leib und Seele (Gehirn und Geist), derzufolge Gehirnprozesse und Geisteszustände ein und dasselbe sind, nur verschiedene Arten des Verstehens eines an und für sich gleichen Phänomens.

Behandlung von Körper, Seele und Geist

In der klinischen Praxis gibt es keine Notwendigkeit für die Trennung zwischen physiologischer und psychologischer Behandlung. Beide sind in der Lage, Änderungen im Organismus zu erzeugen, die sowohl physischer wie psychischer Natur sind.

Die Frage ist vielmehr, unter welchen Bedingungen welcher Ansatz maximal effizient ist. (A. Goodman, J.W. Egger)


Prävention und Gesundheitsföderung

Parallel dazu entwickelte sich der Ansatz der Prävention vom biomedizinischen Risikofaktorenmodell, in dem – statistisch erhobene – Risikofaktoren als beginnende Erkrankungen aufgefasst werden, die es zu vermeiden gilt,

Biomedizinisches Risikofaktorenmodell

Statistische Zusammenhänge zwischen Risikofaktoren (z.B. Tabakkonsum, Übergewicht, Bluthochdruck) und bestimmten Erkrankungen weisen auf eine erhöhte Erkrankungswahrscheinlichkeit hin, vor allem dann, wenn mehrere Risikofaktoren zusammentreffen.

hin zu einem Programm für Gesundheitsförderung, wie es in der Ottawa-Charta der WHO 1986 festgehalten ist. Gesundheit wird nun nicht mehr vorrangig als Ziel, sondern vor allem als Mittel betrachtet, das Menschen befähigt, ihr individuelles wie auch gesellschaftliches Leben positiv und erfüllend zu gestalten.

Programm zur Gesundheitsförderung (Health Promotion)

Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozess, den Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie zu einer Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen.

Um ein umfassendes, körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können. (WHO, 1986)

Risikofaktoren, wie sie im biomedizinischen Modell definiert werden, führen zu Vorschriften, die über Appelle an Vernunft und Einsicht (gesundheitliche Aufklärung) vermittelt werden. Wissen aber führt nicht automatisch zu einem veränderten Verhalten,

5 Stufen der Verhaltensänderung

Gesagt ist nicht gehört.

Gehört ist nicht verstanden.

Verstanden ist nicht einverstanden.

Einverstanden ist nicht durchgeführt.

Und durchgeführt ist noch lange nicht beibehalten.          
(Konrad Lorenz)

auch dann nicht, wenn mit Abschreckung und Angsterzeugung vor zukünftigem Schaden an die Gefühle und Einstellungen der Menschen appelliert wird (z.B. drastische Darstellung der Auswirkungen von Rauchen).

Präventive Maßnahmen im Sinne der Ottawa-Charta betonen einen positiven Gesundheitsbegriff, der Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung ermöglicht, und zielen auf die aktive und selbstverantwortliche Beteiligung von Laien an der Herstellung gesundheitsfördernder Bedingungen. Gesundheit soll in der alltäglichen Umwelt der Menschen geschaffen werden, dort wo sie spielen, lernen, arbeiten und lieben. Gesundheitsförderung liegt damit nicht nur in der Verantwortlichkeit des Einzelnen, sondern auch in der Verantwortlichkeit sozialer Systeme, gesundheitsfördernde Bedingungen zu schaffen.

7 Kriterien der Gesundheit

ein stabiles Selbstwertgefühl,

ein positives Verhältnis zum eigenen Körper,

die Fähigkeit zu Freundschaft und sozialen Beziehungen,

eine intakte Umwelt,

eine sinnvolle Arbeit und gesunde Arbeitsbedingungen,

Gesundheitswissen und Zugang zur Gesundheits- versorgung und

eine lebenswerte Gegenwart und die begründete Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft. (WHO)


Salutogenese

Das von Aaron Antonovsky (1923 bis 1994) entwickelte Konzept der Salutogenese verzichtet völlig auf eine Definition von Gesundheit und beschreibt vielmehr ein Kontinuum mit den Polen Gesundheit/körperliches Wohlbefinden und Krankheit/körperliches Missempfinden. Völlige Gesundheit ist für Menschen dabei genau so wenig zu erreichen wie völlige Krankheit. Jeder Mensch, selbst wenn er sich als ganz gesund erlebt, hat auch kranke Anteile, und – auf der anderen Seite – solange ein Mensch am Leben ist, sind auch noch Teile an ihm gesund.

Anstatt vorrangig krankmachende Einflüsse zu bekämpfen und das Interesse auf spezifische Symptome zu richten, setzt der salutogenetische Ansatz wesentlich auf eine Stärkung von Ressourcen, um den Organismus gegen schwächende und krankmachende Einflüsse widerstandsfähiger zu machen – und auf diesem Weg zur Gesunderhaltung, aber auch zur Genesung von Menschen beizutragen.

Pathogenese: Wie entstehen Krankheiten?

Prävention: Wie kann die Entstehung von Krankheiten verhindert werden?

Salutogenese: Wie entwickelt sich Gesundheit?

Gesundheitsförderung: Wie lässt sich die Entwicklung von Gesundheit fördern?

Einen herausragenden Einfluss, ob Menschen Schwierigkeiten bewältigen oder krank werden, bildet im salutogenetischen Modell das Kohärenzgefühl (sense of coherence), die Grundhaltung des Menschen der Welt und seinem eigenen Leben gegenüber. Von dieser Grundhaltung hängt es in einem hohen Maß ab, wie gut er in der Lage ist, vorhandene Ressourcen zum Erhalt seiner Gesundheit und seines Wohlbefindens zu nutzen.

Kohärenzgefühls (sense of coherence)

Eine grundlegende Lebenseinstellung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß jemand ein alles durchdringendes, überdauerndes und zugleich dynamisches Gefühl der Zuversicht hat, dass seine innere und äußere Erfahrenswelt vorhersagbar ist und eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, dass sich die Angelegenheiten so gut entwickeln, wie man sie vernünftigerweise erwarten kann.

Eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durchdringendes, überdauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass erstens die Anforderungen aus der inneren oder äußeren Erfahrenswelt im Verlauf des Lebens strukturiert, vorhersagbar und erklärbar sind und dass zweitens die Ressourcen verfügbar sind, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens, dass diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Investitionen und Engagement verdienen.

Das Leben versteht Antonovsky als reißenden Fluss, an dem niemand sicher am Ufer entlang geht, weshalb es nicht (ausschließlich) sinnvoll ist, Menschen mit hohem Aufwand aus den Stromschnellen und Strudeln zu retten, vielmehr sollte man sich auch Gedanken darüber machen, wie jemand ein guter Schwimmer wird. Ein solcher wird man leichter, folgt man dem Ansatz der Salutogenese, wenn man die Welt als zusammenhängend und sinnvoll erleben kann. Eine solche Grundhaltung beruht darauf, die Welt „zu verstehen“, sich den Anforderungen des Lebens gewachsen zu fühlen und das Leben und damit auch seine Probleme als sinnvoll zu erleben, als Wert für den einzusetzen sich lohnt.

Gefühl von Verstehbarkeit (sense of comprehensibility)

Beschreibt die Fähigkeit eines Menschen, Eindrücke und Erlebnisse als geordnete Informationen verarbeiten („verstehen“) zu können.

Gefühl von Bewältigbarkeit (sense of manageability)

Beschreibt die Überzeugung eines Menschen, dass er geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen, wozu auch der Glaube an die Hilfe anderer Menschen oder einer höheren Macht gehört.

Gefühl von Sinnhaftigkeit (sense of meaningfulness)

Beschreibt das Gefühl eines Menschen, dass die Aufgaben und Probleme es wert sind, dass man Energie in sie investiert, sich für sie einsetzt – letztlich dass sie als (willkommene) Herausforderungen erlebt werden und nicht als Lasten, deren man sich entledigen möchte.

Kohärenzgefühl, sich selbst als Verstehender und Handelnder in einer mit Sinn erfüllten Welt zu verstehen, schafft Ressourcen und Kompetenzen für die Bewältigung von Erkrankungen ebenso wie für die Gesundheitsförderung.

Wirkmechanismen des Kohärenzgefühls

Das Kohärenzgefühl wirkt direkt auf verschiedene Systeme des Organismus (z.B. Zentrales Nervensystem, Immunsystem, Hormonsystem), indem es eine Situation als gefährlich, ungefährlich oder willkommen bewertet.

Das Kohärenzgefühl mobilisiert vorhandene Ressourcen, die zu einer Spannungsreduktion führen und damit indirekt auf die Systeme der Stressverarbeitung wirken.

Das Kohärenzgefühl schafft ein höheres Potential, sich gezielt für gesundheitsfördende Verhaltensweisen (z.B. gesunde Ernährung, Bewegung, Arztbesuch) zu entscheiden und gesundheitsgefährdende Verhaltensweisen zu vermeiden.


Ganzheitliches und reduktionistisches Handeln

Ganzheitlichkeit bedeutet die Betrachtung des Menschen als lebendiges System mit körperlicher, geistiger und seelischer Dimension, das in seinem Zusammenspiel eine Einheit bildet und eingebunden ist in ein soziales, ökonomisches und ökologisches Umfeld. Als „offenes System“ (Ludwig von Bertalanffy, theoretischer Biologe und Systemtheoretiker, 1901 – 1972) hat der Mensch (wiederum aus untereinander vernetzten und miteinander kommunizierenden Subsystemen bestehend) durchlässige Grenzen zur Umwelt hin, so dass er auf die Umwelt einwirkt und zugleich von der Umwelt beeinflusst wird.

Neben seiner Individualität ist der Mensch also immer auch ein Bezogener, der untrennbar von seinem Umfeld ist, auch im Sinne der fernöstlichen Philosophie untrennbar verbunden mit dem Kosmos, der zugleich Ursprung und Ziel seiner Bestimmung ist.

Multifaktoriell integriertes Modell

Der gesamte Organismus funktioniert als komplexes und dynamisches Kommunikationssystem, welches dem Informationsaustausch zur Regulation seines eigenen Verhaltens und des Verhaltens seiner Komponenten wie Gene, Zellen oder Organe dient. (Herbert Weiner, 1990)

Der Ganzheitlichkeit steht der reduktionistische Ansatz gegenüber, der das zu untersuchende System nicht als Ganzes mit seinen Wechselwirkungen mit dem Außen zu verstehen sucht, sondern über das Innere. Das System wird dabei künstlich in Teile zerlegt (und damit das ursprüngliche Beziehungssystem zerstört), um anschließend aus den Eigenschaften von Teilen (oder Teilen von Teilen) die Aufgaben und das Miteinander der Teile im Gesamtsystem zu verstehen.

Ausgehend vom Umgang mit Maschinen wird die reduktionistische Sichtweise auch auf lebende Systeme übertragen und der Mensch als Summe seiner Bestandteile betrachtet. Das Ganze aber, so der österreichische Philosoph Christian von Ehrenfels (1890), ist mehr als die Summe seiner Teile. Eine umfassende Erklärung von Phänomenen ist deshalb – so wichtig für manche Fragen und in manchen Bereichen (z.B. Notfall- und Intensivmedizin oder Chirurgie) der Reduktionismus auch ist – auf dem reduktionistischen Weg deshalb nicht zu erreichen.

Reduktionismus

Die reduktionistische (analytische) Herangehensweise versucht ein System über das Innen, über die Eigenschaften von Teilen (oder Teilen von Teilen) zu verstehen. Das ursprüngliche Beziehungssystem (Ganzheit, Verbundenheit) wird dabei zerstört und nicht berücksichtigt.

Als aristotelische Kausalprinzipien akzeptiert der Reduktionismus nur die causa materialis (Materialursache) und die causa efficiens (Wirkursache).

Ganzheitlichkeit

Die ganzheitliche (systemische) Herangehensweise versucht ein System über sein Verhalten als Ganzheit zu verstehen. Über die inneren Wechselwirkungen hat man dadurch aber nur hypothetische Vorstellungen.

Als Kausalprinzipien akzeptiert die Ganzheitlichkeit zusätzlich zur causa materialis (Materialursache) und der causa efficiens (Wirkursache) auch die causa formalis (Formursache) und die causa finalis (Zweckursache).

Im ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit wird die Vorstellung von der Macht äußerer Eingriffe zugunsten komplexer, sich gegenseitig beeinflussender Lebens-Zusammenhänge aufgegeben. Das Symptom bildet nur einen Teil des gesamten Musters (Disharmoniemuster). Der ganzheitlichen Medizin geht es daher weniger um einen Eingriff von außen, als vielmehr um eine innere Steuerung, um die Wiederherstellung eines natürlichen Gleichgewichtszustandes.


Eine Krankheit haben oder krank sein

Ein weit verbreitetes Verständnis von Erkrankungen ist, dass es zum einen den gesunden Menschen gibt und zum anderen die krankhafte Veränderung. Krankheiten haben so kaum etwas mit uns als gesunde Menschen zu tun. Dies ist unter Umständen durchaus tröstlich, denn während wir insgesamt gesund sind, ist nur ein (kleiner) Teil von uns krank. Wir „haben“ eine Krankheit.

Krankheiten sind Feinde, die von außen kommen, uns bekämpfen und im Krankheitsfall überwältigen. Sie werden von der Medizin „benannt“, und die Diagnostik steckt das Handlungsfeld ab, damit gegen den Feind die geeigneten Strategien und Waffen entwickelt und eingesetzt werden können. In diesem reduktionistischen Zugang der wissenschaftlichen Medizin spiegelt sich zugleich auch die Reduktion des kranken Menschen selbst. Er fühlt sich durch seine Erkrankung reduziert, gestört in seinen „normalen“ Lebensprozessen, nicht mehr „ganz“. Er empfindet Schmerz, fühlt sich „entfremdet“, „außer sich“ und trennt sich, so Peter Heintel (1992), gleichsam auf in ein Subjekt, das sich seiner ehemaligen Gesundheit erinnert, und in einen „objektiv“ gestörten „körperlichen“ Zustand. Wegen seiner körperlichen Störung sucht er Hilfe und ist offen für Interventionen von außen.

Andererseits sind wir krank, fühlen wir uns als ganze Person krank, selten nur in Teilen. Durch die Trennung zwischen uns als gesunde Menschen und der Krankheit verhindern wir aber die Krankheit als eigene zu akzeptieren, als besondere Form und Ausdruck unserer Subjektivität, als Hinweis auf uns selbst. Dauerhaft, so kritisieren die Anhänger ganzheitlicher Ansätze deshalb, kann niemand von „außen“ geheilt werden. Zur Heilung gehört die Hereinnahme der Krankheit in uns selbst, in Körper, Seele und Geist.

Eine Krankheit haben (reduktionistische Betrachtung)

Krankheiten sind Feinde, die von außen kommen, uns bekämpfen und im Krankheitsfall überwältigen.

Die Medizin diagnostiziert die Erkrankung, benennt sie, steckt das Handlungsfeld ab und setzt geeignete Strategien und Waffen gegen den Feind ein.

Krank sein (ganzheitliche Betrachtung)

Krank ist der Mensch immer als Ganzes. Die Krankheit ist eine besondere Form und Ausdruck seiner Individualität. Das Symptom stellt nur einen Teil des gesamten Musters dar.

Ziel der Behandlung ist die Regulation der Körperfunktionen, die Wiederherstellung einer natürlichen Balance.

Der ganzheitliche Ansatz geht davon aus, dass auch jede Erkrankung Ausdruck unserer Individualität in ihren vielen Erscheinungsformen ist. Gesund sein ist ein Zustand, krank sein ein anderer. Und so wie es „leichtere“ und „schwerere“ Krankheiten gibt, gibt es auch „gesündere“ und „weniger gesunde“ Lebenszustände, die ein Spektrum von Funktionstüchtigkeit bis hin zu erfülltem Glücksempfinden aufweisen.


Individuelle und kollektive Schicksalsbewältigung

Naturwissenschaftliche Medizin gilt weltweit. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, von kulturellen, sozialen und religiösen Normen unabhängige Parameter, Befunde und Diagnosen zu erstellen. Und entsprechend wird eine so diagnostizierte Erkrankung standardisiert (unabhängig vom gesellschaftlichen und sozialen Umfeld) behandelt. Im Unterschied dazu war und ist jede traditionelle Medizin eng mit der jeweiligen Kultur verbunden, eingebettet in ihre Vorstellungen und Werte. Auf diesen Kontext kann und will sie nicht verzichten, weil „Krankheitsursachen“ in mannigfachen sozialen und biologischen Bedingungen anzusiedeln sind.

Krankheit und Leid, die aus unseren biologischen Bedingungen herrühren, gehören kollektiv zum Wesen des Menschen, zugleich aber sind sie auch das Schicksal jedes Einzelnen. Das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld bestimmt dabei das Verhältnis zwischen diesen beiden Polen. So gibt es mehr „Wir-bezogene“, „kollektiv ausgerichtete Kulturen“ mit weitgehender Entlastung von der Selbstbewältigung des Schicksals auf der einen Seite des Kontinuums und auf der anderen Seite „Ich-bezogene“ Kulturen, in denen die Person, die Individualität eine wesentlich größere Rolle spielt. Hier werden bedeutsame Teile an das Ich delegiert, womit das Individuum aber viel von seinem gesellschaftlichen Rückhalt und seiner kollektiven Einbindung verliert. Das Leid, das allen zukommt, muss so vor allem allein bewältigt werden.

Wir-bezogene Kulturen

Entlasten das Individuum weitgehend von der Selbstbewältigung seines Schicksals durch gesellschaftlichen Rückhalt und kollektive Einbindung.

Ich-bezogene Kulturen

Dem Individuum wird eine wesentlich größere Verantwortung für sein Schicksal übertragen. Das Leid muss von allen weitgehend allein bewältigt werden.

Letztlich gibt es keine Anleitung, kein Rezept, um diesen Widerspruch in uns zu bewältigen. Der Riss, der mitten durch uns hindurchgeht, muss jeweils von uns selbst und individuell bewältigt werden. Krankheit wurzelt, so betrachtet, auch in schlechter oder misslungener Bewältigung dieser Differenz. Hohe Anforderungen der Individualisierung und Differenzierung führen zu einer potentiellen Überforderung des Menschen und fördern auf diese Weise die Entstehung von Erkrankungen.

Behandlung bedeutet deshalb auch kommunikative Arrangements zu setzen, in denen der Behandler mitleben, mitleiden, sich mitfreuen und Anteil nehmen kann und damit Heilungs- und Gesundungsprozesse in Gang setzt. Das Ziel der Interventionen ist es, das Individuum, dessen Leid darin besteht, seinen Anschluss an die größere Wirklichkeit und damit an den kollektiven Rückhalt der Gesellschaft verloren zu haben, wieder zu ihr zurückzuführen.


Ich und Es und Ich und Du. Formen der Begegnung

Immer sind wir Teil eines größeren Ganzen, eingebettet in die sozialen und gesellschaftlichen Strukturen, die uns umgeben. Diesen Zusammenhang und Zusammenhalt verlieren wir allerdings umso mehr, je mehr wir autonome Gestalter unseres Schicksals werden, je mehr wir Individuen werden, die wir uns selbst verwirklichen können und letztlich auch verwirklichen müssen. Damit sind wir in eine Dialektik geworfen, die von Martin Buber (1923) als Ich-Es- und Ich-Du-Beziehung beschrieben wird.

Ich-Es bezeichnet die Beziehung zwischen einem Menschen und den Objekten, die ihn umgeben. Der Mensch erfährt auf diese Weise die Welt, schafft sich Wissen über Dinge und Lebewesen. Er erfährt etwas über sie und geht mit ihnen um, nimmt aber innerlich nicht Anteil an ihnen, ist von den Objekten seiner Erfahrung getrennt.

Ich-Du hingegen beschreibt die Welt als Begegnung. Das Gegenüber ist kein Objekt, sondern man steht in unmittelbarer Beziehung mit ihm. Die Beziehung zum Du ist unmittelbar, nichts steht zwischen den Beiden, die sich begegnen.

Ich-Es-Beziehung

Beschreibt die Welt des Wissens, die Welt der Dinge, Objekte und Lebewesen, die uns umgeben. Sie hat Zusammenhang in Raum und Zeit, ist überschaubar und wir können planend und handelnd auf sie einwirken.

Ich-Du-Beziehung

Beschreibt die Welt der Begegnung, der unmittelbaren Beziehung mit dem Gegenüber. Nichts sonst ist gegenwärtig, es gibt nur die Gegenwart, das Sein.

Ich-Du ist Sein, ist Gegenwart, Ich-Es ist Erfahrung, ist Vergangenheit. Dem Sein begegnen wir, wenn es uns in diesem Augenblick möglich ist, als unserem Gegenüber ganz und ausschließlich. Nichts sonst ist gegenwärtig, doch können wir in dieser Gegenwart nicht auf Dauer leben. Die Begegnung wird wieder Erfahrung, wird Teil unserer Welt des Wissens, die Welt der Objekte – eine Welt, die einigermaßen zuverlässig ist, Zusammenhang in Raum und Zeit hat und überschaubar ist. Wir können in ihr handeln und auch planend und handelnd auf sie einwirken. Problematisch ist diese Form der Welt zu begegnen nur dann, wenn sie das Leben zu dominieren beginnt und wir nicht mehr wirklich in Beziehung treten, nicht mehr an einer unmittelbaren Wirklichkeit teilhaben oder teilhaben können.


Die Traditionelle Chinesische Medizin als ganzheitliche Alternative

Angesichts der Erfahrung menschlicher Verletzlichkeit in einer Zeit, in der Chemie, Physik und Technik in den schrecklichen Verdacht gerieten, nicht geeignet zu sein, die anstehenden Probleme der Menschen zu lösen, ja geradezu im Gegenteil zerstörerisch zu wirken, wurde das ausgehende 20. Jahrhundert zunehmend von einer Sehnsucht nach Ganzheitlichkeit bestimmt. Energiekrisen, Naturzerstörung, Chemie in den Lebensmitteln und aggressive Methoden in der Medizin führten zu einer zunehmenden Hinwendung zu naturheilkundlichen Methoden, die den Mensch als Ganzheit, natürlich eingebunden in die ihn umgebende Welt, wieder in den Mittelpunkt stellen – Sinn vermittelnd wirken und sich einer „kalten Apparatemedizin“ entgegenstellen.

In der westlichen Medizin hat sich die Technik zunehmend zwischen Arzt und Patient geschoben. Und obwohl damit ein ungeheurer Fortschritt im Erkennen von Erkrankungen verbunden ist, vermissen viele Menschen den Arzt, der sie persönlich behandelt und dabei auch ihr persönliches Schicksal in Betracht zieht. Der Arzt ist vielfach zu einem Handwerker geworden, der Infusionen gibt, Medikamente verschreibt und Untersuchungen verordnet. Von der Körperlichkeit und nicht selten auch von der Gefühlswelt seiner Patienten hat er sich damit nicht selten entfremdet. Wurde ein Patient vor nicht allzu langer Zeit in der Untersuchung noch ganz selbstverständlich berührt, so geht es heute viel mehr darum, Befunde zu lesen und Laborwerte zu interpretieren. Der direkte Kontakt zwischen Arzt und Patient trat zunehmend in den Hintergrund. Die daraus resultierende „Apparatemedizin“ aber macht vielen Menschen Angst und fördert ihr Streben nach einer Alternative. Ganzheitlichkeit wurde so nicht nur zu einem Schlüsselbegriff der Esoterik und des New Age, sondern auch der Alternativmedizin, der Gesundheitsvorsorge und der Freizeitindustrie, die den Menschen das Gefühl geben (wollen), in ihrer Gesamtpersönlichkeit angesprochen zu werden.

Esoterik

Bedeutet wörtlich „das innere, verborgene oder geheime Wissen“ und wird heute meist als Sammelbegriff für ein breites Spektrum von Weltanschauungen verwendet, die die spirituelle Entwicklung des Individuums betonen.

Gemeinsam ist allen diesen Lehren, dass sie die Existenz von Phänomenen bejahen, die außerhalb der nachweisbaren Wissenschaft liegen.

New Age

Der Begriff des New Age wurde um 1970 im Umfeld der Hippie-Bewegung allgemein bekannt und wurde zunächst synonym mit dem Begriff des „Wassermannzeitalters“ verwendet. Die damit ursprünglich verbundenen astrologischen Vorstellungen traten dann allerdings bald in den Hintergrund. Heute steht New Age oft synonym für Esoterik.

Als eine Alternative zur technischen und damit unpersönlichen und entfremdet erlebten Medizin bietet sich die Traditionelle Chinesische Medizin an. In ihr drängt sich nichts Unpersönliches zwischen Arzt und Patient. Die körperliche Befundung und manuelle Behandlung sind Teil der traditionellen Ausbildung und es werden natürliche Behandlungsmethoden und Produkte angewendet. Zugleich auch gibt die fernöstliche Medizin wieder Orientierung in einer immer unüberschaubarer gewordenen Welt. Gesund zu werden bedeutet im Verständnis der TCM in einem nicht zu vernachlässigbaren Ausmaß auch, seine Einstellung zum Leben zu verändern. Es geht darum zu verstehen, wie die bisherige Lebensweise und die bisherige Lebenseinstellung zu genau jenem misslichen Zustand geführt haben, weshalb man den Arzt jetzt aufsucht. Heilung braucht deshalb nicht nur medizinische Maßnahmen, sondern oft auch eine Veränderung des Lebensstils, des Umgangs mit sich und der Welt.


Ganzheitlichkeit im Osten, Individualismus im Westen

Alles, auch jede medizinische Anwendung, ist immer in einen spezifischen Kontext eingebettet und von gesellschaftlichen, kulturellen und weltanschaulichen Bedingungen geprägt. So wird im traditionellen fernöstlichen Gesundheitsverständnis Krankheit weniger als individuelles Schicksal verstanden, vielmehr als familiäre Angelegenheit für die sich die gesamte Familie die Verantwortung teilt. Im Westen hingegen ist das Leben durch ein deutlich größeres Ausmaß an Individualität geprägt, weshalb Krankheit und Gesundheit auch wesentlich stärker in die Eigenverantwortlichkeit der Menschen fallen.

Das Konzept des individuellen, freien Selbst hat seine Wurzeln im antiken Griechenland, doch selbst noch in der Renaissance wurde das Selbst als eingebettet in eine vorgegebene Ordnung verstanden, geprägt von der Tradition und kontrolliert von äußeren Autoritäten. Der Einzelne wurde keineswegs als autonom angesehen, noch wurde ihm die Freiheit des Ausdrucks und der Selbstverwirklichung zugestanden. Das Ziel der individuellen Verwirklichung, das die Menschen unserer Kultur und Zeit heute zunehmend prägt, ist eine relativ neue und vor allem auf die westliche Welt bezogene Zeitströmung, in der Menschen nicht mehr so sehr nach äußeren Moralvorstellungen leben, sondern aus innerer reflexiver Organisation des eigenen Selbst.

Individualismus

Process of global redefinition of persons as complete wholes rather than as subordinate parts of localised groups or communities. (R. Robertson, 1962)

Während Gesundheit und Krankheit in China und Japan in einem hohen Maß eingebettet sind in soziokulturelle Mitverantwortlichkeiten innerhalb der sozialen Beziehungen und jede Heilung daher auf den Beziehungen zum Behandler, zu den Arbeitskollegen und zur Familie beruht, tritt – als Folge des stärkeren Individualismus im Westen – die Arbeits- und familiäre Welt zugunsten der Arzt-Patient-Beziehung in den Hintergrund. Und zugleich liegt damit die Verantwortung für Gesundheit, Krankheit und Heilung in einem deutlich größeren Ausmaß beim Einzelnen.

Ganzheitliches Menschenbild des New Age

A bounded, unique more or less integrated motivational and cognitive universe, a dynamic centre of awareness, emotion, judgement and action organised into a distinctive whole and set contrastively both against other such wholes and against its social an natural background. (C. Geertz, 1984)


Placebo und Placebo-Wirkungen

Als Placebo kann man alles betrachten, was einen positiven Effekt auf das Befinden hat, ohne dass dies auf einem geprüften medizinischen Wirkstoff oder einer überprüften Methode basiert. Jede medizinische oder psychologische Zuwendung vermag die Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren. Erwartungshaltungen können, wie sich heute auch neurophysiologisch nachweisen lässt, Mechanismen in Gang bringen, die jenen ähneln, die von Arzneimitteln aktiviert werden, bewirken also nachweisbare, reale Veränderungen im Körper. Und selbst wissenschaftlich nachweisbare pharmakologische Wirkungen können durch den Placebo-Effekt in ihr Gegenteil verkehrt werden. So wurde in einer Studie schwangeren Frauen gesagt, sie erhielten ein Mittel gegen ihre Übelkeit, was dazu führte, dass die meisten Frauen sich dadurch deutlich besser fühlten – in Wirklichkeit hatten sie jedoch ein Mittel erhalten, das zu Erbrechen führt.

Placebo bedeutet „ich werde gefallen“ und ist das Anfangswort der römisch-katholischen Seelenandacht für Verstorbene: „Placebo Domino in regione vivorim“ (ich werde dem Herrn wohlgefällig sein im Lande des Herrn). Im 12. Jahrhundert nannte man diese Handlung kurz Placebo, und im 14. Jahrhundert hat sich die Bedeutung in eine abschätzige gewandelt: So schimpfte man nun Kriecher und Speichellecker. Vermutlich rührte das vom Berufsstand der Placebo-Kantoren her, die den Trauergesang gegen Geld vortrugen.

Als das Wort in die Medizin einging, behielt es seinen abfälligen Beiklang und man bezeichnete damit – so eine Definition von 1811 – alle Arten von Arzneien, die mehr zum Zwecke der Gefälligkeit als des therapeutischen Nutzens verschrieben werden.

Viele Studien belegen heute, dass es oftmals nicht die Methode der Behandlung ist, sondern die Behandlung an sich, die zu Heilung und Besserung führt. Bekannt geworden sind in jüngerer Zeit die Erfahrungen des Orthopäden Bruce Moseley (Veterans Affairs Medical Center in Houston, Texas), der Patienten mit mittelschwerer Knie-Arthrose – ausgewählt nach dem Zufallsprinzip – entweder arthroskopisch operierte (Glätten rauer Oberflächen, Entfernen von lockerem Gewebe und Spülen des Kniegelenks) oder eine Scheinoperation durchführte – mit dem Ergebnis, dass sich keine Unterschiede im Behandlungserfolg zeigten.

Schon der Anblick von Tabletten wirkt auf Patienten. Blaue Pillen haben eine einschläfernde und gelbe eine anregende Wirkung. Rote Tabletten wirken auf das Herz. Generell wirken Markentabletten besser als Generika (nachgeahmte Produkte). Eine viermalige Einnahme ist effektiver als eine nur zweimalige, und größere Kapseln versprechen eine stärkere Wirkung als kleinere. Noch stärker als Pillen und Zäpfchen wirken Spritzen und chirurgische Eingriffe. Sogar ein nicht eingeschalteter Herzschrittmacher ist deutlich effektiver als Placebo-Pillen.

Bei den meisten Erkrankungen, so wird geschätzt, trägt der Placebo-Effekt zu 30 bis 40 Prozent zum Nutzen medizinischer Maßnahmen bei. Elaine und Arthur Sharipo vermuten, dass die Fähigkeit, positive Erwartungen in Genesung umzusetzen, sich im Laufe der Evolution im Erbgut der Menschen verankert hat. Wer mit dieser Fähigkeit geboren wurde, hatte einen Überlebensvorteil, denn Interaktionen zwischen Patient und Heiler können die Selbstheilungskräfte sehr effektiv wecken.

Besonders wirksam scheint aus dieser Sicht, so der Spiegel im Juni 2007, das Procedere der Akupunktur, um die Selbstheilungskräfte des Menschen zu beeinflussen. Ted Kaptchuk und Kollegen von der Harvard Medical School in Boston verglichen Scheinakupunktur („falsche“ Punkte und kein wirklicher Stich) mit Placebo-Tabletten bei schmerzhaften Sehnenscheidenentzündungen. Dabei zeigten sich die falschen Nadeln erheblich effektiver als die Placebo-Medikation.

Offensichtlich ist die Wirkung von Placebos an die – durchaus unbewussten – Erwartungen des Patienten gekoppelt. Glaubt er nicht an eine Wirkung, so hilft die Scheinmedikation, die Scheinbehandlung nicht. Ferner geht die Wirkung eines Placebos in einer bestimmten Situation nur in eine definierte Richtung – in die Richtung der Erwartungen. Die Wirkung von Placebos beruht aber nicht nur auf dem Vertrauen in die Autorität des Arztes, sondern auch auf früheren positiven Erfahrungen oder der rationalen Nachvollziehbarkeit einer Behandlung (auch dann, wenn sie nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht). Es ist allerdings ein Fehlglaube, dass Placebos keine Nebenwirkungen hätten. So klagen PatientInnen durchaus über typische Nebenwirkungen. Sogar Entzugserscheinungen lassen sich beim Absetzten der Scheinmedikamente beobachten.

Auffällig ist, dass Placebos am zuverlässigsten bei Leiden helfen, auf deren Symptome sich Stress direkt auswirkt. Das gilt über Depressionen und Angstzustände hinaus auch für Schmerzen und andere Beschwerden, die sich bei Aufregung verschlechtern, wie beispielsweise Asthma oder mäßig erhöhter Blutdruck. Hier könnte die Wirkung des Placebos, so wird vermutet, auf der Minderung der Besorgnis um die Erkrankung beruhen. Nachweislich nämlich beeinträchtigen Stress-Situationen das Immunsystem, es erhöht sich der Cortisol-Spiegel im Blut und die Abwehrkraft sinkt.

Aus der Sicht der Komplexitätstheorie nimmt Information eine zentrale Rolle im Prozess der Selbstorganisation komplexer Systeme ein, wobei Information sowohl über Materie (z.B. Infusion, Medikament, chirurgischer Eingriff) als auch über Energie (z.B. optische oder akustische Wellen, taktile oder geschmackliche Signale) vermittelt wird. Für das komplexitätstheoretische Verständnis von Placebos muss das Ursache-Wirkungsprinzip (eine bestimmte Ursache hat eine immer gleiche Wirkung) erweitert werden mit der Bedeutung, die der jeweiligen Ursache erteilt wird.

Jedes Lebewesen erteilt allem, was es in seiner Umgebung wahrnimmt, und besonders jedem Zeichen (Information), das es aus der Konstruktion seiner Lebenswelt heraus aktiv oder passiv aufnimmt, eine Bedeutung. Und diese Bedeutungserteilung, d.h. Interpretation der Zeichen, ist ein grundlegender Vorgang, der über die Entfaltung einer Wirkung entscheidet.

Jede zwischenmenschliche und therapeutische Intervention und die dadurch ausgelöste Wirkung enthalten sowohl einen physiko-chemischen Anteil als auch einen Anteil, der sich durch die Bedeutungserteilung ergibt.

Eine starke und anhaltende Wirkung ergibt sich deshalb vor allem dann, wenn die physiko-chemische Wirkung und die Wirkung der Bedeutungserteilung in die gleiche Richtung weisen.


Shiatsu. Ursprung und Wesen

Shiatsu und die Traditionelle Chinesische Medizin entstammen dem gleichen weltanschaulichen Hintergrund. Shiatsu hat sich aus der Traditionellen Chinesischen Medizin, insbesondere aus Tuina, der manuellen Therapie innerhalb der TCM, herausentwickelt. Trotz seiner noch relativ kurzen Geschichte – seine Geburtsstunde liegt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Japan – hat Shiatsu bereits viele Entwicklungen und Veränderungen erfahren. Zunächst in Abgrenzung zur Tuina entstanden und mit einer deutlichen Hinwendung und Einbeziehung moderner westlicher Behandlungskonzepte, kam es später zu einer verstärkten Reintegration von Ansätzen fernöstlicher Medizin. Und mit der Ausbreitung der Methode nach Amerika und Europa ergaben sich weitere Entwicklungen, so dass man heute, nach einer etwa dreißigjährigen Geschichte von Shiatsu in Europa durchaus von einem europäischen Shiatsu sprechen kann, das sich in manchen Aspekten von dem in Japan unterscheidet.


Shiatsu

Eine eigenständige, in sich geschlossene Form der manuellen, ganzheitlichen Körperarbeit.

Shiatsu hat seinen Ursprung in fernöstlichen Heilmethoden, deren Grundlage die Vorstellung von der Existenz einer allen Lebewesen innewohnenden, dynamischen Lebensenergie (Ki, Qi) ist. Shiatsu ist dabei auch von westlichen Gesundheitskonzepten beeinflusst, die sich an einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen orientieren. Gesundheit und Wohlbefinden eines Menschen in seiner Körper-Seele-Geist-Einheit sind Zustände harmonisch-dynamischer Ausgewogenheit. Dies zeigt sich im gleichmäßigen Fließen und der ausgeglichenen Verteilung der Energie in den Meridianen und im gesamten Organismus. (Österreichischer Dachverband für Shiatsu)

Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Shiatsu zu anderen Methoden ist seine Begegnungsqualität, in der der Empfangende Partner der Behandlung ist und auf vielfältige Weise die Behandlung gleichsam dialogisch mitbestimmt. Ausgedrückt wird dieser Zugang durch die Betonung des Hara (japanisches Wort für Bauch) als Zentrum der Lebensenergie und des inneren Wissens.

Damit die Shiatsu-Begegnung in gewünschter Weise stattfinden kann, ist Achtsamkeit und Selbstgewahrsein auf Seiten des Shiatsu-Praktizierenden eine unabdingbare Voraussetzung. Ausgebildet werden diese Fähigkeiten durch Schulung der Wahrnehmung wie auch durch Selbsterfahrung innerhalb der Ausbildung.

Allgemeine Wirkungen, sieht man von den spezifischen Wirkungen der Behandlung von Tsubos (Akupunkturpunkten) und Meridianen ab, liegen unter anderen in der Möglichkeit, das Vertrauen des Klienten zu sich und zur Welt zu stärken, Loslassen und Entspannen zu fördern und über die Stärkung des inneren, psychophysischen Kerns die Grundlage für die Erhaltung physischer und psychischer Gesundheit zu unterstützen.


Vertrauen stärken und Loslassen lernen

Die frühesten Erfahrungen der letztlich allumfassenden Verbundenheit mit der Welt machen wir im Mutterleib. In dieser Lebensphase erwerben wir die Basis des, um mit Bela Grunberger (1976) zu sprechen, „erhebend-erhabenen“ Gefühls, in dem es keine Bedürfnisse und nichts außerhalb oder getrennt von uns gibt. Mit der Geburt kommt es zu einer radikalen Veränderung. Wir werden in eine „unzulängliche“ Welt hinein geboren, in eine Welt voller Bedürfnisse, Notwendigkeiten und Schwierigkeiten. Allein aus uns heraus sind wir unfähig zu überleben. Es bedarf der Fürsorge und Bemutterung, die aber nie in gleicher Weise vollkommen ist wie die vorgeburtliche Existenz, nie vollkommen sein kann, weil das nachgeburtliche Leben durch Bedürfnisspannung und -befriedigung geprägt ist.

Sind unsere frühen Erfahrungen hinlänglich gut, erleben wir unser Umfeld versorgend, verlässlich und einfühlsam. Wir gewinnen Vertrauen zur Welt und emotionale Einbindung in die Welt, werden Teil der Welt. Wenn wir uns aber in unserem Umfeld ungeborgen fühlen, werden wir der Welt gegenüber misstrauisch und ablehnend.

Vertrauen ist akzeptierte Abhängigkeit.   
(Dietrich Rössler)

Diese grundlegende Einbindung in die Welt erfolgt sehr früh in unserem Leben, zu einem Zeitpunkt, in dem wir noch nicht über die Möglichkeiten der Sprache verfügen. Wir machen diese Erfahrungen vor allem körperlich, im direkten Kontakt mit unseren Betreuungs- und Bezugspersonen. Und diese frühen Erfahrungen werden in der körperlichen Berührung des Shiatsu angesprochen. Stimuliert, wenn eine entsprechende Basis besteht, und gefördert, wenn Defizite vorhanden sind. Achtsam umsorgt zu werden, willkommen zu sein und Teil einer Welt zu sein, die wohlwollend und lebenswert ist, kann so – ganz nonverbal – erfahren werden.

Entsprechend angewendet stärkt Shiatsu die Erfahrung bedingungslos angenommen und unterstützt zu werden. Sich fallen lassen zu können, sich anzuvertrauen, ist eine Qualität, die Menschen in Notsituationen – und um solche handelt es sich vor allem bei schweren und chronischen Erkrankungen – geradezu „verlernt“ haben. Eine Erfahrung, die sie auch kaum mehr machen, weder in ihrem sozialen Umfeld, das häufig überfordert ist, noch in der Behandlungssituation, die vielfach durch invasive und aggressive Behandlungsmethoden gekennzeichnet ist. So hilfreich eine Nadelbehandlung beispielsweise auch ist, so ist sie dennoch immer auch eine aggressive Handlung – und nicht jeder Patient hat die Kraft und die entsprechende Verfassung (auch Vorerfahrung), diesen „Angriff“ positiv und unterstützend zu erleben.

Nicht nur in der Apparatemedizin, auch in der Behandlung durch den TCM-Arzt ist der Patient defacto häufig weniger Partner als vielmehr Objekt, Objekt der Untersuchung und Objekt der Behandlung – im schlimmsten Fall erlebt er sich als Opfer. Menschen, denen es an positiver Ich-Du-Beziehung im Sinne Bubers fehlt, an einem unmittelbar positiven Zugang zur Welt (einem positiv-erfüllten Sein mit der Welt), profitieren auch in der Weise von Shiatsu-Sitzungen, dass sie hier weniger Objekt als vielmehr Partner sind – und diese Erfahrung hilft ihnen auch in der Annahme und Verarbeitung ärztlicher Behandlungen.


Unmittelbare Begegnung

Rene Spitz hat schon in den Fünfziger-Jahren des 20. Jahrhunderts aufgezeigt, dass die primäre Art und Weise des Säuglings die Welt zu erfahren und mit ihr zu kommunizieren anders ist, als wir sie (im Normalfall) als Erwachsene kennen. Diese frühe Form der Wahrnehmung und Kommunikation bezeichnet Spitz als coenästhetisch. Hier stehen, ähnlich wie in der Shiatsu-Begegnung, Haut- und Körperkontakt, Schwingung, Rhythmus, Spannung und Entspannung, Körperhaltung, Temperatur und Stimmlage im Vordergrund – letztlich die glatte (unwillkürliche) Muskulatur und das Autonome Nervensystem.

Im Laufe unserer Entwicklung allerdings tritt die coenästhetische Erlebniswelt in den Hintergrund, die unterscheidende (diakritische) Wahrnehmung mit ihrer Betonung der quergestreiften (willkürlichen) Muskulatur, des Zentralen Nervensystems, des logischen Denkens und der optischen Wahrnehmung wird dominierend. Dennoch, wenngleich vielfach verborgen, bleibt die coenästhetische Welt als innerer Bereich des Erlebens von entscheidender Bedeutung für unser Leben.


Stärkung des inneren Kerns

Shiatsu hat das Potential, den inneren, psychophysischen Kern der behandelten Menschen zu stärken. Wärme, Rhythmus und Konstanz bilden dabei, so der Ansatz von G. Bartl (1984, 1989), die wesentlichen Qualitäten, die in der frühen Lebenszeit des Säuglings aufgefüllt werden müssen, damit eine solide Grundlage für die harmonische Reifung und Entwicklung gegeben ist – und damit auch gute Voraussetzungen für eine psychische und physische Gesundheit.

Durch seinen körperlich-emotionalen Zugang stärkt Shiatsu Wärme (durch die zugewandte und achtsame Berührung), Rhythmus (durch den Rhythmus der Arbeit, die Stärkung körpereigener Rhythmen) und Konstanz (durch das im Kern gleich bleibende Setting und die gleichbleibend achtsame Behandlung). Damit unterstützt man mit Shiatsu – ganz unspezifisch und zugleich doch sehr spezifisch – selbstregulative Vorgänge, die Gesundheit und Entwicklung fördern.

Wärme

Die adäquate Erfahrung von Wärme (weder Mangel noch Überangebot), die die Mutter (Bezugsperson) aufgrund ihrer Liebe und Zuneigung vermittelt, lässt das Kind zugleich auch emotionale Wärme und Geborgenheit erfahren und bildet die frühe Basis für Vertrauen in die Welt und für Genussfähigkeit im späteren Leben.

Rhythmus

Ein verlässlicher und adäquater Rhythmus gibt Sicherheit und Halt und ermöglicht das Wahrnehmen von Form und Grenzen, insbesondere auch die Wahrnehmung der eigenen Körpergrenzen. Rhythmus und Wärme zusammen schließlich, gleichsam Form und Inhalt, bilden die Basis für das Gewahrwerden und Erleben des eigenen Körpers und dessen innere Vorstellung.

Konstanz

Konstanz oder Verlässlichkeit festigt die Erfahrungen von Wärme und Rhythmus, macht sie im Inneren beständig. Urvertrauen entwickelt sich und bildet die stabile Grundlage der weiteren Entwicklung. Letztlich ermöglicht das Erleben von Beständigkeit, komplexe emotionale Beziehungen (Bindungen) einzugehen und positiv zu bewältigen.


Shiatsu: Ergänzung und Unterstützung

Als ergänzendes und unterstützendes Angebot zur ärztlichen Behandlung kann ein Klient auf vielfache Weise von Shiatsu-Behandlungen profitieren.

  • Die Anregung des Flusses des Qi durch die Arbeit an Meridianen und Tsubos (Akuupunkturpunkten) unterstützt die Wirkung von Behandlungen und gleicht Dysbalancen im Organismus aus.
  • Die achtsame und unterstützende Berührung hilft dem Klienten, wieder Ruhe zu finden und Vertrauen zur Welt – insbesondere wenn die medizinischen Behandlungen invasiv und mitunter auch noch durch mangelndes Einfühlungsvermögen begleitet sind.
  • Angenehm erlebte Berührungen bewirken – und das gilt nachweislich für Massagen –, dass das Hormon Oxytocin ausgeschüttet wird und nachfolgende Stressreaktionen ruhiger und entspannter bewältigt werden. Auch steigen die Werte des Stresshormons Cortisol weniger an. Rückwirkend stabilisiert die Ausschüttung von Oxytocin auch jene Bindungen, die zu seiner Produktion geführt haben, indem es die Bereitschaft erhöht, Vertrauen zu schenken.
  • Die achtsame und unterstützende Berührung in der Shiatsu-Behandlung hilft dem Klienten, über eine Entspannung, Harmonisierung und Vitalisierung seines Körpers zu einem guten Körpergefühl und einem „gesunden“ Verhältnis zu seinem Körper zurückzufinden, denn gerade das Verhältnis zum eigenen Körper ist bei schweren Erkrankungen wie z.B. Krebs oft massiv beeinträchtigt, ist der Körper doch unberechenbar und noch dazu der Ort, an dem sich über lange Zeit unbemerkt und unmerklich der „Feind“, die Krankheit, ausbreiten konnte.
  • Shiatsu fördert das Verständnis des Klienten von sich und seinem Körper und damit die aktive Gesundheitsvorsorge über die Erfahrung von harmonischen Körperfunktionen.
  • Shiatsu hilft dem Klienten, über die einfühlsame Vermittlung von Wärme, Rhythmus und Konstanz seinen inneren, psychophysischen Kern zu stärken und schafft dadurch innere Stärke und ein größeres Potential, den Herausforderungen des Lebens ebenso wie einer Erkrankung und ihrer Behandlung zu begegnen.


Konkurrenz und vermeintliche Konkurrenz

In Japan ist Shiatsu Teil des Gesundheitssystems und versteht sich als Methode durchaus geeignet, Erkrankungen zu behandeln. In Österreich jedoch ist Shiatsu ein klar definierter gewerblicher Beruf. Seine Gesundheit fördernde und Krankheiten vorbeugende Wirkung beruht auf einem ressourcenorientierten Gesundheits- und Krankheitsverständnis. Nicht die Behandlung von Erkrankungen ist das Ziel von Shiatsu, sondern die Stärkung gesunder und Gesund erhaltender Aspekte, von Ressourcen im Sinne der Salutogenese.

Naturgemäß gibt es damit auch Überschneidungen zwischen der Traditionellen Chinesischen Medizin und Shiatsu, beispielsweise im Bereich von so genannten „Befindlichkeitsstörungen wie Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, Schlafstörungen oder Verdauungsstörungen, denen keine organische Verursachung zugrunde liegt.

Krankheit und Befindlichkeitsstörung

Eine Krankheit ist eine heilbare oder unheilbare Schädigung eines Organsystems im Körper. Die Befindlichkeitsstörung dagegen zeigt keine eigentliche Erkrankung eines Organs, die Person fühlt sich jedoch unwohl oder krank. Sie ist eine Einschränkung des körperlichen oder seelischen Wohlbefindens, die keinen medizinischen Krankheitswert hat.

Unter der Vielzahl der konventionellen und alternativen Behandlungsansätze in diesem Bereich kann auch Shiatsu hilfreich sein, kann Beschwerden lindern oder ganz auflösen. Nicht zu vergessen ist dabei der generelle, unspezifische Faktor der Zuwendung und Wertschätzung, der in Medizin und Forschung manchmal nur geringschätzig als „nur Placebowirkung“ abgewertet wird. Dabei ist zu beachten, dass es sich nicht um eine unbeabsichtigte Nebenwirkung handelt, sondern um ein höchst wirksames Agens, das seine Wirkung mittlerweile auch in der Hirnforschung unter Beweis gestellt hat und einen nicht vernachlässigbaren Teil der Heilwirkungen sowohl konventioneller wie auch alternativer Behandlungsmethoden ausmacht. Überraschend ist die Wirkung von Zuwendung und insbesondere körperlicher Berührung nicht, denkt man beispielsweise an die Untersuchungen von René Spitz, der gezeigt hat, dass fehlende Berührung von Säuglingen zu Erkrankungen bis hin zum Tod führen kann.

In einer kritischen Interpretation der deutschen GERAC-Studien zur Akupunktur, in der die „echte“ Akupunktur vergleichsweise nur geringfügig besser abschneidet als die „Placebo-Akupunktur“, postulierte der Spiegel im Juni 2007, dass die großen Erfolge der Akupunkturbehandlungen – fast doppelt so erfolgreich wie die Behandlung mit konventioneller Medizin – auf der Inszenierung der Nadelbehandlung als „Super-Placebo“ beruhen.

Für ein beängstigendes Konkurrenzdenken besteht allerdings auf beiden Seiten keine Notwendigkeit, weder für den Arzt noch für den Shiatsu-Praktizierenden. Sicherlich wird der Eine vielleicht die Nadelbehandlung bei Rückenbeschwerden vorziehen, ein Anderer hingegen die Akupunktur fürchten und sich lieber auf die Matte beim Shiatsu-Praktiker legen oder sich Übungsanleitungen beim Physiotherapeuten holen. Generell kann man wohl davon ausgehen, dass sich Patienten „ihre“ Methode und „ihre“ Behandler auswählen und dass jeder Behandler letztlich „seine“ Zielgruppe anspricht.

Verantwortungsvolles Behandeln geht immer davon aus, dass der Klient/Patient und seine Bedürfnisse und Beschwerden im Zentrum der Behandlung stehen. Das bedeutet immer auch, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die vertretbar sind, um Menschen zu helfen. Mit Blick auf den ärztlichen Behandler bedeutet dies aus meiner Sicht auch, das unterstützende Potential von Shiatsu-Behandlungen in Betracht zu ziehen.


The Effects and Experience of Shiatsu: A Cross-European Study

Um die Wirkungen und Erfahrungen von Shiatsu-Empfangenden zu quantifizieren, gab der Europäische Dachverband für Shiatsu (ESF) im Herbst 2005 eine Dreiländerstudie in Auftrag, die Ende 2007 abgeschlossen wurde. Durchgeführt wurde die Studie in Form einer longitudinalen Kohortenstudie in Österreich, Spanien und Großbritannien. Insgesamt 948 Shiatsu-Empfangende haben teilgenommen, und 633 (67 %) haben alle vier Fragebögen in einem Zeitraum von vier Monaten ausgefüllt.

Was die Erwartungen der an der Studie teilnehmenden Klienten betrifft, so waren dies insbesondere:

  • Energiearbeit,
  • Stärkung des Selbstwertgefühls,
  • Entspannung und Stressreduktion,
  • Beschwerdefreiheit,
  • Linderung von spezifischen Symptomen,
  • emotionale Hilfe und Unterstützung und
  • Stärkung der Bewusstheit von Körper und Geist.

Bei allen Beschwerden der Versuchspersonen zeigten sich in der Untersuchung signifikante Verbesserungen, insbesondere

  • bei Spannung und Stress und bei
  • Beschwerden von Muskulatur, Gelenken und Körperbereichen (inklusive Haltungsbeschwerden und Rückenprobleme).

Generell zeigten sich zudem Wirkungen wie:

  • Verbesserung der allgemeinen Gesundheit,
  • Vertrauen in die eigene Gesundheit,
  • Verbesserung der Haltung,
  • besseres Verständnis der eigenen Person,
  • geändertes Verständnis des eigenen Körpers,
  • bessere Fähigkeit mit Situationen umzugehen und menschlich zu reifen.

Geändert hat sich auch der Umgang der Shiatsu-Empfangenden in Hinblick auf ihr Gesundheitsverhalten, wozu neben Änderungen im Lebensstil auch Konsultationen bei TCM-Ärzten zählen. (The Effects and Experience of Shiatsu, 2007)


Shiatsu-Praktika im Krankenhaus

In eine ähnliche Richtung weisen auch Erfahrungen von Shiatsu-Praktika im Krankenhaus, wie sie von manchen Shiatsu-Schulen angeboten werden. Im Landesklinikum Weinviertel, Standort Korneuburg, wo die Shiatsu-Ausbildungen Austria (www.shiatsu-austria.at) seit Herbst 2006 Shiatsu-Praktika für angehende Shiatsu-Praktizierende anbietet, zeigen sich, obwohl es sich dabei nur um Behandlungsserien von jeweils zehn Sitzungen handelt, generell positive Ergebnisse.

Viele Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Verspannung, Menstruationsbeschwerden, Rückenbeschwerden, Schlafstörungen u.ä.m. haben sich merklich gebessert. Die Beweglichkeit der Behandelten hat zugenommen und ihr Körperbefinden hat sich positiv verändert. Von manchen Klienten wurde auch eine Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit festgestellt.


Synergien nutzen und Berührungsängste abbauen

Anstelle von Konkurrenz oder vermeintlicher Konkurrenz kann Zusammenarbeit Synergien schaffen, die sich positiv auf den Gesundheitszustand und die Prävention von Erkrankungen bei den Patienten/Klienten auswirken.

Von Seiten der Shiatsu-Praktizierenden bedeutet die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen wie Ärzten oder Psychotherapeuten eine optimalere Betreuung der Klienten (es macht einfach mehr Sinn, gemeinsam an einem Strang zu ziehen – und dann auch noch in die gleiche Richtung), und eine Entlastung, weil Shiatsu-Praktizierende naturgemäß auf Grund der fehlenden Ausbildung in diesen Bereichen manche Probleme von Klienten nicht (genügend) erkennen und abschätzen können. Entlastet durch diese „Arbeitsteilung“ aber können sie ihre Qualitäten voll und ganz einbringen: Spezialisten zu sein für Energie- und Körperarbeit, Spezialisten für Begegnung in der Berührung.

Notwendigerweise bedarf es dazu eines Abbaus von eventuell vorhandenen Vorurteilen und Berührungsängsten (auf beiden Seiten). Vorurteile auf Seiten der Mediziner, sicherlich nicht immer unberechtigt, sind wohl auch durch den Umstand bedingt, dass es im „alternativen Graubereich“ viele selbsternannte „Heiler“ gibt, die sich oft mehr durch Ignoranz und Selbstüberschätzung als durch umfassendes Wissen und verantwortungsvolles Handeln auszeichnen. Dem aber wirkt der Österreichische Dachverband für Shiatsu (www.shiatsu-verband.at) entgegen, der für hohe professionelle Ausbildungsstandards und deren Kontrolle eintritt.

Ein wichtiger Faktor, der solchen Tendenzen entgegenwirkt, ist der Dialog zwischen Ärzten und Shiatsu-Praktizierenden und die konstruktive Zusammenarbeit, in der sich – getragen von gegenseitiger Wertschätzung – ein vertieftes Verständnis zu Gunsten der Klienten entwickeln kann.

Auf Seiten der Shiatsu-Praktizierenden ist mitunter auch das Vorurteil zu finden, dass Ärzte kein Verständnis und keine Offenheit für alternative Zugänge haben, allem was „Nicht-ärztlich“ ist von vornherein misstrauen und nur von sich und ihren Methoden überzeugt sind – oftmals auch zum Nachteil von Patienten. Auch hier kann, neben der Ausbildung, die einer solchen Polarisierung keinen Raum gibt, der Dialog zwischen Ärzten und Shiatsu-Praktizierenden die Kluft überbrücken und die spezifische Verantwortung klarmachen, die die Berufsausübung des Arztes mit sich bringt.

Und so ganz nebenbei gibt die Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen zum Wohle des Patienten/Klienten auch ein Modell für den Umgang mit Gesundheit und Krankheit: Vernetzung statt der Grundeinstellung, dass die eigene Methode der einzig richtige Weg sei, und – ganz im Sinne moderner Gesundheitstheorien – vielfältige Ressourcen nutzen, sich Unterstützung holen, wenn sie benötigt wird und verfügbar ist.


Gegenseitiger Nutzen zum Wohle der Patienten

Wie die schon angeführte Dreiländer-Studie zu Shiatsu auch statistisch nachweist, nimmt die Inanspruchnahme von TCM infolge von Shiatsu-Behandlungen zu. Dem liegen verschiedene Ursachen zugrunde, deren wichtigste wohl die ist, dass Shiatsu-Praktizierende durch ihre Ausbildung in den Grundlagen und Diagnostikverfahren der TCM ein Verständnis dafür erwerben, wann sich eine TCM-Behandlung – ergänzend, vielleicht sogar vorübergehend alternativ – als günstig erweisen könnte.

Wird ein Shiatsu-Praktiker beispielsweise kontaktiert, um die Regeneration eines Klienten zu fördern und seine Vitalität zu stärken, so könnte die energetische Einschätzung durch den Shiatsu-Gebenden deutliche Hinweise auf eine Schwäche des Verdauungsapparates verbunden mit innerer Feuchtigkeit ergeben (neben anderen diagnostischen Hinweisen zeigt sich eine deutlich geschwollene Zunge mit Zahnabdrücken). Sein Wissen um die Möglichkeiten der TCM hier pharmakologisch oder auch durch Nadelung deutliche und rasche Besserung zu erzielen, veranlasst den professionell arbeitenden Shiatsu-Praktiker, seinem Klienten die Unterstützung durch einen TCM-Arzt nahezulegen. Insbesondere dann, wenn der Klient Vertrauen zum Shiatsu-Praktiker hat und weil der TCM-Arzt im gleichen System arbeitet, klappt die „Überweisung“ erfahrungsgemäß gut. Voraussetzung dafür ist, wie schon weiter oben angeführt, dass keine Vorurteile oder Berührungsängste dem entgegen stehen.

Andererseits zeigt sich durchaus auch die heilsame Auswirkung von achtsamer Berührung, die den Prinzipien der fernöstlichen Heillehren folgt. Behandlungserfolge von Nadel- und/oder Pharmakotherapien können durch Shiatsu stabilisiert, ja vielfach sogar noch verstärkt werden. In den vertraut und verlässlich werdenden Shiatsu-Sitzungen gewinnt der Klient zunehmend Sicherheit, lernt sich anzuvertrauen und fallen zu lassen – Fähigkeiten und Eigenschaften, die ihn bei der Bewältigung seiner Beschwerden unterstützen, vor allem aber auch die ärztliche Behandlung leichter annehmen lassen.

In manchen Fällen kann der Shiatsu-Praktiker sogar ein wichtiges Bindeglied darstellen, damit sich ein Patient einer wichtigen, unter Umständen sogar lebenswichtigen und lebenserhaltenden Behandlung unterzieht. Von der Medizin, vor allem von der Schulmedizin traumatisierte Menschen suchen vielfach ihr Heil in alternativen Zugängen zu denen – aus ihrer Sicht – auch Shiatsu gehören kann. Das Vertrauen, das sich zwischen Shiatsu-Gebenden und Shiatsu-Empfangenden aufbaut, kann die Brücke bilden, auf der die Arzt- und/oder Krankenhausphobie überwunden werden kann. Auch hier ist der TCM-Arzt die „logische Adresse“ für die Weitervermittlung.

Das klassische Behandlungskonzept der Traditionellen Chinesischen Medizin (bei dieser Aussage beziehe ich mich auf schriftliche Quellen und Äußerungen von mir persönlich bekannten TCM-Ärzten) ist die Behandlungsserie, in der intensiv chinesische Heilmittel und/oder Akupunktur angewendet werden. Von manchen Ausnahmen abgesehen (wie z.B. von langdauernden Einnahme von Ginseng zur Stärkung geschwächter oder alter Menschen) wird die Dauermedikation eher selten angewendet und ist auch nicht immer unbedenklich in Hinblick auf Schadstoffbelastungen und Toxizität der Pharmaka.

Bei Patienten, die durch chinesische Pharmako- oder Nadeltherapie wieder beschwerdefrei geworden sind und eigentlich keine Behandlung mehr benötigen, kann eine weitere Betreuung durch den Shiatsu-Praktiker mitunter allerdings dennoch sinnvoll sein, um einem Wiederauftreten der Beschwerden entgegenzuwirken oder aber den Zeitraum bis zu ihrem Wiederkommen zu verlängern. Hier kann der Shiatsu-Praktiker die Ressourcen des Klienten/Patienten unterstützen und – wenn es wieder notwendig ist – zum TCM-Arzt zurückverweisen.

Generell zeigt die Zusammenarbeit von TCM-Ärzten und Shiatsu-Praktikern in der Praxis positive Auswirkungen. Patienten/Klienten, die auf diese Weise betreut werden, äußern sich sehr zufrieden über die umfassende und effektive Behandlung. Als günstig erweist sich dabei, dass Shiatsu und die Traditionelle Chinesische Medizin denselben Hintergrund haben und sich trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen gut ergänzen: Die Kombination von TCM- und Shiatsu-Behandlungen, die ihr jeweils ganz spezifisches Wirkungsspektrum entfalten, trägt ein großes Potential in sich, das sich zum Wohle und zur Gesundung bzw. Gesunderhaltung des Patienten/Klienten entfalten kann.


Quellen

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  • Tripp, Eduard: Die Begleitung und Unterstützung krebskranker Menschen. Psychotherapie, Traditionelle Chinesische Medizin und Shiatsu (www.shiatsu-austria.at – Magazin)
  • Tripp, Eduard: Gesundheit und Krankheit aus ganzheitlicher Sicht (www.shiatsu-austria.at – Magazin)
  • Tripp, Eduard: Placebos und Placebowirkungen der Akupunktur (www.shiatsu-austria.at – Basiswissen)
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  • Tripp, Eduard: The Effects and Experience of Shiatsu: A Cross-European Study. Phase 2 – Ergebnisse der KlientInnenbefragung (www.shiatsu-austria.at)
  • Tripp, Eduard: Traditionelle Fernöstliche Medizin und Shiatsu – ein historischer Abriss (www.shiatsu-austria.at – Magazin)
  • Unschuld, Paul U. (2003): Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst. C.H. Beck
  • Unschuld, Paul (2007): Fernöstliche Heilmischung. Süddeutsche Zeitung vom 15. 12. 2007

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).