Shiatsu mit alten Menschen (Werner Brünner)

Shiatsu an alten Menschen anzuwenden ist eine sehr lohnende Aufgabe. Man bekommt so viel an Wärme und Herzlichkeit zurück. Man hat auch Anteil an den Lebenserfahrungen und kann sich ein gutes Bild vom Klienten machen.

Ich arbeite seit 2003 in verschiedenen geriatrischen Einrichtungen und habe dabei sehr viele Erfahrungen gemacht die bei der Arbeit mit alten Menschen hilfreich sein können. Das hat auch meinen eigenen Zugang verändert und ich habe dabei sehr viel gelernt. Um zufriedenstellend mit alten Menschen arbeiten zu können, ist es allerdings wichtig, die eigenen Erwartungen an die Situation anzupassen, Einschränkungen in der Behandlung zu akzeptieren und manchmal auch kreativ mit Situationen umzugehen. Dazu kommt für den Shiatsu-Praktiker die Konfrontation mit Leid und Tod. Aufgrund des Alters der KlientInnen ist man zwangsläufig mit diesem Thema konfrontiert. Dafür wird man mit sehr viel Herzenswärme und oft auch mit einem Strahlen in den Augen belohnt, wenn sich herausstellt das die Behandlung diese oder jene Verbesserung oder Erleichterung der Beschwerden gebracht hat. Im Folgenden möchte ich daher näher auf die einzelnen Aspekte in der Arbeit mit alten Menschen eingehen.


Anamnese

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Für ein verantwortungsvolles Arbeiten mit alten Menschen ist es ganz besonders wichtig, eine ausführliche Anamnese zu erheben, in der Risikofaktoren erkannt werden können. Besonders wichtige Punkte, die mit dem Klienten und/oder Arzt abgeklärt werden müssen, sind:

  • Osteoporose
  • Bewegungseinschränkungen
  • Verletzungen, Operationen, Prothesen
  • Krankheiten, Medikamente
  • Blutdruck
  • Varizen (Krampfadern)

Auch macht es Sinn zu erfragen ob der Klient sportlich ist. Wenn er Bewegung und körperliche Belastungen gewohnt ist, kann, wenn es sich als notwendig erweisen sollte, tiefer und intensiver gearbeitet werden.


Anpassung der Arbeitsweise

Die einzelnen Techniken müssen an die Situation und an den jeweiligen Klienten angepasst werden. Für viele ältere Klienten ist es nicht vorstellbar am Boden behandelt zu werden und das Aufstehen vom Boden zudem oft auch mit Schmerzen verbunden. Das sollte nach Möglichkeit vermieden werden.

In der Geriatrie zu arbeiten, bedeutet aber nicht zwangsläufig, immer nur alte und gebrechliche Klienten zu haben. Es kommen auch rüstige und bewegungsfreudige ältere Klienten mit denen durchaus am Boden gearbeitet werden kann. Dies sollte aber zuvor im Anamnesegespräch geklärt werden.

Grundsätzlich können alle Techniken angewandt werden. Oftmals macht es auch Sinn, einzelne Teile einer Technik mit anderen Techniken zu kombinieren Immer aber ist auf vorhandene Beschwerden wie Osteoporose, Ödeme, Varizen, etc. Rücksicht zu nehmen. Das Hauptaugenmerk in der Behandlung von älteren Menschen liegt fast immer im Nähren und Aufbauen, da man es vor allem mit Schwäche- oder Mangelstrukturen zu tun hat.

Ein weiterer Aspekt ist die Motivation zur Bewegung, denn alte Menschen leiden häufig unter Bewegungseinschränkungen. Freude an der Bewegung zu wecken ist sinnvoll, aber es ist zu bedenken, dass ihre Gelenke meist arthrotisch sind und bei bestimmten Bewegungen schmerzen. Man muss viel erklären und mit Geduld die Grenzen ausloten, um diese erweitern zu können. Gelingt es auch sicht- und spürbare Erfolgserlebnisse zu erzielen, steigt die Lebensqualität der Betroffenen.

Die Spannbreite der Erfolgserlebnisse ist sehr groß: Sich im Bett wieder aufsetzen zu können, den Rollstuhl für ein paar Schritte zu verlassen oder wieder selbst, ohne fremde Hilfe, auf die Toilette zu gehen zu können, sind oft regelrechte Quantensprünge, die vom Klienten als große Leistung und tolles Erlebnis empfunden werden.


Behandlung im Bett

Bei bettlägerigen Klienten muss die Behandlung oft dahingehend umgestellt werden, dass nicht mit den „klassischen“ Positionen gearbeitet werden kann. Man kann aber auch im Stehen aus dem Hara arbeiten.

In der Regel sind die Klienten im Bett so gelagert, das sie keine Schmerzen haben (Schonhaltung). Weiters ist zu beachten, dass viele Klienten sehr schwach sind und ihre Muskeln sind oft schon weitgehend atrophiert und wahrscheinlich druckempfindlich. Man sollte sich langsam an die Behandlung herantasten und immer wieder Rückmeldungen erbitten. Da bei den meisten Klienten Schwäche und Leere vorliegen, ist die Gefahr der Überforderung groß. Aufbauen, Nähren, Moxibustion und eher sanfte, großflächige Berührung sind meist eine gute Wahl und werden als sehr angenehm und wohltuend empfunden. Auch sanfte Bewegungen und Dehnungen sind möglich und sinnvoll. Zu beachten ist, dass Veränderungen sehr lange dauern. Nichts geht schnell.


Behandlung auf dem Massagetisch

Bei Klienten die zwar ein paar Schritte gehen können, aber großteils auf einen Rollstuhl angewiesen sind, ist es möglich, sie von Rollstuhl auf den Massagetisch zu setzen und dann hinzulegen. Das ist schonender und kann leichter durchgeführt werden als die Lagerung auf dem Boden. Auf den Boden liegen wäre in vielen Fällen zwar möglich, aber das Aufstehen nach der Sitzung bereitet anschließend oft große Schmerzen und zerstört damit die entspannende und aufbauende Wirkung der Behandlung. Vom Tisch zurück in den Rollstuhl geht dann leichter. Außerdem kann das seitliche Aufrichten am Tisch von einer liegenden in eine sitzende Position geübt werden. Das hilft dem Klienten auch beim morgendlichen Aufstehen aus seinem Bett.

Ein Augenmerk ist auch auf die Atmung zu legen. Viele alte Menschen neigen dazu, bei einer Anstrengung, wie z.B. dem Aufsetzen, die Luft anzuhalten. Weiteratmen während einer Anstrengung muss trainiert werden. Die Bewegung funktioniert dann viel leichter.

Auf dem Tisch können sämtliche Shiatsu-Sitzungen durchgeführt werden. Der Praktiker arbeitet dabei im Stehen, aber aus dem Hara heraus. Die Höhe des Tisches sollte möglichst tief eingestellt werden, damit man so gut wie möglich sein Körpergewicht einsetzen kann. Unter Umständen ist es auch möglich, auf den Tisch zu steigen und so wie am Boden zu arbeiten.


Behandlung im Rollstuhl

Manche Klienten können den Rollstuhl nicht oder nur mehr unter sehr großer Anstrengung verlassen. Aber auch dann ist durchaus möglich im Sitzen die Arme oder die Beine (hochgelagert) zu behandeln. Der Nacken und der Kopf sind ebenfalls gut zugänglich. Der Praktiker arbeitet dabei sinnvollerweise meist im Stehen. Wenn ein Vorbeugen des Klienten im Rollstuhl möglich ist, so bietet sich auch eine Behandlung am Rücken an. Der Praktiker muss auf alle Fällte versuchen, seine Behandlung an die Gegebenheiten und Möglichkeiten wie auch an die Wünsche des Klienten anzupassen.


Behandlung im Sitzen

Seiza-Sitz des Klienten ist in den wenigsten Fällen möglich, man kann den Klienten aber auch z.B. seitlich auf einen Stuhl oder noch besser auf einen Hocker setzen und den Rücken behandeln.

Behandlungen im Sitzen haben meist einen eher dynamischen Charakter. Der Klient hat den Eindruck, dass viel passiert und viel Bewegung stattfindet. Man sollte hier auch auf eine mögliche Überforderung des Klienten achten. Um die Befindlichkeit des Klienten während der Behandlung wahrzunehmen, erweist es sich als sinnvoll, auf die Atmung zu achten. Überforderung, Schmerzen bei der Behandlung, aber auch angenehme Empfindungen verändern die Atmung und sind ein gutes Indiz, um zu beurteilen, wie der Klient die Behandlung erlebt.


Aspekte der Behandlung

Veränderungen sind im Alter vielfach schwieriger, darum braucht der Shiatsu-Praktiker oftmals viel Geduld und muss viel erklären. Viele Verhaltensweisen von Klienten haben sich nämlich über Jahrzehnte verfestigt und Veränderungen werden von vielen alten Menschen als Anstrengung oder oft sogar als unmöglich empfunden. Ein für den Klienten und den Shiatsu-Praktiker realistisches Ziel zu definieren und im Zuge der Behandlungen zu verfolgen, macht deshalb Sinn. Die Dokumentation ist hier sehr hilfreich, um auch die erreichten Erfolge und Teilerfolge aufzeigen zu können.


Schmerzen bei der Behandlung

Das Schmerzempfinden ist sehr individuell. Manchen Klienten bereiten schon die kleinsten Bewegungen Schmerzen. Vorsichtiges und einfühlsames Herantasten ist deshalb notwendig. Hier macht es Sinn, sich vom Klienten während der Behandlung Feedback zu holen. Weiters ist zu beachten, dass viele Klienten Schmerzmittel nehmen. Ihr Schmerzempfinden ist dadurch verändert. Man sollte aufpassen, dass nicht durch die Behandlung Schmerzen entstehen, die der Klient erst dann fühlt, wenn die Wirkung der Medikamente nachlässt. Im Zweifelsfall sollte man deshalb vorsichtiger arbeiten und sich langsam an eine optimale Druckstärke oder Dehnung herantasten. Die Rücksprache mit dem Klienten ist wichtig, um die Behandlungen optimal abstimmen zu können.

Es ist auch darauf zu achten, warum der Klient Schmerzen hat. Nicht immer sind altersbedingte Beschwerden wie Gicht, Rheuma, Arthrose u.ä.m. die Ursache für die Schmerzen. Verschiedene Körperregionen können durchaus auch mit traumatischen Erlebnissen verknüpft sein, die sich durch Schmerzen äußern. Verursacht man bei einer Behandlung Schmerz, so können diese Erfahrungen an die Oberfläche kommen.

In der Anamnese werden solche Erlebnisse allerdings meist nicht angegeben, schon deshalb nicht, weil die betroffenen Klienten gar nicht daran denken. Die Geschehnisse sind oft sogar so stark verdrängt, dass bei einer Befragung nicht darauf eingegangen werden kann. Dazu sollte bedacht werden, dass auch Erlebnisse aus der Kriegszeit, Vergewaltigung oder andere Formen von Gewaltanwendung möglicherweise nicht wirklich verarbeitet sind.


Motivation und Zugang

Reden ist bei den meisten Klienten der wichtigste und beste Zugang. Im Gespräch lässt sich ein Behandlungsziel definieren, wobei die Lebensumstände, der Verlauf des bisherigen Lebens und der gesundheitliche Zustand eine große Rolle spielen. Am besten kann man über Erfolgserlebnisse motivieren. Wenn der Klient bemerkt, dass Tätigkeiten und/oder Bewegungen wieder möglich sind, (die es zuvor nicht waren), kann man die Freude und Begeisterung ebenso wie den Wunsch nach weiteren Erfolgen deutlich sehen.

Die Zugänge zu den Menschen sind sehr unterschiedlich. Manche Klienten muss man spielerisch motivieren. Bei anderen Klienten wiederum ist es notwendig, die Übungen oder Bewegungen einfach anzuordnen und mit dem Klienten durchzuführen. Hier ist viel Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl des Praktikers gefragt. Selbstverständlich sollte vorher mit dem Arzt geklärt werden, ob der Klient diese Bewegungen und/oder Behandlungen durchführen kann.

Bei Klienten, die unter fortschreitender Demenz oder Alzheimer leiden, ist eine normale Wahrnehmungsfähigkeit oft nicht gegeben. Die Krankheitsbilder variieren deutlich. Manche Klienten werden vollkommen apathisch oder auch aggressiv und boshaft. Oft sind sie orientierungslos und wirken verloren. Mit all diesen Dingen muss der Praktiker umgehen können und die Behandlungen dementsprechend anpassen. Es gibt kein Rezept, sondern man muss in der Behandlungsituation entscheiden, was jetzt am besten wäre. Mit einem spielerischen Zugang habe ich die besten Erfahrungen, weil dieser Zugang nicht bedrohlich auf Menschen wirkt, die sich ihrer Wahrnehmungen nicht mehr sicher sind.

Hilfreich ist es auch, Sicherheit zu geben, und wichtig ist – wie eigentlich immer – alles zu dokumentieren und Rücksprache mit dem Arzt und dem Betreuungspersonal (Krankenpflege) zu halten.


Gespräche während der Behandlung

Manche Behandlungen alter Menschen unterscheiden sich grundlegend von „normalen“ Shiatsu-Behandlungen. Einige Klienten leiden nämlich sehr unter Vereinsamung, vor allem wenn der langjährige Lebenspartner gestorben ist. Viele sind auch sehr in sich zurückgezogen und trauen sich nicht, andere Menschen anzusprechen. Das trifft meist nicht auf den Behandler zu, der „alles“ zu hören bekommt, von Kriegserlebnissen über die jeweiligen Krankheitsgeschichten bis hin zu partnerschaftlichen Probleme u.v.a.m.

Reden ist in diesem Fall oft ein Ventil und entstaut Herz und Leber. Auffällig dabei ist, dass oft sehr schnell gesprochen wird. Es muss alles raus, alles gesagt werden. Mit der Zeit lässt das Redebedürfnis etwas nach, und es können dann „ganz normale“ Behandlungen stattfinden.


Bewegungseinschränkungen

Bei älteren Menschen lässt die Bewegungsfähigkeit nach und sie werden oft auch langsamer. Das Bewegungspotential der Gelenke wird vielfach über Jahre hinweg nicht mehr voll ausgenutzt. Eine mögliche Folge sind Ablagerungen in den Gelenken (Arthrosen). Dehnungen helfen, dass die Gelenke wieder besser durchblutet und die Muskeln geschmeidiger werden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass alte Menschen oft an (beginnender) Austrocknung leiden, d.h. an einer Schwäche des Blutes und/oder der Säfte. Die Jin Ye (Säfte) sind verantwortlich für die Schmierung der Gelenke, weshalb die Frage „Wie viel trinken sie pro Tag“ in keiner Anamnese fehlen sollte. Die Erfahrung zeigt, dass Flüssigkeit zu sich nehmen oft „vergessen“ wird.


Medikamente

Markomar, Thrombo ASS, Morphinpflaster, Amaryl und Euthyrox sind nur ein paar Beispiele, weshalb es unbedingt erforderlich ist, in der Anamnese nach den eingenommenen Medikamenten zu fragen. Dabei geht es nicht um den Namen der Medikamente, sondern wofür oder wogegen sie genommen werden,  z.B. um den Blutdruck zu regulieren, das Blut zu verdünnen, das Herz zu stärken, den Magen zu schützen, Schmerz zu lindern, Diabetes zu behandeln u.ä.m. Menschen, die Schmerzmittel und/oder Blut verdünnende Medikamente nehmen, müssen vorsichtiger behandelt werden. Hämatome (blaue Flecken, subcutane Blutungen) entstehen hier schon bei leichtem Druck. Bei Schmerzmitteln hingegen kommt die Wahrnehmung der Schmerzen erst mit dem Abklingen der Medikamentenwirkung. Darauf muss man bei der Dosierung der Druckstärke Rücksicht nehmen.


Krankheiten

Osteoporose, Altersdemenz, Morbus Alzheimer, Depressionen, Diabetes, Herzinfarkt, Asthma, Schlaganfall, Krebs, Inkontinenz, Dikubitus, Dehydration, Morbus Parkinson, Gelenksoperationen mit Prothesen, Fehlhaltungen, starke Skoliose und eine starke Kyphose sind nur einige der Krankheiten, mit denen der Shiatsu-Praktiker bei der Arbeit mit alten Menschen konfrontiert wird. Wichtig ist der natürliche Umgang des Praktikers mit diesen Beschwerden. Das beginnt schon in der Anamnese, denn es ist nicht gut, wenn der Klient das Erschrecken des Praktikers bemerkt, der zum ersten Mal mit diesen Krankheiten konfrontiert wird. Oberste Regel ist, „cool bleiben“. Man muss auch nicht unbedingt gleich Bescheid wissen, denn Krankheitsbilder können nachgefragt oder nachgelesen werden. Am besten ist es die Krankheit/en zu registrieren und sich entsprechende Notizen im Protokoll zu machen. (Möglicherweise auch mitgebrachte Befunde zu kopieren). Das erzeugt auch den Eindruck der Professionalität des Praktikers. Problematischer ist es, einen Klienten, der mit seinen Problemen zu uns kommt, gleich bei der Anamnese mit Aussagen wie „Oje, Oje, oder um Gottes willen oder ähnliches“ zu verunsichern. Das verstärkt beim Klienten nur seine eigenen Ängste in Bezug auf seine Erkrankung und er verliert wahrscheinlich das Vertrauen zum Shiatsu-Praktiker.


Ernährung

Wenn Hinweise zur Ernährung gegeben werden, so ist auch darauf zu achten, dass die Klienten möglicherweise Schluckbeschwerden nach einem Schlaganfall haben oder nicht richtig beißen können. Für solche Fälle sind die Logopädin und/oder der Arzt die richtigen Ansprechpartner.

Es sollte auch bedacht werden, dass Ernährungstipps (beispielsweise aus der Fünf-Elemente-Ernährung) unter Umständen im Widerspruch zu ärztlichen Anordnungen stehen. Dies sollte unbedingt mit dem Klienten und dem Arzt bzw. dem Diätologen abgeklärt werden. Ein Beispiel dazu wäre, wenn der Klient unter Milz-Qi-Schwäche leidet, weshalb Milch und Milchprodukte als problematisch gelten. Der Arzt aber hat unter Umständen ausdrücklich empfohlen, Milch und Käse zu essen, da keine Laktoseunverträglichkeit vorliegt und der Betroffene einen Kalziummangel aufweist. Hier muss auf alle Fälle mit dem Arzt Rücksprache gehalten werden, und auch nur der Arzt kann die Anordnung revidieren.


Dokumentation

Dokumentation der Behandlungen und Rücksprachen ist sehr wichtig – allein schon zur eigenen Absicherung. Die Dokumentation zeigt auch sehr klar und deutlich Verbesserungen und Verschlechterungen in der Entwicklung des Klienten. Darüber hinaus können dadurch unter Umständen auch neue Behandlungsansätze gefunden werden.


Der letzte Lebensabschnitt

Wir müssen uns bewusst sein, dass der Tod im Seniorenheim und in der Arbeit mit alten Menschen ein ständiger Begleiter ist. Jeder Praktiker, der mit alten Menschen arbeitet, muss sich die Frage stellen, inwieweit er mit dieser Situation umgehen kann, denn durch die Arbeit mit Shiatsu werden zum Teil sehr wichtige Beziehungen mit den Klienten aufgebaut. Auch für den Shiatsu-Praktiker stellt sich damit die Frage des „Loslassens“ und des Umgangs mit Leid und Tod.

Überhaupt begegnet der Tod dem Praktiker auf viele verschiedene Weisen. Manche Klienten haben Angst zu sterben und Angst vor dem Sterben. Andere wiederum wünschen sich den Tod. Generell gilt, dass wir als Shiatsu-Praktizierende den Tod, das Sterben nicht beeinflussen können, wir können immer nur begleiten und mit den Klienten reden, aber vor allem zuhören.

Sterben wollen und nicht können, ist eine andere Situation, mit der der Praktiker konfrontiert werden kann. Wenn der Lebenswille und die Vitalität eines Menschen so stark sind, dass er trotz einer sehr schweren Erkrankung ohne Aussicht auf Besserung nicht sterben kann, dann stellt das sichtbare Leid des Klienten oft auch eine große Belastung für den Praktiker dar. Um Shiatsu gut praktizieren zu können, brauchen wir viel Herz-Energie, was aber dazu führt, dass wir auch das Leid der Klienten in uns deutlich spüren. Es gibt allerdings kein Rezept für den Umgang mit dieser belastenden Situation. Gut hilft aber darüber zu reden, mit dem Klienten, mit dem behandelnden Arzt und in der Supervision.


Sexualität im Alter

Sexualität ist im Seniorenheim meist ein Tabuthema. Man sollte sich dabei jedoch bewusst sein, dass Sexualität nicht einfach zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhört. Das Bedürfnis nach Zuwendung, Zärtlichkeit und Berührung bleibt bis ins hohe Alter bestehen. Im Gegenteil wird das Bedürfnis im Alter sogar stärker, wenngleich es sich verändert. Da kann man gelegentlich schon auch hören, dass eine ältere Dame (95) zu einem sagt, wenn sie 10 Jahre jünger wäre (85!!!), hätte sie sich um mich bemüht. Danach wurde ich auf beide Wangen geküsst. Es ist ein schönes Erlebnis, das Leuchten in den Augen der alten Dame zu sehen und gemeinsam zu lächeln.


Einsamkeit

Einsamkeit ist oft ein Thema, speziell bei der älteren Generation, die durch ihr Leben und ihre Erziehung geprägt ist. Viele tun sich schwer mit Anderen ein Gespräch zu beginnen. Im Speisesaal in einem der Seniorenheime, in denen ich arbeite, essen ca. 100 Menschen gleichzeitig, dennoch ist es dort fast still, denn beim Essen spricht man nicht. Das ist nur ein Beispiel, wie sehr die Erziehung und das Leben die Menschen prägen. Man kann nicht aus seiner Haut. Ältere Menschen kommen vielfach nicht von sich aus auf die Idee, mit Anderen Kontakt aufzunehmen. In der Behandlung kann es deshalb, wie schon erwähnt, mitunter sinnvoll sein, den Klienten reden zu lassen und mit ihm zu reden. Eine ältere Dame (83) beispielsweise erzählte mir während der Behandlung unter Tränen, dass sie so sehr unter Einsamkeit leide. Ich erwähnte, sie könnte doch nach dem Essen ihre Tischnachbarin ansprechen und mit ihr eine Unterhaltung beginnen. Sie entgegnete entrüstet: „Mit der Alten red ich doch nicht“. Ich gab daraufhin zu bedenken, dass besagte Tischnachbarin möglicherweise ebenfalls dasselbe über sie erzählen könnte. Drei Wochen später erzählte mir die Dame, dass meine Anregung geholfen hätte. Sie hat die Tischnachbarin angesprochen und seither gehen sie täglich eine Stunde zusammen spazieren, was irrsinnig nett sei.


Gefühl der Nutzlosigkeit

Durch das Nachlassen der Sinnesfunktionen (vor allem Sehen und Hören), die Verlangsamung und die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit können oft einfache Tätigkeiten nicht mehr ausgeführt werden. Die Menschen merken ihr Alter und es stellt sich bei ihnen oft ein Gefühl der Nutzlosigkeit ein. Sie glauben, Anderen nur mehr zur Last zu fallen, nichts Sinnvolles mehr tun zu können und keine Aufgabe mehr im Leben zu haben.

Hier kann man oft nur zuhören und versuchen wieder zu motivieren. Zuhören ist sehr wichtig, da daraus für den Betroffenen wieder eine Beschäftigung entsteht. Die Auseinandersetzung mit der Problematik bedeutet eine Aufgabe. Der Geist wird angeregt und Ideen kommen. Man kann mit der Situation besser umgehen und fühlt sich nicht mehr ganz so ausgegrenzt und hilflos. Das verbessert die Lebensqualität.


TCM-Diagnostik

Bei der Behandlung von alten Menschen wird man vor allem mit Schwäche-Strukturen konfrontiert. Die Zeichen der Alterung bestehen größtenteils aus einem Nachlassen der Körperfunktionen. Man kennt die Bilder von alten Menschen mit Klauenhänden (Dupuytrensche Kontraktur), trockener Haut und starker Kyphosierung der Wirbelsäule (Rundrücken) und anderen Alterungszeichen wie Arthrose, Nachlassen der Seh- und Hörkraft, usw. Die Säfte ziehen sich ins Innere zurück. Im Zyklus von Yin und Yang befinden wir uns im Herbst und im Winter. Alte Menschen bewegen sich auch nicht wie in jungen Jahren. Die Bewegungen werden langsam und bedächtig. Man macht keine nutzlosen Bewegungen mehr, muss mit seinen Energien haushalten. Aufbauen, nähren und Wärme zuführen hilft dem Körper Energie zu sparen, und wird als sehr wohltuend und angenehm empfunden.

In der Diagnostik ist es wichtig einzuschätzen, wie weit die Schwäche und der Mangel fortgeschritten sind. Befindet sich unser Klient in einem Qi-Mangel oder ist dieser Mangel schon gravierender? Gibt es Hitze- oder Kälte-Zeichen? Wo herrscht Fülle und wo herrscht Leere?


Zungendiagnostik

In der Zungendiagnostik begegnen uns in der Geriatrie so ziemlich alle Zungenformen die es gibt. Von stark geschwollen bis klein und schmal, mit und ohne Belag. Von blass bis dunkelroten und blauen bis sogar schwarzen Zungen ist alles vertreten.


Wie bereits eingangs erwähnt habe ich bei der Arbeit mit alten Menschen sehr viele positive Erfahrungen gemacht. Mein Shiatsu hat sich aufgrund der Anpassungen und das Eingehen auf die Klienten ebenfalls verändert. Es ist eine schöne und erfüllende Aufgabe alte Menschen auf ihrem letzten Lebensabschnitt zu begleiten und hin und wieder ein Lächeln in ihre Gesichter zu zaubern.

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© Werner Brünner, Shiatsu-Lehrer und -Praktiker in Stockerau, http://www.shiatsu-zentrum-korneuburg.at (veröffentlicht in “Shiatsu Journal 53 / 2008”)