Shiatsu in der Rehabilitation von Traumaopfern (Gilbert Suchanek)
Während meines Psychologiestudiums entwickelte sich die „Psychotraumatologie“ (u.a. auch durch einschlägige Erfahrungen in der Shiatsu-Praxis) immer mehr zu einem wesentlichen Arbeits- und Interessensschwerpunkt. Mein Praktikum absolvierte ich beim Verein „Aspis“ (www.aspis.at), einem Forschungs- und Therapiezentrum für Traumaopfer in Klagenfurt. Einige Patientinnen wurden vom Leitungsteam ausgewählt und erhielten von mir parallel zur sonstigen Betreuung eine Serie von Shiatsu Behandlungen.
Regelmäßig fanden im Team Fallbesprechungen und Supervisionen statt, der Austausch mit meinen erfahrenen KollegInnen war besonders in der Anfangsphase von großer Bedeutung. Ich konnte jederzeit bei Schwierigkeiten oder Fragen auf die Unterstützung meiner erfahrenen Kolleginnen zählen.[1]Beschreibung einiger Projekte bei “Aspis” unter www.aspis.at, meine Diplomarbeit “Körpertherapie und Psychotrauma” abrufbar unter www.aspis.at/körpertherapie und … weiterlesen
Durch die Shiatsu Behandlungen konnte bei einigen Patientinnen eine Besserung der körperlichen Beschwerden und die Reduktion von traumatischem Stress erreicht werden. Außerdem hatten die Sitzungen offenbar auch auf die parallel durchgeführten psychotherapeutischen Behandlungen günstige Auswirkungen. Die Zusammenarbeit mit Aspis wurde auch nach dem Praktikum fortgesetzt und bildet seitdem einen integrativen Bestandteil des Betreuungsangebotes.
„Shiatsu und Psychotrauma“
In der Psychotherapieszene wurde der Begriff „Trauma“ lange Zeit geradezu inflationär benutzt. In der Praxis ist es allerdings nicht sinnvoll, jedes belastende Ereignis mit traumatischen Erfahrungen gleichzusetzen. Petzold hat beispielsweise herausgefunden, dass die überwiegende Mehrzahl von Traumaopfern ihre Erlebnisse überraschend gut verarbeiten können (vgl. Petzold, www.iblt.de/Petzold_Body.htm, Zugriff am 5.3.2004). In der Psychotraumatologie versteht man unter Trauma ein „vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt” (Fischer und Riedesser, 1999, S 116).
Die Folgen von Trauma zeigen sich nicht nur auf sozialer und psychologischer Ebene, sondern auch in einer deutlich veränderten Physiologie („stress physiology“) mit typischen neurophysiologischen und immunologischen Reaktionen (S 463). Auch die Therapie muss folglich einem mehrdimensionalen Prinzip folgen: „Multidisziplinäre Arbeit ist Voraussetzung, interdisziplinäre Zusammenarbeit ist absolutes Erfordernis…“ (vgl. Petzold et. al., 2000, S 468). Eine wichtige Aufgabe dabei erfüllt die Körpertherapie, die in den meisten größeren Trauma- Zentren standardmäßig neben Psychotherapie und fachärztlicher Betreuung angeboten wird (vgl. Suchanek, 2003). Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass sich die Anwendung von Shiatsu vor allem bei folgenden Indikationen bewährt hat:
- Beschwerden des Stütz- und Bewegungsapparates (z.B. Verletzungsfolgen nach Folter und körperlichen Misshandlungen);
- generalisierte Schmerzsymptome oder lokale Schmerzen ohne Befund;
- Wahrnehmungs- und Empfindungsstörungen;
- Psychosomatische Beschwerden, wie z.B. chronische Kopfschmerzen oder Schlafstörungen und funktionelle Störungen (Magen- Darm Beschwerden, Schwächung der Immunität, etc.)
- Stärkung der Autonomie bzw. der Kontrolle über die Körperfunktionen;
- Entspannungs- und Atemtraining.
Fallvignette
Hr. F. kam im März 2002 zur Beratung, nachdem er als Flüchtling in Österreich um Asyl angesucht hatte. Er war aus der Türkei geflohen, da er seit mehreren Jahren immer wieder von der Polizei verhaftet und gefoltert worden war. Er wurde bei den „Verhören“ mit Ketten geschlagen, durch Folterungen mit Bügeleisen wurden ihm schwere Brandverletzungen im Brustbereich zugefügt. Durch Tritte und Schläge im Kopf und Nackenbereich wurde er so schwer verletzt, dass er einige Zeit im Spital künstlich ernährt werden musste. Nachdem auch seine Familie immer wieder belästigt und bedroht worden war, entschloss sich Hr. F. schließlich (nach einer vorgetäuschten Scheidung) zur Flucht nach Österreich. Als Hr. F. zu uns kam, litt er unter Schmerzen im HWS Bereich, sowie Ohrgeräuschen und Sehstörungen. An vielen Körperstellen waren Narben, teils sogar großflächig, zu sehen. Sie zeugten von den grausamen und gewalttätigen Übergriffen. In einem klinisch- psychiatrischen Befund wurden das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung, sowie Depressionen im Sinne einer Belastungsreaktion diagnostiziert. Hr. F. zeigte sowohl eine „erhöhte Basisaktivierung“ (Hyperarrousal), zwanghafte Gedanken und Flash Backs, als auch Ängste, die als typisches Vermeidungs- und Rückzugsverhalten gedeutet werden können.
Im Falle von Hr. F. zeigte sich deutlich, wie wichtig die Zusammenarbeit zwischen Vertretern mehreren Fachrichtungen und deren Spezialisierung auf TraumapatientInnen ist. Hr. F. erhielt psychotherapeutische Behandlungen ebenso wie Beratungen für das Asylverfahren, psychosoziale Betreuung und Shiatsu. Hr. F. war von großer, kräftiger Statur und wies neben einer auffallend herabgesetzten Beweglichkeit im Oberkörper ungewöhnlich starre Gesichtszüge auf. Das Entsetzen dieses Mannes war gleichsam „eingefroren“. Ebenso zeigte er mir durch wildes Gestikulieren seine Narben, als ob er mich von Wahrheitsgehalt seiner Schilderungen überzeugen müsste. Die erste Sitzung erfolgte mit Unterstützung eines Dolmetschers, um ausreichend Informationen über die aktuellen Beschwerden und die Art der Traumatisierung zu erhalten. Jeder zweite Satz wurde von einem energischen „Danke vielmals!“ unterbrochen, es schien ihm sichtlich unangenehm, überhaupt Hilfe annehmen zu müssen. Umgekehrt ist es auch für traumatisierte PatientInnen besonders wichtig, Informationen über den Ablauf der Therapie zu bekommen, sowie über die zu erwartenden Reaktionen aufgeklärt zu werden. Hilfreich ist es auch, für jede neue Intervention die Zustimmung der Patienten einzuholen. Eine vertrauensvolle Atmosphäre, ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle zu erreichen sind wesentliche Voraussetzungen einer erfolgreichen Therapie, da sonst die Gefahr der „Retraumatisierung“ sehr groß ist (z.B. bei der Anwendung von Elektrotherapie bei Folteropfern, u.ä.). Die Behandlungen zielten zunächst darauf ab, mit Entspannungsübungen, sanften Dehnungen und Lockerungen der Muskulatur das hohe allgemeine Erregungsniveau zu senken. Für Hr. F. war es schwierig, seine „Schutzpanzerung“ aufzugeben, sein Widerstand war trotz der unvorstellbaren Folterungen noch nicht gebrochen. Immerhin hatte er noch „Kämpfe“ auszufechten: Asylverfahren, Kontakt herstellen mit der Familie in der Türkei, bzw. deren Zuzug organisieren, etc. Shiatsu Behandlungen in Anspruch zu nehmen, das heißt doch eigentlich „schwach sein“!! Wichtig war daher, Hr. F. mit aktiven Übungen in die Therapie miteinzubeziehen, durch Unterstützung zur Selbsthilfe auch das Gefühl von „Selbstkompetenz“ zu steigern.
Tatsächlich berichtete Hr. F. schon nach ein paar Sitzungen, von einer deutlichen Reduktion der Schmerzen und der Spannungen im Halswirbelbereich. Er konnte sich besser entspannen und er konnte auch abends leichter zur Ruhe kommen, bzw. besser schlafen. Vom behandelnden Psychotherapeuten kam die Rückmeldung, dass durch die Besserung der körperlichen Symptome auch einige Fortschritte in der psychotherapeutischen Arbeit ermöglicht wurden. Hr. F. bestand darauf, nicht länger als wirklich notwendig unsere Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen. Für uns im Team war es sehr ungewöhnlich, einen derart schnellen Genesungsverlauf mitzuerleben, da gerade die Stabilisierungsphase üblicherweise sehr lange dauert. Hr. F. konnte schließlich erfolgreich für die mühsamen Asylverhandlungen vorbereitet werden. Nachdem ein positiver Bescheid erfolgt war, konnten auch erste Schritte für eine Familienzusammenführung unternommen werden.
Zusammenfassung
Die wichtigsten Leitsymptome von “traumatischem Stress” sind:
- Wechselnde Phasen von Überflutung mit belastenden Erinnerungen, Flash Backs, etc. und Abwehr- bzw. Rückzugsverhalten (sozialer Rückzug, körperliche Schutz- und Schonhaltungen, “Frozen States” etc.);
- Zustände von Übererregung (Hyperarrousal) und extremen Stress, manchmal auch mit Ausprägung von psychosomatischen Symptomen, wie z.B. Herzbeschwerden, Störungen der Verdauungsfunktionen, Migräne, etc.
Die drei Stadien der Genesung (nach Herman, 1993):
- Phase der Wiederherstellung von Sicherheit (Stabilisierung);
- Erinnern und Trauern;
- Integration und Wiederanknüpfung.
- Die Stabilisierungsphase kann sehr lange dauern! Ausdauer und Geduld sind gefordert. Man muss mit massiven Gegenübertragungstendenzen[2]Zum Thema Übertragung und Gegenübertragung siehe auch die hervorragenden Beiträge von Dr. Eduard Tripp im Shiatsu Journal Nr. 35, 2003: “Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie Teil … weiterlesen rechnen. Fragen wie: „Wieso geht da nichts weiter?“, „Was mache ich fasch?“ sind häufige Themen und sollten in Supervisionen geklärt werden.
- Gerade im Falle von Hr. F. kann man gut sehen, dass bei Traumaopfern die Stärkung der individuellen Ressourcen, bzw. Bewältigungskompetenzen (im Shiatsu würde man sagen „Selbstheilungskräfte“) im Vordergrund stehen sollte. Konfliktorientierte Heilungs- und Regenerationsrituale mit „kathartischen Durchbrüchen“ sollten nicht Inhalt und Ziel von Shiatsubehandlungen sein.[3]Traumakonfrontationen oder Expositionen dürfen nur von speziell dafür ausgebildeten PsychotherapeutInnen durchgeführt werden, da die Gefahr von Retraumatisierungen zu groß ist. Weniger ist also mehr!!
- Traumakonfrontationen- oder Expositionen dürfen nur von speziell dafür ausgebildeten PsychotherapeutInnen durchgeführt werden, da die Gefahr von Retraumatisierungen zu groß ist.
- Eine gut funktionierende, multiprofessionelle Zusammenarbeit im Team oder mit externen ÄrztInnen, PsychologInnen/ PsychotherapeutInnen und KörpertherapeutInnen, Sozialarbeitern, etc. ist unbedingt notwendig.
- Wenn PatientInnen in dissoziative Zustände geraten, ist es wichtig, diese sofort zurückholen (Dissoziationsstop- Techniken)!! Die Traumaforschung hat gezeigt, dass unkontrollierte Dissoziationserlebnisse die Traumaverarbeitung erschweren, bzw. auch weitere (nachweisbare) Schäden anrichten können.
- Aufklärung und Informationsweitergabe über typische Traumasymtome und natürliche Verarbeitungsmechanismen können sehr hilfreich und wertvoll für die psychische Stabilisierung der PatientInnen sein. Viele Traumaopfer leiden unter der Angst, “durchzudrehen”, weil sie ihre “Verrückt”- heit nicht richtig interpretieren und einordnen können.
- Vorsicht mit regressionsfördernden Techniken, Berührungen (Gefahr der Retraumatisierung!).
Literatur
Downing, George (1996): Körper und Wort in der Psychotherapie. München: Kösel Verlag.
- Fischer, Gottfried/ Riedesser, Peter (1999): Lehrbuch der Psychotraumatologie. München, Basel: Reinhardt Verlag.
- Herman, Judith Lewis (1993): Die Narben der Gewalt. München: Kindler Verlag
- Petzold, Hilarion et. al. (2000): Integrative Traumatherapie. In: Van der Kolk et. al (2000): Traumatic Stress. Paderborn: Junfermann Verlag.
- Röhricht, Frank (2000): Körperorientierte Psychotherapie psychischer Störungen. Göttingen: Hogrefe Verlag.
- Suchanek, Gilbert (2003): Körpertherapie und Psychotrauma. Diplomarbeit. Universität Klagenfurt.
- Tripp, Eduard (2003): Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie, Teil II. In: Shiatsu Journal. Nr. 35, Jahrgang 11.
Äußerst lesenswert ist außerdem: Ottomeyer, Klaus (2002): Psychotherapie mit traumatisierten Flüchtlingen. In: Ottomeyer, Klaus, Karl Peltzer (Hg.): Über Leben am Abgrund. Klagenfurt: Drava Verlag. S 139- 170.
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© Mag. Gilbert Suchanek. Psychologe und Shiatsu Praktiker mit Schwerpunkt Psychosomatik sowie Rehabilitation psychisch kranker und traumatisierter Menschen. Mitarbeit beim Verein Aspis/ Klagenfurt und in der Reha- Klinik für seelische Gesundheit/ Klagenfurt, gilbert.suchanek@chello.at (veröffentlicht im Shiatsu Journal Nr. 38, Sommer 2004)
Anmerkungen
↑1 | Beschreibung einiger Projekte bei “Aspis” unter www.aspis.at, meine Diplomarbeit “Körpertherapie und Psychotrauma” abrufbar unter www.aspis.at/körpertherapie und psychotrauma.pdf. |
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↑2 | Zum Thema Übertragung und Gegenübertragung siehe auch die hervorragenden Beiträge von Dr. Eduard Tripp im Shiatsu Journal Nr. 35, 2003: “Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie Teil II”. |
↑3 | Traumakonfrontationen oder Expositionen dürfen nur von speziell dafür ausgebildeten PsychotherapeutInnen durchgeführt werden, da die Gefahr von Retraumatisierungen zu groß ist. |