Shiatsu Diagnose und Theorie. Ist die TCM notwendig für Shiatsu? (Cliff Andrews)
Was glaubt ihr, macht einen guten Shiatsu-Praktiker aus: eine gute Berührungsqualität, der Einsatz entspannten Körpergewichts, oder die gut entwickelte Fähigkeit, mit den Händen zu spüren? Wie oft habt ihr euch schon, während ihr ein Shiatsu bekommen habt, gefragt: „Welches theoretische Modell wird hier verwendet?“ Sicher nicht sehr oft; offenbar ist die Theorie nur ein Teil der Effektivität von Shiatsu.
Diagramm 1: Integration von Diagnose, Theorie und Behandlung Für jedes Medizin- oder Heilungssystem mit dem Anspruch auf Effektivität müssen drei Komponenten integriert sein: Diagnose, Theorie und Behandlung (das nebenstehende Diagramm stellt diese Beziehung Diagramm dar).
Es wäre nicht passend, homöopathisch zu diagnostizieren auf der Basis westlicher Medizintheorie und anschließend mit chinesischen Kräutern zu behandeln. Daher braucht Shiatsu ein integriertes System, eines das es Shiatsu-Praktikern erlaubt zu diagnostizieren, die Diagnose mit Hilfe der Theorie zu interpretieren und die Arbeitstechnik dieser Information anzupassen. Shiatsu hat so ein System, das in den frühen siebziger Jahren von Shizuto Masunaga entwickelt wurde. Seit dieser Zeit wurde die Shiatsu-Theorie von einer Menge Praktikern und Lehrern auf der ganzen Welt weiterentwickelt und vervollständigt.
Eine der wichtigsten Methoden der Shiatsu-Diagnose ist die Abtastung der Harazonen. Das theoretische Modell besteht aus dem Konzept von Kyo – Jitsu und den Interpretationen der Meridianfunktionen. Die Behandlungsmethode enthält Techniken, die Kontakt mit dem Ki des Klienten über das Meridiansystem möglich machen, welches durch Diagnose und Theorie verständlich wird.
Ist TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) Diagnose und Theorie für Shiatsu notwendig? Die Antwort ist definitiv nein. Shiatsu ist in sich eine komplette, höchst effektive Methode, und es gibt viele Beispiele von Shiatsu-PraktikerInnen ohne spezielle TCM-Ausbildung. TCM-Konzepte, die aus dem Zusammenhang herausgenommen werden, können Shiatsu in seiner Effektivität behindern, da die Beziehung zwischen Theorie, Diagnose und Behandlung gestört wird.
Warum taucht also TCM so oft in Lehrplänen, Artikeln und Büchern über Shiatsu auf? Einerseits gibt es eine Fülle von TCM-Literatur. Das macht es für LehrerInnen die ein Curriculum entwickeln und für Autoren, die nach Material suchen attraktiv, sich dieser Informationen zu bedienen. Andererseits macht es die Struktur der TCM intellektuell leichter darüber zu schreiben und das Material in den Unterricht der Shiatsu-Theorie zu integrieren. Der Grund ist, dass die Säulen der TCM-Theorie Syndrome sind: Muster von Ungleichgewichten hergeleitet aus Anzeichen und Symptome.
Shiatsu-Diagnose und Theorie unterscheidet sich sowohl in seiner Struktur als auch in der Art der Anwendung der TCM. Shiatsu-Theorie ist Erfahrungswissen, basierend auf der Bewegung und dem Ausdruck der Ki-Energie der Meridiane. Masunaga fasste die TCM Theorie der Zang Fu zusammen und übertrug sie in die Dynamik des Meridianausdruckes, welche sich auf die Wechselwirkung der Ki-Energie im einzelnen Klienten bezieht. Shiatsu-Theorie ergänzt sich gut mit Shiatsu-Diagnose und Behandlung, welche das Arbeiten mit der Wechselwirkung des Ki, das sich durch die Kyo-Jitsu Reaktion ausdrückt, beinhaltet. Im Gegensatz dazu ist die TCM-Theorie und -Praxis mehr intellektuell, interpretiert Anzeichen und Symptome und bezieht diese auf die Syndrome.
Diagramm 2: Unterschiede zwischen Shiatsu- und TCM-Diagnose
Der grundsätzliche Unterschied zwischen Shiatsu-Diagnose und TCM ist nicht die verwendete Information, sondern es ist die Richtung der Interpretation zwischen Diagnose und den Symptomen des Klienten. In der TCM geht die Richtung von den Symptomen zur Interpretation der Muster des Ungleichgewichtes. Im Shiatsu erfolgt die Richtung von der Interaktion der Kyo-Jitsu Diagnose zum Ausdruck in den Symptomen (das nebenstehende Diagramm zeigt diesen Unterschied).
TCM und Shiatsu stellen unterschiedliche Anforderungen an die PraktikerInnen. TCM erfordert die Fähigkeit ein Syndrom vom Klienten abzuleiten, basierend auf einer Vielzahl von Interaktionsmodellen, welche die Ursache der Krankheit, die Acht Prinzipien, die Fünf Elemente, die Zang Fu-Funktionen und die Syndrome mit einschließen. Shiatsu erfordert, dass die PraktikerIn das Ki des Klienten unmittelbar über das Hara erfährt, ohne Zuhilfenahme des Intellekts, bis die Diagnose abgeschlossen ist und die entsprechenden Meridiane über ihren Ausdruck mit der KlientIn in Verbindung gebracht wurden.
Strukturelle Unterschiede
Schwierigkeiten können entstehen, wenn die Unterschiede zwischen der Struktur von Shiatsu und der Struktur der TCM missverstanden werden. Die Versuchung ist groß, die beiden Systeme beliebig zu vergleichen, indem man z.B. die Funktionen des Dünndarm-Meridians nach Masunaga-Theorie der Zang Fu Funktion des Dünndarms in der TCM gegenüberstellt; dabei neigt man dazu, die unterschiedliche Art und Weise, wie die Informationen in den beiden Systemen verwendet werden, außer Acht zu lassen. Ein anderes Beispiel: der Vergleich von Fülle und Leere aus den Acht Prinzipien der TCM mit dem Konzept von Kyo und Jitsu. Fülle und Leere beschreiben einen Zustand des Gleichgewichts zwischen dem Ki einer KlientIn und einem Pathogenen Faktor. Kyo und Jitsu repräsentieren eine Wechselwirkung von Meridianenergie. Die beiden sind komplett unterschiedliche Konzepte, und der Versuch sie zusammenzubringen ist zum Scheitern verurteilt.
Der Versuch Shiatsu und TCM gleichzeitig zu benützen, kann verwirrend sein. Ein Beispiel dazu: „die Hara-Diagnose ist Leber Jitsu und Niere Kyo, aber der Klient hat Durchfall und sorgt sich sehr, deshalb kommt die Milz nach TCM Diagnose dazu.“ Problematisch bei diesem Zugang ist, dass eines der Prinzipien der Shiatsu-Diagnose darin liegt, die wechselwirkenden Meridiane im Klienten zu fokussieren, um den maximalen Effekt bei einer Behandlung zu erzielen. Shiatsu-Diagnose ist Kommunikation zwischen der PraktikerIn und dem Klienten, aber nicht eine Methode, um die „richtigen“ Meridiane, die zum Symptom passen, herauszufinden. Eine brauchbarere Möglichkeit, anstatt Milz dazuzunehmen, wäre, zu prüfen, wie die Funktion der Verteilung (Leber) und des Antriebs (Nieren) sich in Verdauungsstörungen und emotionalen Problemen manifestieren. Wenn der Milz-Meridian in dieser Diagnose von Bedeutung gewesen wäre, hätte er sich in der Hara-Diagnose gezeigt.
Ein anderes Missverständnis ist, dass TCM Diagnose langfristige Zustände und Shiatsu-Diagnose kurzfristige Zustände zeigt. Nur weil die Hara-Diagnose im Moment der Sitzung relevant ist, bedeutet dieses nicht notwendigerweise, dass sie akute Zustände anzeigt. Die Hara-Diagnose kann genauso einen chronischen Zustand, dessen Ursprung in der Kindheit liegt oder sogar vorgeburtlich ist, darstellen. TCM-Diagnose wie zum Beispiel das Eindringen von Wind oder gestörtes Shen können sich auch auf akute, kurzzeitige Zustände beziehen.
So, hat TCM nun eigentlich Shiatsu-PraktikerInnen überhaupt etwas anzubieten? Die umfassende Literatur über TCM kann uns im Vertiefen und Verstehen der Ursprünge von Shiatsu unterstützen. Auf klinischer Ebene kann es uns bei der Interpretation der Wahrnehmung von Ki helfen. TCM-Wissen ist notwendig, wenn wir ergänzend zu Shiatsu, TCM-Diagnose oder TCM-Behandlungsmethoden verwenden, wie z.B. Zungendiagnose, Diät, Moxa oder das Aktivieren von Akupunkturpunkten.
Wie auch immer, TCM-Diagnose und -Theorie braucht man nicht, um Shiatsu zu praktizieren. TCM ist kein integrierter Bestandteil des Shiatsusystems und schlussendlich kann sie den Focus der Behandlungen verwässern und ihre Effektivität reduzieren. Zuviel Betonung auf TCM-Analyse kann uns auch in der Entwicklung und Anwendung essentieller Shiatsu-Werkzeuge, die uns zur unmittelbaren Wahrnehmung der Ki-Energie führen, behindern.
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© Cliff Andrews, Mitbegründer des Shiatsu College in Norwich (GB) und Direktor des shiatsucentre.net, cliff@shiatsucentre.net, Telefon: +44 (1)603 632555