Shiatsu – Beruhigung von Körper und Geist (Eduard Tripp)
Der diesjährige Kongress steht im Zeichen des Funktionskreises Herz mit seinen, wie das Kongressprogramm ausführt, körperlichen und psychomentalen Aspekten. Vor allem geht es um Herzerkrankungen, die bei uns im Westen die häufigste Todesursache darstellen, im weiteren aber auch um geistig-psychische Belastungen und Überlastungen, die in Problemen wie beispielsweise Unruhe, Rastlosigkeit, Konzentrations-, Gedächtnis- und Schlafstörungen resultieren.
In meinem Vortrag gehe ich vor allem auf die psychisch-geistigen Aspekte des Herzens, die mit dem chinesischen Begriff „Shen“ bezeichnet werden und die damit in Zusammenhang stehenden Wirkungen von Shiatsu ein.
Alle Störungen der normalen Lebensvollzüge werden in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM; und das zeichnet sie aus!) sehr individuell betrachtet, dennoch lassen sich zwei gänzlich unterschiedliche Muster – die TCM spricht grundsätzlich nicht von Erkrankungen sondern von Disharmoniemustern – beschreiben, nämlich Fülle und Leere, genauer gesagt, Zustände, die durch Fülle und solche, die durch Leere des Organismus gekennzeichnet sind.
Fülle und Leere
Vorstellen kann man sich diese Unterschiede gut in einem sinnbildlichen Vergleich mit einem Automotor. Während aufusbild der einen Seite die Verbrennung von Kraftstoff Wärme erzeugt, sorgt die Kühlung dafür, dass der Motor nicht zu heiß wird.
Bei optimaler Abstimmung wird eine für den Motor optimale Betriebstemperatur aufrechterhalten. Eine ähnliche Abstimmung zeigt sich auf physiologischer Ebene in der Regulation von Aktivität und Erholung mit den ineinandergreifenden Funktionen von Sympathikus und Parasympathikus oder auch der Körpertemperatur, die auf ca. 36 bis 37 Grad gehalten wird.
Kommt es nun zu einer Zunahme der erwärmenden Funktionen – im menschlichen Organismus beispielsweise durch einen grippalen Infekt, eine fiebrige Erkrankung, bei einem Auto durch einen Treibstoff mit höherer Verbrennungstemperatur – führt dies zu einer Temperaturerhöhung im System. Der Motor wird heiß.
Zu einer Temperaturerhöhung kann es aber durch ein Versagen des Kühlsystems kommen. Ist im Kühler, etwa durch eine Undichtheit, zu wenig Wasser, so steigt die Temperatur ebenfalls.
Einerseits kann also ein Übermaß an Yang – womit die Traditionelle Chinesische Medizin die erwärmenden, aktivierenden Funktionen beschreibt (die Begriffe Yin und Yang gehen allerdings weit darüber hinaus) – die Ursache für eine „Temperaturerhöhung“ sein, andererseits eine Schwäche des Yin, ein Mangel im Bereich der kühlenden, beruhigenden Funktionen.
Diese Unterscheidung ist wichtig, weil sie eine bedeutende Rolle für die Behandlung spielt. Handelt es sich nämlich um ein Übermaß (Fülle) an Yang, so ist der Ansatz der Behandlung, dieses Übermaß zu regulieren, die übermäßige Fülle „auszuleiten“. Bei einer Schwäche (Leere) des Yin hingegen zielt die Behandlung auf eine Stärkung des kühlenden Systems, darauf, das Yin „aufzufüllen“.
Die Symptome der Disharmoniemuster, die mit Leere und Fülle assoziiert sind, haben viele Gemeinsamkeiten, z.B. Rastlosigkeit, Unruhe oder Schlafstörung, zeigen aber ein anderes Gesamtbild: Während die Fülle-Form mit genereller Leistungsfähigkeit, Kraft und Stärke verbunden ist, findet sich bei der Leere-Form, die meist auch die chronische Form darstellt, Schwäche und Kraftlosigkeit. Allerdings ist zu beachten, dass die beiden Formen nicht scharf gegeneinander abgrenzt, die Übergänge vielmehr fließend sind. Aus einer Schlafstörung aus Fülle entwickelt sich mit der Zeit eine Schwäche/Leere, weil der Organismus nicht ausreichend regeneriert. Und aus dieser Leere wiederum entwickeln sich entsprechende Symptome. Übermäßige Hitze, um nochmals die Auto-Metapher zu bemühen, verdampft übermäßig Wasser – und in weiterer Folge führt der zunehmende Mangel im Kühlsystem zu mehr und mehr Hitze mit der Gefahr des totalen Motorschadens.
Schlafstörung
Von einer Schlafstörung kann man eigentlich nur dann sprechen, wenn nicht äußere oder vorübergehende (temporäre) Faktoren eine kurzfristige Beeinträchtigung des Schlafes nach sich ziehen, wie z.B. plötzliche Wetterwechsel, ein zu warmes oder zu kaltes Schlafzimmer, eine kurzfristige emotionale Belastung oder auch übermäßiger Tee- oder Kaffeegenuss bzw. übermäßiges Essen am Abend.
Ursachen
Sehr vereinfachend kann man von akuten und chronischen Ursachen sprechen. Akute Ursachen – ich gehe, wie schon gesagt, vor allem auf den psychisch-geistigen Aspekt im Funktionskreis Herz ein – sind meist belastende, oft sogar traumatisierende Erfahrungen und Situationen, die massive und plötzlich auftretende Belastungen bedeuten. Das typische Bild ist das traumatische Erlebnis, das sich im psychologischen Kontext deutlich in der so genannten posttraumatischen Belastungsstörung äußert. Meist treten dabei direkt nach der belastenden Situation keine („krankheitswertigen“) Beschwerden auf. Diese zeigen sich erst nach einiger Zeit, dann wenn es der betroffene Mensch nicht geschafft hat die letztlich traumatisierenden Eindrücke und Erfahrungen gut zu verarbeiten. Typische und häufig auftretende Symptome sind neben einer „emotionalen Betäubung“ häufig Unruhe, Konzentrations- und Schlafstörungen. Betroffene schlafen oft schlecht (kein erholsamer Schlaf), wachen nachts auf, oftmals nach Alpträumen, in denen die belastenden Erfahrungen auftauchen und fürchten sich oft sogar vor der Nacht, vor den Träumen, der Panik, die sie im Schlaf nicht kontrollieren, nicht wegschieben können. Das geht tagsüber leichter, wenn das Wachbewusstsein herrscht, weshalb Betroffene manchmal so lange wach zu bleiben versuchen, bis sie die Müdigkeit überwältigt und sie in einen nahezu ohnmächtigen Schlaf fallen.
Posttraumatische Belastungsstörung
Eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) „entsteht als eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophalen Ausmaßes (kurz oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Hierzu gehören eine durch Naturereignisse oder von Menschen verursachte Katastrophe, eine Kampfhandlung, ein schwerer Unfall oder Zeuge eines gewaltsames Todes anderer oder selbst Opfer von Folterung, Terrorismus, Vergewaltigung oder anderer Verbrechen zu sein … Typische Merkmals sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, flashbacks) oder in Traumen, vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit. Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber … Gewöhnlich tritt ein Zustand vegetativer Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlaflosigkeit auf. Angst und Depressionen sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert und Suizidgedanken sind nicht selten. Drogeneinnahme oder übermäßiger Alkoholkonsum können als komplizierende Faktoren dazukommen.
Anfänglich bleibt der betroffene Mensch noch leistungsfähig, „funktioniert“, vor allem weil er Reserven hat, auf die er zugreifen kann. Zu diesem, von der „Erkrankung“ her gesehen, frühen Zeitpunkt kann man die Fülle-Form der Erkrankung sehen. Typischerweise zeigt sich hier eine rote Zungenspitze, insgesamt aber eine ansonsten (noch) nicht wesentlich belastete oder angegriffene Konstitution (vorausgesetzt der betroffene Mensch war nicht schon vorher in einer Disharmonie).
Mehr und mehr aber macht sich mit der Zeit die Erschöpfung breit, zahlt der Organismus den Preis der anhaltenden Mehrbelastung. Er zehrt sich aus, verliert Energie und Substanz und gerät zunehmend in einen chronischen Erschöpfungszustand mit entsprechender Verfassung und entsprechenden Beschwerden.
Andauernder Stress
Eine andere Entwicklung von Unruhe und Schlafstörungen findet schleichend statt, über die Zeit. Anhaltende Belastungen und Stress – die TCM nennt hier vor allem Überanstrengung, anhaltende Sorgen und übermäßiges Denken – höhlen den Organismus zunehmend aus, erschöpfen ihn über die Zeit und führen ebenfalls zu den schon oben angeführten Beschwerden im Herz-Bereich. In der Sprache der TCM sagt man, dass Belastungen der Leber zu Belastungen im Herz (Belastungen des Shen) führen. Wir können uns Dauerstress wie eine leichte Temperaturerhöhung vorstellen, die immer ein wenig mehr verbraucht, mehr Wasser verdampft. Anfangs macht uns dies kaum etwas aus, kann dieser Mehrverbrauch gut „weggesteckt“ werden. Wenn allerdings die Erholungsphasen über längere Zeit fehlen, kann das Defizit nicht wieder ausgeglichen und das bisherige Gleichgewicht mit der Zeit nicht weiter aufrecht erhalten werden. Es kommt zu einem zunehmenden Substanzverlust, die Reserven werden aufgebraucht, schließlich die Grundlagen des normalen physiologischen Funktionierens angegriffen. Der Organismus kippt in einen unnatürlichen Aktivitätszustand und verliert damit auch zunehmend die Fähigkeit zur Regeneration. Unruhe und Schlafstörungen sind nun an der Tagesordnung, verbunden mit sinkender Leistungsfähigkeit, emotionaler Dysbalance und vielen anderen Symptomen, die auch unter dem Begriff des Burn-out zusammengefasst werden.
In einer solchen Situation ist es ein primäres Ziel der Behandlung, den Organismus wieder zur Regeneration zu befähigen. Die TCM zielt auf Substanzaufbau, um dem Organismus die Funktionen des Schlafs und der Regeneration wieder zu ermöglichen. In erster Linie geht es darum, wieder entspannen und schlafen zu können – zur Ruhe kommen können, um Kraft für das Leben und die Lebensziele zu schöpfen.
Behandlungsansätze
Der einfachste, oft beschrittene Weg, der auf Dauer aber problematisch ist (auch in Abhängigkeit davon, welche Mittel eingesetzt werden), ist die Einnahme von Schlaf- und Beruhigungsmitteln – sehr zur Freude auch der Pharmaindustrie, die große Umsätze mit entsprechenden Präparaten macht. Dazu sei gesagt, dass Medikamente (östliche und westliche) oftmals eine hilfreiche Unterstützung darstellen, die Behandlung aber nicht beschränkt auf den medikamentiven Aspekt bleiben sollte. Letztliches Ziel sollte es sein, betroffene Menschen wieder zu befähigen, selbst ins Gleichgewicht zu kommen.
In der Behandlung von Unruhe und Schlafstörungen – immer ist aber z.B. durch Konsultation eines Arztes oder Psychotherapeuten abzuklären, ob andere, möglicherweise schwerwiegende Erkrankungen der Dysbalance zugrunde liegen – gibt es zwei Ansätze, die unter Umständen auch kombiniert werden können und müssen: Zum einen die Beruhigung durch „Abschwächung“ oder „Sedierung“ des Yang und andererseits die „Stärkung“ oder „Tonisierung“ des Yin-Aspekts.
In der Art und Weise, wie dies geschieht, unterscheiden sich die unterschiedlichen Methoden in der TCM ein wenig, verfolgen aber alle das gleiche Prinzip. Die manuellen Methoden ähneln dabei in ihrem Ansatz am deutlichsten dem der Akupunktur. Steht die Fülle im Vordergrund, geht es vor allem um sedierende, abschwächende Methoden und Tsubos (Akupunktur- oder Energiepunkte), die den Überdruck gleichsam ausleiten, verbrauchen. Wichtige Punkte sind hier vor allem Herz 7 und Herz 8, die im Bereich des Handgelenks und der Handinnenfläche gelegen sind und die man auch selbst stimulieren kann.
Ist Hitze in der Lebe oder Leber-Feuer, wie es die TCM nennt, ein wesentlicher Aspekt der Dysbalance, die sich z.B. durch unruhigen und traumgestörten Schlaf, Alpträume, Reizbarkeit, eventuell auch Kopfschmerz und bitterer Mundgeschmack (diagnostisch zeigt sich die Hitze im Bereich des Leber-Systems) äußert, so werden als wichtige Punkte Leber 2, Leber 3, Gallenblase 12, Gallenblase 20, Gallenblase 34 und Gallenblase 44 wie auch Blase 62 und Niere 6 genutzt.
In der Praxis des Shiatsu bewährt sich zudem die Behandlung des Blasen-Meridians, der von den Augen über den Kopf, über den Nacken und die Rückenstrecker (die Muskulatur auf der Rückseite des Körpers neben der Wirbelsäule), das Gesäß und die Rückseite der Beine bis hinunter zur kleinen Zehe verläuft.
Das Energiekonzept der TCM
Für das Verständnis dieses Ansatzes ist es notwendig zu wissen, dass aus traditioneller chinesischer Sicht die Energien des Körpers einem regelmäßigen, zeitlichen Lauf folgen, ähnlich wie die Jahreszeiten. Zeiten des Aufbruchs und der Expansion folgen Zeiten des Rückzugs und der Sammlung im Inneren, ein immer wiederkehrendes Öffnen und Schließen, gleichsam wie Tag und Nacht jeweils ineinander übergehen und sich in ihrer Unterschiedlichkeit ergänzen.
Dieses rhythmische Geschehen in unserem Körper hat heute auch in der westlichen Medizin – in der so genannten Chronomedizin – einen wichtigen Stellenwert erhalten. Die Traditionelle Chinesische Medizin geht hier aber noch weiter und weiß von der Entsprechung dieser rhythmischen Vorgänge auf der körperlichen Ebene im Fluss der Energie im Kreislauf der Meridiane.
Eine Fülle im Funktionskreis Herz kann deshalb sowohl über den Herz-Meridian wie auch den Dünndarm- und Blasen-Meridian und deren Punkte behandelt werden, denn vom Herz-Meridian fließt die Energie weiter in den Dünndarm-Meridian (der Dünndarm hat in der TCM die Funktion der Aufnahme von überschüssiger Energie aus dem Herzen) und von dort in den Blasen-Meridian, der die überschüssige Hitze über die Urin-Ausscheidung abgibt (deshalb auch stressbedingte Blasenentzündungen) – was die beruhigende und ausgleichende Wirkung der Behandlung des Blasen-Meridians erklärt. (Zudem hat der Blasen-Meridian – über die Shu-/Zustimmungs-Punkte, die entlang der Wirbelsäule liegen und auf alle Organsysteme des Körpers einzuwirken vermögen – eine generelle Wirkung auf den gesamten Organismus.)
Eigenbehandlung des Blasen-Meridians
Eine einfache Möglichkeit, den Blasen-Meridian selbst zu behandeln und zu entspannen – und damit auch Stress, der sich im Rücken oftmals niederschlägt, zu eliminieren – ist die Selbstmassage mit Hilfe von Tennisbällen. Dazu legt man sich mit dem Rücken auf den Boden (auf eine nicht zu weiche Unterlage, z.B. einem Teppich oder eine Turnmatte) auf zwei Tennisbälle, einer links und einer rechts der Wirbelsäule im Bereich der Rückenstreckmuskulatur. Langsam mehr und mehr loslassen, das gesamte Gewicht auf den Boden und damit die Tennisbälle sinken lassen, so dass sich lokal der angesprochene muskuläre Bereich und letztlich der ganze Körper entspannen können. Nach einiger Zeit verändert man die Position der Tennisbälle und behandelt auf diese Weise den ganzen Rücken.
Die Behandlung des Blasen-Meridians ist aber nicht nur bei einem Fülle-Zustand günstig, sondern auch bei Leere. Hier sind Punkte wie Blase 15, Blase 17, Blase 18, Blase 20 und Blase 23 von Bedeutung, Punkte die den den Aufbau von Substanzen fördern und unterstützen, ebenso wie beispielsweise auch die Anregung von Magen 36, Milz 6 und der Extrapunkt Yintang, der in der Mitte zwischen den beiden Augenbrauen beheimatet ist.
Was ist Shiatsu?
Nachdem wir jetzt schon über die Anwendung von Shiatsu – im Wesentlichen analog zur Akupunktur – gesprochen haben, möchte ich den Hintergrund und den Ansatz von Shiatsu darzustellen:
Wie schon erwähnt umfasst die Traditionelle Chinesische Medizin verschiedene Behandlungsansätze, nämlich
- Pharmakologie (auch als Kräuterheilkunde bezeichnet, wenngleich sie sich nicht auf Kräuter beschränkt),
- Akupunktur und Moxibustion,
- Manuelle Behandlung (Tuina),
- Bewegungstherapien wie Taiji, Qigong,
- Diätetik (Ernährungslehre)
- und letztlich noch Feng Shui (die allerdings im wissenschaftlichen Verständnis mehr der Esoterik zugeordnet wird).
Tuina als manuelle Behandlung der TCM wurde geschichtlich schon sehr früh ergänzend und teilweise auch alternativ zu den anderen Behandlungsansätzen angewendet. Jeder traditionelle Arzt wurde deshalb auch in der manuellen Behandlung ausgebildet und hat sie im Bedarfsfall, meist zusätzlich zu anderen Therapien, auch angewendet. Bekannte Beispiele für die Anwendung von Tuina anstelle von Akupunktur sind vor allem kleinen Kinder oder Menschen, die auf Akupunktur mit einem so genannten „Nadelkollaps“ reagieren.
Shiatsu wiederum hat sich aus den Wurzeln der TCM und vor allem der Tuina entwickelt. Geburtsstätte von Shiatsu war allerdings Japan, wo dieselbe traditionelle Medizin gepflegt wurde wie in China. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde aus den Grundlagen und Methoden der Tuina einerseits, moderneren, westlich beeinflussten Behandlungsansätzen andererseits sowie traditionellen japanischen Elementen Shiatsu entwickelt – und hat sich seither auch unter dem Einfluss westlicher Medizin und Wissenschaft in Europa ebenso wie in Japan weiterentwickelt.
Wörtlich übersetzt bedeutet Shiatsu “Fingerdruck” und lässt es sich wohl am besten als eine einfühlsame, achtsame, leicht erlernbare und sehr wirkungsvolle Arbeit am Körper beschreiben, die unsere natürlichen Selbstheilungskräfte aktiviert und Blockaden im Fluss unserer körpereigenen Energien löst. Charakteristisch für Shiatsu ist – neben der Grundlage der Arbeit auf Basis des energetischen Systems der Meridiane und dem Hintergrund der TCM – die Arbeit aus dem Hara.
Arbeit aus dem Hara – Hara ist das japanische Wort für den Bauch, das Zentrum der organismischen Energie – und damit eine ganz spezifische Art und Weise der Berührung und Anwendung von Druck, die aus einer inneren Zentrierung der BehandlerIn heraus und der damit verbundenen Ausnützung der Schwerkraft erfolgt.
Shiatsu als Beruf
Shiatsu hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts von Japan aus in der Welt verbreitet. In Österreich wird Shiatsu seit etwa 25 Jahren angewendet und seit nahezu dieser Zeit auch unterrichtet. Seit zirka zehn Jahren ist Shiatsu in Österreich als eigenständiger, gewerblicher Beruf (im Rahmen des Massage-Gewerbes) anerkannt. Die derzeit gültige Rechtslage stammt aus 2003 und schreibt vor, dass angehende Shiatsu-PraktikerInnen eine zumindest dreijährige Ausbildung mit mindestens 650 Stunden absolvieren müssen, um ein qualitativ hochwertiges und professionelles Shiatsu anbieten zu können.
Die Qualitätskontrolle obliegt dem Österreichischen Dachverband für Shiatsu, der professionelle Ausbildungen garantiert und auch eine Weißliste von PraktikerInnen zur Verfügung stellt.
Spezifische Wirkungen der direkten Arbeit am Körper
Einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen Akupunktur und manuellen Behandlungsformen macht die direkte Berührung aus. Der direkte Kontakt zwischen den Händen der BehandlerIn und dem Körper der KlientIn, der/m Shiatsu-Empfangenden, greift zusätzlich zu den erwähnten Wirkungsweisen auf ein ganz primäres Erleben von uns allen zurück. Die primäre Erfahrung der Beruhigung in unserem Leben haben wir schon als Neugeborene in den Armen/Händen unserer Mutter erlebt. Von ihr liebevoll gehalten, angedrückt und gewiegt zu werden, vermittelt dem Säugling ein Gefühl der Geborgenheit, der Sicherheit, des Zu-Hause-Seins und damit der Beruhigung. Nicht jede Art der Berührung allerdings vermittelt dieses Gefühl, es bedarf dabei schon einer besonderen Qualität derselben – wie es Mütter „intuitiv“ (letztlich aus ihrer eigenen Erfahrung heraus) machen. Wesentliche Aspekte des „Wie“ der beruhigenden Berührung sind ihre Intensität, ihre Dauer, ihre Focusierung und ihr Rhythmus – Qualitäten, die von der BehandlerIn jeweils an die Shiatsu-Empfangende individuell angepasst werden.
Entspannung erleben
Anspannung ist ein In-der-Welt-Sein, in dem Kontrolle notwendig ist. Vereinfacht ausgedrückt wurde hier aus letztlich leidvoller Erfahrung das Vertrauen verloren, dass Loslassen, das Abgeben von Verantwortung an Andere gefahrlos möglich sein kann. Der Zustand andauernder Anspannung ist für den Organismus aber ein Zustand der fortdauernden Bedrohung (jederzeit ist man Gefahren ausgesetzt, die Bedrohung ist allgegenwärtig), der seinen Preis fordert.
Ein wesentlicher, auf gewisse Weise allgemeiner Aspekt der Shiatsu -Behandlung (allgemein, weil unabhängig vom benützten Meridian, Funktionskreis) kann in dieser Situation das Erfahren von, in gewissem Sinne die „Einübung“ in Loslassen und Entspannung sein. Sich den unterstützenden Händen der BehandlerIn anvertrauen (lernen), wieder das Gefühl entdecken, sich unterstützt zu fühlen und – metaphorisch gesprochen – gehalten und getragen zu werden.
Hilfreich kann eine solche Unterstützung auch für Menschen sein, die durch schwerwiegende Erkrankungen – und oftmals auch durch die Behandlung dieser Erkrankungen – sehr leidvolle Erfahrungen gemacht haben und zudem oftmals auch noch den Druck in sich spüren, die Last der Erkrankung alleine tragen zu müssen, das persönliche Umfeld (und manchmal auch das weitere) damit nicht belasten zu wollen oder zu dürfen. Eine Quelle der Kraft kann es sein, sich wieder anvertrauen und fallen lassen zu können in einem geschützten und umsorgenden Umfeld – Kraft, um besser mit der schwierigen und belastenden Lebenssituation umgehen zu können.
Vorsorge
Eine große Stärke von Shiatsu liegt allerdings – neben der Begleitung von Menschen in schwierigen und belastenden Lebensumständen ganz generell – in der Vorbeugung, der Vorsorge. Gerade dann, wenn sich (noch) keine Disharmonien gebildet und verfestigt haben, ist der Nutzen von Shiatsu groß und denn durch die Anregung der Selbstregulationskräfte (man spricht auch von Selbstheilungskräften) wird der Organismus in seiner Aufgabe unterstützt, Erkrankungen erst gar nicht aufkommen zu lassen. Die beste Medizin, so formulierte es sch über 2000 Jahre alte Klassiker der Traditionellen Chinesischen Medizin, das Huangdineijing, ist die Medizin, die eine Erkrankung erst gar nicht aufkommen lässt.
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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at). Vortrag, gehalten am 3. Oktober 2009 im Rahmen des Publikumskongresses “TAO der Lebenskraft – Funktionskreis Herz/Shen