Shiatsu bei seelischen Problemen (Wilfried Rappenecker)
Seelische Probleme könnte man als subjektiv im Erleben – und hier u.a. in den Gefühlen – erfahrenes länger andauerndes Unwohlsein oder Not definieren. Es liegt in der Natur des Seelischen, dass es ausschließlich im subjektiven Erleben erfahren wird. Zwar kann auch ein vertrauter Betrachter bei einer anderen Person seelisches Erleben beobachten, aber auch das ist wieder subjektiv und entzieht sich grundsätzlich und erfolgreich jedem Versuch einer genauen Erfassung mit Worten bzw. einer Objektivierung.
Seelische Probleme sind nicht auf das „Seelische“ allein beschränkt. Vielmehr zeigen sie sich – wie jeder Körperarbeiter weiß – immer im ganzen Menschen, also auch in seinem Körper. Darüber hinaus zeigen sich viele heftige seelische Konflikte sogar in erster Linie im Körper, ohne dass dem betroffenen Menschen die seelische Dimension bewusst wäre. Wir Menschen neigen ganz natürlich dazu, das unangenehm bedrohende, schmerzhafte Erleben aus unserem Alltag auszublenden. Gerade dann, wenn wir es aus unserem Bewusstsein verbannt haben, wird unser inneres Geschehen den Weg über den Körper suchen und finden, um sich nach außen zu zeigen.
Umgekehrt sind auch körperliche Probleme immer im seelischen Erleben eines Menschen präsent. Das den körperlichen Schwierigkeiten zugrunde liegende energetische Geschehen zeigt sich auch in seinem Lebensgefühl, in seinen Gedanken, Emotionen, Hoffnungen, Ängsten usw.
Seele und Körper lassen sich eben nicht von einander trennen. Beide sind Ausdruck einer tieferen Dynamik, eines grundlegenden, man kann auch sagen: umfassenderen energetischen Geschehens. Beide, der Körper und die Seele, drücken das Energetische aus. Sie sind verschieden und dennoch (unterschiedlicher) Ausdruck des Gleichen und geben darum auf verschiedene Weise die gleichen Grundinformationen wider. Dieses Energetische kann in der Therapie auf all die verschiedenen Weisen erreicht werden, in denen Menschen sich begegnen. Dies können z.B. Gespräche sein, körperliche Berührung, gemeinsames Erleben bzw. gemeinsam in einem Augenblick sein.
In einer Shiatsu-Behandlung findet all das statt, und darum ist Shiatsu eine Methode, um Menschen mit seelischen Problemen Unterstützung anzubieten. Dies ist möglich, weil Shiatsu nicht nur Körperarbeit ist, sondern ganz wesentlich energetischer Kontakt, der die Tür zum seelischen Raum eines Menschen öffnet. Shiatsu ist weder eine Methode, um ausschließlich mit seelischen Problemen zu arbeiten noch eine solche für ausschließlich körperliche Symptome. Shiatsu umfasst ganz natürlich beides.
Die Grundlage jedes professionellen Shiatsu, so auch in der Arbeit mit seelischen Problemen, ist zum einen die Wahrnehmung der physischen Muster im Körper eines Menschen, so wie sie seine augenblickliche Lebenssituation, auch die seelische, widerspiegeln. Von diesen spezifischen Mustern geht die Behandlung aus, berührt (besonders auffällige) Schlüsselbereiche und achtet auf die Veränderungen als Folge der Berührung. Dies mögen langfristig bestehende körperliche Muster sein, die die Persönlichkeit und die häufig unbewussten Glaubenssätze eines Menschen widerspiegeln. Es können aber auch solche sein, die eine aktuelle Situation ausdrücken, das Erleben dieses Tages oder sogar dieser Behandlung.
Shiatsu ist aber, wie bereits gesagt, noch mehr. Neben der Körperarbeit ist Shiatsu auch und vor allem die Berührung des energetischen Raumes eines Menschen. Dieser Raum ist einerseits jenseits des Körperlichen, andererseits findet er sich aber gerade auch im Körper und in der körperlichen Berührung. Konkret bedeutet dies, dass eine erfahrene Shiatsu-BehandlerIn den energetischen Raum und seine Strukturen ebenso wahrnimmt wie den physischen Körper (z.B. die Situation energetischer Organe und Meridiane, aber auch das energetische Muster beispielsweise in einem schmerzenden Gelenk). Nur folgt die Wahrnehmung des Energetischen anderen Gesetzen als die Wahrnehmung des Materiellen.
Während z.B. ein materieller Körper klare Umrisse und Grenzen aufweist, liegt es in der Natur des Energetischen, dass es solche Grenzen nicht gibt, vielmehr steht alles mit allem in Verbindung. Eine Folge dieser Tatsache (neben anderen) ist, dass die energetische Wahrnehmung immer ein wenig unscharf ist – die klaren Konturen fehlen (weshalb ein Anfänger ihr oft nicht über den Weg traut).
Trotzdem sind auch im Energetischen sehr konkrete Strukturen wahrnehmbar, die zudem leichter auf Berührung reagieren als der physische Körper, und deren Veränderung man ebenso deutlich wahrnehmen kann. Körperliche und energetische Muster bestehen immer gleichzeitig, sie bedingen einander und es ist letztlich unmöglich, sie eindeutig auseinander zu halten. So mag z.B. ein Mensch in einer schwierigen seelischen Situation große Anspannung in den Handgelenken zeigen. Nimmt man ein Handgelenk in die Hand, so ist die Anspannung sofort zu fühlen. Spürt man nun mit der Inneren Aufmerksamkeit dieser Spannung nach, so wird man vielleicht feststellen, dass sie nicht homogen im Gelenk verteilt ist, sondern dass es Orte gibt, an denen sie besonders ausgeprägt ist, während an anderer Stelle das Handgelenk vielleicht kraft- und spannungslos erscheint.
Ein Teil dieser Muster lässt sich mit dem Tastsinn erspüren, vieles aber entzieht sich der taktilen, körperlichen Wahrnehmung. Die Innere Aufmerksamkeit geht da weiter: mit ihr kann man auch im Inneren des Körpers energetische Stränge verfolgen. Letztlich kann man mit ihr an jede Stelle des Körpers reisen, denn auf der materiellen Ebene ist der physische Körper zwar solide, energetisch gesehen jedoch ist er ein offener Raum, durch den man mit der Reinen Aufmerksamkeit zu wandern vermag.
Ebenso wie die Handgelenke können viele andere Bereiche des Körpers in seelischen Krisen auffällige Spannungsmuster zeigen. Typische Orte sind z.B. die Kaumuskulatur unterhalb des Jochbein (die so sehr angespannt sein kann, dass ein Mensch des nachts seine Zähne in Grund und Boden knirscht), der Hals, der angespannt und eng sein kann (vielleicht mit dem Gefühl, einen Kloß im Hals zu haben), der Brustkorb (z.B. blockierte Rippen oder vielleicht das Gefühl, nicht tief durchatmen zu können), das obere Brustbein (wo nicht selten ein Druckgefühl vorherrscht oder auch das Gefühl, als sitze dort etwas fest, so dass man sich beständig räuspern oder husten muss), zwischen den Schulterblättern (z.B. hartnäckige ziehende Schmerzen oder Gefühllosigkeit), der Oberbauch (z.B. Druckgefühl, Schmerzen oder einfach sehr hart), der untere Rücken, das Becken, die Knie usw.
Im Grunde kann sich jede Stelle des Körpers in dieser Weise zu Wort melden und zu verstehen geben, dass ein Thema im Leben dieses Menschen näher angeschaut und tiefer verstanden werden möchte. Eines haben sie alle gemeinsam: die erhöhte Spannung ebenso wie der Mangel an Spannung sind nicht Ausdruck eines Fehlers im System, vielmehr haben sie eine Aufgabe zu erfüllen und das tun sie meistens sehr effektiv. Im Prinzip geht es darum, dass etwas verhindert werden soll, von dem „das Unbewusste“ im Menschen glaubt, das es sein momentanes Gleichgewicht zu stören droht, wenn es einfach stattfinden darf.
Nahezu alle Schmerzen (außer z.B. solche bei physischen Verletzungen bzw. in der akuten Heilungsphase von körperlicher Verletzung wie auch Schmerzen in Zusammenhang mit akuten Erkrankungen), körperliche wie seelische, sind Ausdruck einer solchen Vermeidung. Da die Kräfte, die vermieden werden sollen, sehr stark sind, müssen auch die Blockaden, die ihnen entgegengestellt werden, ausgeprägt sein. Darum sind deren energetische und physischen Manifestationen für das geübte „Auge“ oft gut wahrnehmbar, und der Shiatsu-Therapeut kann mit ihnen direkt und gezielt arbeiten und eintretende Veränderungen wahrnehmen.
Dabei macht es eigentlich keinen Unterschied, ob sich die energetische Blockade im Bewusstsein des betroffenen Menschen in erster Linie im physischen Körper oder im seelischen Erleben manifestiert. Mit dem zugrunde liegenden energetischen Muster und seinem körperlichen Ausdruck kann im Shiatsu in jedem Fall wirksam gearbeitet werden, die Veränderungen können von Behandler und Behandeltem auf unterschiedliche Weise wahrgenommen werden.
Wenn dann mit den spannungsgeladenen Orten (Jitsu) ebenso wie mit Bereichen gegensätzlicher Qualität (z.B. spannungslos, Kyo) direkt gearbeitet wird, die Gegensätze z.B. miteinander bzw. auch mit anderen, entlegeneren auffälligen Bereichen verbunden werden, lässt sich die eintretende Veränderung sofort wahrnehmen: Die extremen Gegensätze z.B. von Spannung und Tonusmangel lassen nach, das kompromisslos Harte wird weicher, das Leere füllt sich tendenziell. Meist finden solche Veränderungen zuerst im energetischen Raum statt bevor sie sich auch körperlich zeigen, und die Innere Aufmerksamkeit registriert die energetische Reaktion vor der körperlichen.
Werden die Gegensätze weicher, grenzen sich die Bereiche weniger von einander ab und kommunizieren besser miteinander. Da seelisches wie auch körperliches Leid – wie oben bereits gesagt – Ausdruck von Vermeidung, Abgrenzung und eingeschränkter Kommunikation sind, erhält der Mensch in diesem Augenblick die Freiheit, Verbindungen entstehen zu lassen, die vorher vielleicht nicht möglich waren. Die Folge können z.B. einfach neue Gedanken sein; sich anders in seinem Körper, in seinem Leben zu fühlen, was ein besseres Verstehen und die Freiheit ermöglicht, es anders zu machen, neue Wege zu gehen. Die eintretenden Veränderungen nimmt die Behandlerin jedoch nicht nur lokal, z.B. im Bereich von Beschwerden wahr. Vielmehr verändert sich meist auch der Ausdruck der ganzen Person und ihres „Energiefeldes“. Das sich während einer Shiatsu-Behandlung verändernde Lebensgefühl eines Menschen zeigt sich von außen deutlich wahrnehmbar in seinem unmittelbaren Lebensraum. Solche Veränderungen und Entwicklungen wahrzunehmen ist besonders wichtig in der Arbeit mit seelischen Themen.
Verblüffend war es für mich, hierbei zu entdecken, dass die den seelischen und körperlichen Schmerzen zugrunde liegenden energetischen Muster ihrer Natur nach einfach sind. Bei allem Leid, aller Ratlosigkeit und komplizierten, scheinbar nicht mehr zu lösenden bzw. zu entwirrenden persönlichen Problemen ist das eigentliche energetische Geschehen selber niemals kompliziert. Es mag komplex sein aber es ist immer einfach. Das ist sehr beruhigend, weil es besagt, dass wir in dieser Arbeit keinerlei komplizierten Probleme lösen müssen, und dass es für den Klienten immer eine Lösung gibt (selbst dann, wenn er sie nicht findet). Und es erlaubt einen gesunden Optimismus, den wir auch an unsere Klienten weitergeben sollten, insofern wir diese Einfachheit erkannt haben.
In einer solchen Arbeit kann das begleitende Gespräch wichtig werden. Nicht im Sinne einer verbalen Intervention wie in der Psychotherapie sondern als Gespräch, das das Erleben des Klienten in der Behandlung und darüber hinaus reflektiert. Die BehandlerIn nutzt darin all ihre Lebens- und professionelle Erfahrung, um den Möglichkeiten des Klienten mehr Freiheit, mehr Raum anzubieten. Ziel ist es, durch bessere Kommunikation vorher voneinander getrennter Bereiche dem Menschen neue Möglichkeiten anzubieten. Ein Mehr an Freiheit, neue Lösungen für die Herausforderungen des Lebens zu finden. Um diese Freiheit geht es letztlich in jeder ganzheitlichen Therapie. Shiatsu wählt dabei den Weg über den physischen und energetischen Körper, um auch der Seele Unterstützung zu geben.
Dies sind einige Prinzipien eines Shiatsu mit seelischen oder körperlichen Problemen (denn da besteht kein Unterschied):
- Den Klienten um genaue Informationen bitten
- Den Klienten und seine Muster auf der körperlichen wie der energetischen Ebene aufmerksam wahrnehmen und in einen sinnvollen Zusammenhang bringen mit den Schilderungen des Klienten (Arbeitshypothese)
- Der eigenen Wahrnehmung und Empfindung vertrauen; gleichzeitig sich der Begrenztheit und Verzerrtheit der eigenen Wahrnehmung bewusst sein und jederzeit bereit sein, das Eigenbild, die eigene Vorstellung vom Klienten zu korrigieren
- Sehr konkret mit den Mitteln des Shiatsu mit den wahrgenommenen Mustern arbeiten und alle zur Verfügung stehenden Resourcen nutzen
- So weit wie möglich den ganzen Menschen sehen, gerade auch seine Stärken und seine Möglichkeiten
- Eintretende Veränderungen wahrnehmen und die Erfahrungen des Klienten achten
- Die Verantwortung für sein Wohlergehen beim Klienten lassen.
- Vertrauen in das tiefe innere Wissen des Klienten, das ihn den Weg einschlagen lässt, der durch die Krise zu neuen Möglichkeiten führt. Nur er selber kann ihn finden und gehen.
- Wir werden ihn mit unseren Möglichkeiten unterstützen, jedoch nicht oder nur sehr zurückhaltend korrigierend eingreifen, es sei denn es droht akute Gefahr, dass dieser Mensch sich selber verletzt.
- Die eigenen vordergründigen Vorstellungen und Wünsche, was für den Klienten gut sein mag, hinten anstellen.
- Emotionale Reaktionen und Projektionen / Wünsche des Klienten als Teil seiner momentanen Situation begreifen; wo dies möglich ist, sie geschehen lassen und das Geschehen aushalten (z.B. wenn ein Klient in der Behandlungssituation tiefe Trauer oder ein anderes Leid erlebt).
Ist es wirklich so einfach?
An dieser Stelle entstehen naturgemäß Fragen. Fragen, ob es wirklich so einfach ist und ob wir im Shiatsu „einfach so“ mit Menschen mit seelischen Problemen arbeiten können oder dürfen. Zum Beispiel:
- Sind nicht viele seelische Probleme durch erlebte Traumata, z.B. in der frühen Kindheit verursacht, und müssen solche Traumata nicht in einer Psychotherapie behandelt werden?
- Können in der Arbeit mit Menschen mit seelischen Problemen Situationen entstehen, die ich ohne eigene psychotherapeutische Qualifikation nicht zu kontrollieren vermag und kann ich so u.U. schweren Schaden verursachen?
- Muss nicht bei vielen seelischen Problemen die Ursache (z.B. ein erlebtes Trauma) bewusst werden, damit Heilung geschehen kann?
Hier einige Gedanken zu diesen Fragen
Sind nicht viele seelische Probleme durch erlebte Traumata, z.B. in der frühen Kindheit verursacht, und müssen solche Traumata nicht in einer Psychotherapie behandelt werden?
In einer Gesellschaft, die seit über 50 Jahren den menschlichen Emotionen und dem seelischen Erleben allergrößte Bedeutung beimisst, und vor allem leidvolle Emotionen und seelisches Erleben typischerweise als eine Folge negativer oder traumatischer (frühkindlicher) Erfahrungen versteht, sehen sehr viele Menschen sich in ihrem seelischen Erleben als Opfer früher erlittenen Unrechts. Paradoxerweise stellt gerade dieser Irrtum eine der wichtigen Ursachen für seelisches Leid dar.
Meiner Ansicht und Erfahrung nach sind seelisch schwierige Zeiten in ihrem Kern jedoch nicht auf früher erlittene Traumata zurückzuführen. Solche Verletzungen in der Vergangenheit können zwar ein Teil der Krise sein, ihr Wesen mit prägen, sie sind aber nicht ihre Ursache. In der Regel sind es krisenhafte Zeiten des inneren Umbruchs, der anstehenden Veränderung, in denen das Leben schwer wird. Äußere Ereignisse sind meist nur Auslöser. Zeit seines Lebens wächst der Mensch und entfaltet sich. Dieses Wachstum geht in der Regel nicht kontinuierlich vor sich sondern in Schüben. Solche Schübe werden nicht selten als körperliche und/oder seelische Krise, als schwierig und schmerzhaft erfahren. Traumatische Erfahrungen selber können solche Krisen auslösen. In meinem Artikel zu dem Thema „Was ist Gesundheit?“ bin ich näher hierauf eingegangen.
Shiatsu in seelischen Wachstumskrisen in diesem Sinne zielt darauf ab, einem Menschen die Möglichkeit anzubieten, zu sich selbst zu stehen, die Verantwortung für sich selbst, den eigenen Weg (und ggf. den Umgang mit einer Verletzung) zu übernehmen. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass wir nichts für unsere Klienten lösen müssen, dass es vielmehr darauf ankommt, in dieser schwierigen Zeit mit Shiatsu und unter Umständen mit Worten zu begleiten, zu unterstützen, unter Umständen auch Anregungen zu geben, damit dieser Mensch seine eigenen Lösungen finden kann.
Es ist bezeichnend für unsere psychotherapeutisch orientierte Gesellschaft, dass in der Umgangssprache der Begriff „Therapie“ fälschlicherweise synonym für Psychotherapie verwandt wird. Psychotherapie ist jedoch nur eine von vielen Möglichkeiten des Umgangs mit seelischen Krisen. Daneben gibt es viele andere therapeutische Wege, eine davon stellt Shiatsu dar.
Shiatsu ist nicht generell besser oder schlechter als Psychotherapie, es ist einfach eine andere Methode. Welche die geeignete ist, hängt von der Situation eines Menschen ab, z.B. von seinen Erfahrungen, Informationen und Erwartungen und von den Therapeuten, die er trifft.
Ob Shiatsu die richtige therapeutische Methode für einen Menschen in einer seelischen Krise darstellt, hängt von einer ganzen Reihe von Faktoren ab, von denen die Erwartungen des Klienten und die Erfahrung des Behandlers zu den wichtigeren zählen. Manchmal kann es hilfreich sein, vorübergehend beide Methoden zu kombinieren. So kann z.B. Shiatsu dabei helfen, dass sich Knoten im Verlauf einer Psychotherapie leichter lösen, oder eine Psychotherapie den Erfahrungen des Körpers im Shiatsu mehr Sinn geben.
Da Shiatsu nicht besser ist als andere Methoden kann es natürlich auch richtig sein, einen Klienten an einen Vertreter einer anderen Disziplin z.B. einen Psychotherapeuten weiterzuleiten. Dies gilt vor allem wenn der Klient eine andere Methode wünscht oder wenn der Therapeut sich nicht sicher ist, dass er die entstehende Situation „halten“ kann.
In der Arbeit mit Menschen in seelischen Notlagen kann das begleitende Gespräch einen größeren Stellenwert erhalten als sonst im Shiatsu. Das muss aber nicht so sein. Ob es so ist, hängt von Interesse und Qualifikation der behandelnden Person, den Erwartungen des Klienten und den Erfordernissen der konkreten therapeutischen Situation ab.
Ein Wort zu früheren Traumata
Natürlich sind vergangene traumatisierende Erfahrungen durchaus wichtige potentielle Faktoren für das Auftreten aktueller seelischer Krisen und können eine große Wirkung auf das weitere Leben eines Menschen ausüben. Negative Langzeitfolgen von Verletzungen werden aber nicht in erster Linie durch die Verletzung selber hervorgerufen, sondern vor allem durch die Art und Weise des individuellen Umgangs mit ihnen. Wie wir mit ihnen umgehen, hängt davon ab, wer wir sind, welches Werkzeug wir in unserer Persönlichkeit für diese Auseinandersetzung vorfinden und welche Unterstützung wir suchen (und finden). Insofern macht der Umgang mit Traumata, Verletzungen und Unrecht, das uns zugefügt wurde, tiefgehende Aussagen über unsere Person.
Die Mehrzahl der Menschen lernt gerade in der oft schweren Zeit nach traumatisierenden Erfahrungen, während sie diese durchleben und verarbeiten, Entscheidendes für das eigene weitere Leben. Ja, diese Erfahrungen können zu den wichtigsten Kräften für das Wachstum der Persönlichkeit werden. Wenn solche Erkenntnis- und Lernschritte aus Gründen einer individuellen Lebenssituation nicht gemacht werden können, so bleibt der Mensch in der nicht zu Ende gelebten Erfahrung quasi stecken.
Eine Erfahrung ausblenden, negieren, ablehnen, nicht spüren wollen oder können, sich als Opfer fühlen (und damit Verantwortung von sich wegschieben – es ist ja so offensichtlich, wer die Schuld trägt…) bedeutet, sie zu unterbrechen, zu blockieren. Eine unvollendete Erfahrung aber kann sich immer und immer wieder krisenhaft im Leben dieses Menschen zu Wort melden und u.U. vehement ihr Recht einfordern, weiter gelebt zu werden. Aus dieser Sicht ist die Ursache für das gegenwärtige Leid nicht die vergangene Erfahrung, sondern die heutige Unfähigkeit, sie ganz geschehen, dadurch vollenden zu lassen, so dass sie die Macht über den Menschen verliert.
Traumata sind vor allem Herausforderungen, uns mit dem erlebten Schmerz auseinanderzusetzen. Sie stellen die Herausforderung dar, uns die Verantwortung für unser Leben und Erleben zurückzuholen, die wir ja oftmals schon lange vor dem schlimmen Ereignis abgegeben haben bzw. gar nicht besessen hatten. Holen wir sie uns nicht zurück, so werden wir uns als Opfer des Geschehenen und des/der Menschen sehen, die es unserer Ansicht nach zu verantworten haben. Sehen wir uns als Opfer, dann haben wir einen wichtigen Teil der Verantwortung für uns selber abgegeben und es wird schwer werden, wieder froh und gesund zu werden.
Damit möchte ich keineswegs zu allem erlittenen Schmerz dem Erleidenden auch noch die Verantwortung für ein geschehenes Unrecht aufbürden. Solche Verantwortung bleibt bei denen, die verletzt haben und Unrecht begangen haben. Die Verantwortung für die Verarbeitung des Geschehenen jedoch muss bei dem bleiben, der es erlitten hat.
Im Falle früherer Traumata kann Shiatsu darauf abzielen, ihn gegegenenfalls aus der Falle des Opferseins heraus zu begleiten und ihm auf dem mitunter schmerzhaften Weg zu helfen, seine Würde und Lebensfreude zurück zu gewinnen.
Wir sind die Menschen, die wir sind, weil wir so sind wie wir sind! Frühere Verletzungen haben uns nicht zu dem gemacht, der wir heute sind! In diesem Sinne betreibt auch eine Psychotherapie, die sich mit früheren Traumata beschäftigt, weniger Ursachenforschung (obwohl das in unserer Zeit so verstanden wird) als Geschichtsforschung. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es durchaus eine heilsame Methode sein kann, sich dem Heute über die Vergangenheit zu nähern, über die Geschichte das Heute anders zu erfahren, besser zu verstehen und Lösungen zu finden. Um Lösungen für das Heute zu finden, ist dies jedoch keineswegs ein zwingend notwendiger Weg. Shiatsu geht einen anderen Weg über den Körper und die heute bestehenden und wahrnehmbaren energetischen Muster und das ihnen innewohnende Potential zur Veränderung und Befreiung.
Können in der Arbeit mit Menschen mit seelischen Problemen nicht Situationen entstehen, die ich ohne eigene psychotherapeutische Qualifikation nicht zu kontrollieren vermag und kann ich so nicht u.U. schweren Schaden verursachen?
Wie ich es oben schon beschrieben habe, ist die Arbeit mit seelischen Problemen für Shiatsu-Praktiker ihrem Wesen nach nichts anderes als die Arbeit mit körperlichen Beschwerden. In unserer Arbeit mit dem Körper und den energetischen Räumen erreichen wir eben auch die Seele des Menschen und sein emotionales Erleben.
Insofern als körperliche Beschwerden immer eine seelische Dimension haben, können wir es gar nicht vermeiden, in der Behandlung des Körpers auch die Seele zu berühren. Es macht aus dieser Sicht keinen Unterschied, ob wir Menschen mit körperliche oder seelischen Problemen Shiatsu geben, denn wir arbeiten nicht mit den (oder gar gegen die) Beschwerden, sondern mit Menschen, die solche erleben, und die sind für uns in erster Linie energetische Wesen.
Natürlich wird es Unterschiede geben, je nachdem, ob jemand mit körperlichen oder seelischen Beschwerden zu uns kommt. Zum Beispiel mag ein Mensch mit einer seelischen Thematik das Bedürfnis haben, mehr über seine Probleme zu reden. Da eines der Grundprinzipien des Shiatsu lautet, dem Menschen dort zu begegnen, wo er sich gerade befindet, werden wir auf dieses Anliegen in unterschiedlichem Maße eingehen. Die Essenz unseres Shiatsu wird jedoch die gleiche sein, unabhängig davon, mit welchen Beschwerden jemand kommt. Auch wenn Menschen in großer seelischer Not zu uns kommen, sollte der Fokus unserer Tätigkeit nicht auf der seelischen Not liegen, die ein Oberflächenphänomen einer tieferen Dynamik darstellt. Statt dessen empfiehlt es sich sehr, nach dem ganzen Menschen zu schauen (auch nach seiner Stärke, Schönheit und seinen Möglichkeiten), und mit der tieferen energetischen Dynamik zu arbeiten.
Wenn wir die Stärke sehen, werden wir selbst im Falle von schrecklichen Lebensgeschichten nicht in die Mitleidsfalle tappen (die dem Klienten einen Teil seiner Kraft zu nehmen droht), sondern werden sehen (weil es immer so ist), dass der Mensch die Kraft hat, durch diese Krise hindurchzugehen und anschließend mit mehr Lebensfreude im Leben zu stehen.
Da die energetischen Muster, die Beschwerden zugrunde liegen und mit denen wir arbeiten, ihrer Natur nach immer einfach sind, besteht normalerweise auch keine Gefahr, dass in der Folge einer Shiatsu-Behandlung etwas unübersichtlich und kompliziert wird. Einzige Ausnahme: wir selber haben Angst (dass wir nicht gut genug sind, etwas nicht leisten, nicht unter Kontrolle halten oder nicht verhindern können). Dann kann es in der Tat für Behandler und Klient unübersichtlich werden.
Die Verantwortung für sein Wohlergehen bleibt bei dem Klienten
Es besteht jedoch keine Notwendigkeit, irgendein Unheil von unseren Klienten abzuwenden, oder die Kontrolle über schwierige Situationen in ihrem Erleben zu bewahren. Sie sind gänzlich für sich selber verantwortlich und sind in der Lage, für sich selber zu sorgen. Dies ist allerdings eine unabdingbare Voraussetzung für eine solche Arbeit und für Shiatsu generell: dass wir der Versuchung widerstehen, Verantwortung für das Wohlergehen unserer Klienten zu übernehmen.
Diese Versuchung ist groß, gibt sie uns doch das Gefühl, die Situation zu beherrschen, so dass nichts Schlimmes geschehen kann. Das gibt uns das Gefühl von Macht und scheint unsere Klienten zu schützen. Es ist zudem vielfach unsere eigene Angst vor dem Unkontrollierbaren in uns, die uns im vermeintlichen Interesse für den Klienten dazu verleitet, Kontrolle und Verantwortung für das Wohl des Klienten behalten zu wollen. Tatsächlich schwächt jedoch diese vermeintliche Sicherheit den Klienten und unsere Arbeit.
Im therapeutischen Raum mit unserem Klienten sind wir mit seinem Erleben verbunden, unabhängig davon ob er seine Probleme primär als körperlich oder als seelisch erlebt. Vielfach erfahren wir seine emotionalen Bewegungen – in schwächerer und durch den Filter unserer eigenen Persönlichkeit abgewandelten Form – genau so wie er. Dies mag ein weiterer Grund sein, warum wir gerne die Kontrolle behalten möchten, denn dieses Erfahren kann auch für die BehandlerIn belastend sein, zumal es nicht selten eigene virulente Themen anstößt.
Wenn wir klar sind, dass wir die Verantwortung für sein Wohlergehen absolut beim Klienten lassen, dies auch in unseren Worten und in unserem Verhalten kommunizieren, dann werden unsere Klienten dies wortlos verstehen und annehmen.
Sicheren Raum für emotionales Erleben anbieten
Es besteht kein Grund anzunehmen, dass in der Arbeit mit Körper und Seele Situationen entstehen könnten, die unkontrolliert dem Klienten schaden. Voraussetzung hierfür ist, dass wir den Prinzipien des Shiatsu folgen. Das vornehmste dieser Prinzipien ist, „keinen Druck zu machen“, was bedeutet, den Klienten und seine Situation so anzunehmen, wie sie sind, und keineswegs partout etwas erreichen zu wollen. Dieses Prinzip bedeutet ebenfalls wie bereits oben beschrieben, dem Klienten die absolute Freiheit zuzugestehen, seinen eigenen Weg zu finden, und die Verantwortung für sich selber bei ihm zu lassen.
Eine weitere Voraussetzung ist, dass wir unsere Arbeit nicht als Psychotherapie verstehen. Shiatsu-Praktiker sind in der Regel keine Psychotherapeuten und müssen auch keine sein. Wir arbeiten professionell mit dem Körper und dem energetischen Feld und können unsere Klienten hierin verantwortungsvoll begleiten. Über all dies sollten wir in uns selbst und dem Klienten gegenüber keine Unklarheit aufkommen lassen.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann eine BehandlerIn selbst in heftigen emotionalen Bewegungen, die der Klient vielleicht als sehr dramatisch erlebt, darauf vertrauen, dass er es zu einem guten Ende führen wird. Sie kann darauf vertrauen, dass dieser Mensch die Kraft hat, da hindurch zu gehen, was immer auch geschehen mag.
Emotionales Erleben wie Trauer, Wut oder die meisten Aspekte von Angst sind ihrer energetischen Natur nach eine Bewegung bzw. eine Veränderung. Werden solche Emotionen in einer Behandlung als stark erlebt, so können wir davon ausgehen, dass sie sich in früheren Situationen nicht frei entfalten durften, dass sie blockiert wurden. Jetzt vollenden sie die damals begonnene und unterbrochene Bewegung. Ist sie zu Ende gelaufen (und das tut sie immer, es sei denn, sie wird erneut aktiv blockiert), löst sie sich auf und es bleibt nur mehr eine Erinnerung zurück. Nach einer solchen Erfahrung fühlt ein Mensch sich in der Regel befreit.
Es ist Aufgabe des Behandlers, solche Situationen entspannt und mitfühlend zu halten und Es geschehen zulassen. Es ist wichtig, der Versuchung zu widerstehen, durch Aktionismus in Worten oder mit unserem Händen den Klienten oder uns vor irgend etwas zu bewahren, denn das ist nicht nötig. Es darf geschehen, was geschehen möchte. Alles was erforderlich ist, dem Klienten das Gefühl zu geben, dass dies ein sicherer Raum ist, in dem all das stattfinden kann.
Es ist weiter sehr wichtig, dass wir den Raum des Klienten absolut achten und ihn nicht behindern. Selbst eine Geste wie ein Taschentuch zu reichen, wenn Tränen fließen, kann eine solche Behinderung sein, weil das darin sich ausdrückende Mitleid den Raum einengen kann. Nimmt der Klient das Angebot an und sieht sich als Bemitleidenswerten, so ist er meist aus seiner Mitte gefallen und besitzt weniger Lösungsmöglichkeiten.
Übertragung und Gegenübertragung
Immer wieder werden in unserer Arbeit Situationen entstehen, in denen Klienten in ihrem Erleben den Shiatsu-Behandler zu einem Teil ihrer eigenen unbewussten inneren Welt machen und ihn in ihrer emotionalen Verwirrungen zu benutzen versuchen. In gleicher Weise kann auch der Behandler den Klienten zu einem Teils einer eigenen unbewussten inneren Welt machen und benutzen. In solchen Situationen kann es für den Behandler schwierig sein, den Überblick über die therapeutische Situation zu behalten. Die Versuchung mag groß sein, mit dem Klienten in diese Welt einzutauchen, und eigene Bedürfnisse zu befriedigen.
Diese Dynamik ist in der Psychotherapie unter den Begriffen „Übertragung und Gegenübertragung“ ausführlich thematisiert worden. Sie spielt in jeder ganzheitlichen Arbeit mit anderen Menschen eine große Rolle. Wegen ihrer Bedeutung auch im Shiatsu sollten Grundkenntnisse über diese typische therapeutische Dynamik in einer Ausbildung vermittelt werden.
Menschen, die mit ausgesprochenen seelischen Problemen zum Shiatsu kommen, zeigen ein solches Verhalten eher als Menschen mit körperlich erlebten Beschwerden. Beispielsweise mag ein Klient versuchen, die BehandlerIn (unbewusst) unter Druck zu setzen, indem er vermittelt, dass er sich nicht gut genug behandelt oder beachtet bzw. sogar misshandelt fühlt. Hat die BehandlerIn in ihrer Selbstwahrnehmung hier eine unbewusste Schwäche (was eher normal als eine Ausnahme wäre), dann wird sie vielleicht Schuldgefühle bekommen und sich bemühen, den Klienten mit besonderer Aufmerksamkeit, Zeit und Mühe zufrieden zu stellen. Da das Bedürfnis des Klienten aber seiner Natur nach in der Regel nicht zu befriedigen sein wird, können hier destruktive Drucksituationen entstehen.
Die gleiche Dynamik kann wie gesagt auch in die andere Richtung ablaufen, d.h., dass die BehandlerIn den Klienten für ihre eigene innere Welt zu benutzen und zu manipulieren versucht. Solche Kräfte in der Beziehung zwischen Therapeut und Klient sind völlig normal. Sie sind an sich nichts falsches und lassen sich auch gar nicht verhindern. Wir sollten ihnen allerdings nicht erlauben, unser therapeutisches Verstehen oder Handeln in stärkerem Maße zu beeinflussen. Dazu müssen wir sie frühzeitig erkennen und als Teil der Realität des Klienten oder unser selbst anerkennen. Das kann sehr fruchtbar für unsere Arbeit werden. Jede ganzheitliche therapeutische Arbeit kann als ein Training hierin angesehen werden.
Grenzen und Gefahren erkennen
Auch wenn wir die Verantwortung für sein Wohlergehen beim Klienten belassen, sind wir doch für unser eigenes Handeln und für dessen Folgen für andere Menschen auch im Shiatsu verantwortlich. So mag es Situationen geben, in denen eine nicht psycho-therapeutisch ausgebildete Shiatsu-PraktikerIn einen Klienten an eine entsprechende Fachperson weiterleiten sollte. Dies gilt z.B. immer, wenn die BehandlerIn sich von dem Geschehen überfordert fühlt bzw. nicht glaubt, es aushalten bzw. dem Menschen gerecht werden zu können.
Es gilt bei Menschen, die in schweren psychopathologischen oder psychotischen Krisen offensichtlich derart „krank“ sind, dass wir als Shiatsu-Praktiker keinen Zugang zu ihnen finden. Es mag auch gelten, wenn z.B. bei starkem Leiden ein Mensch sich derart in dem Chaos des Leiderlebens verloren hat, dass er sich – wie oben beschrieben – an die PraktikerIn klammert, ihr die Verantwortung zuschiebt, ihr vielleicht böse Vorwürfe macht, dass sie sich nicht genug um ihn kümmere u.ä.m. Das kann eine gemeinsame Arbeit unter Umständen unmöglich machen. Es gilt in jedem Fall, wenn wir den Eindruck haben, dass der Mensch, der zu uns kommt, in Gefahr geraten könnte, sich selber Leid anzutun oder sonst den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Sollte im Verlauf der Berufspraxis ein verstärktes Interesse daran entstehen, mit Menschen in seelischen Notlagen zu arbeiten (oder sollten sich zunehmend mehr Klienten in einer solchen Situation einfinden), so kann es notwendig werden, sich gezielt für diese Arbeit weiter zu qualifizieren, z.B. in begleitender Gesprächsführung, in der Unterstützung von Traumaverarbeitung u.ä.m.
Muss nicht bei vielen seelischen Problemen die Ursache (z.B. ein erlebtes Trauma) bewusst werden, damit Heilung geschehen kann?
Emotionales Erleben ist, so intensiv es auch sein mag, aus der Sicht des Energetischen ein Oberflächenphänomen. Es sind energetische Räume oder Bewegungen, die abhängig von der Verfassung eines Menschen sehr unterschiedlich und durchaus sehr gegensätzlich erlebt werden können. Dem Erleben liegt die energetische Dynamik zugrunde. Wenn diese sich verändert, dann verändert sich das Erleben – und auch der Körper. Solche Veränderungen können für einen Menschen relativ oberflächlich bleiben oder auch sehr tief reichen. Dafür, dass sie tief wirken, ist es nicht notwendig, dass tiefes seelisches Geschehen bewusst wird.
Momente der Heilung zeichnen sich im Gegenteil oft durch eine plötzliche und auffallende Ruhe aus, wenn innerlich eine Lösung möglich wird. Äußerlich muss absolut nichts dramatisches geschehen und das Alltagsbewusstsein des Menschen muss in diesem Augenblick auch nicht verstehen, was geschieht.
Eine tiefere seelische Dynamik bewusst werden zu lassen und sie dadurch zu befreien, ist eine spezielle Technik, die z.B. mittels verbaler Intervention in verschiedenen psychotherapeutischen Disziplinen praktiziert wird. Es ist eine Technik neben anderen in der Arbeit mit der Seele und sie kann sehr wirkungsvoll sein.
Genauer genommen ist es eine effektive Technik in jeder ganzheitlichen Therapie, tief Verborgenes bewusst werden zu lassen. Auch im Shiatsu werden Dinge, die bewusst werden, sich meist verändern. Eine solche Bewusstwerdung ist jedoch keine unabdingbare Voraussetzung für Veränderung und Entwicklung, weder im Shiatsu noch in anderen therapeutischen Disziplinen.
Voraussetzungen für die Arbeit mit Menschen in seelischen Krisen
Um fruchtbar mit Menschen zu arbeiten, die erklärtermaßen mit und wegen seelischer Krisensituationen zu uns kommen, braucht es neben einer guten technischen und theoretischen Grundlage, die man in einer guten Shiatsu-Ausbildung erhalten kann, vor allem Erfahrung. Es ist dies zunächst die praktische Erfahrung in einem professionellen Shiatsu, und hier vor allem in der therapeutischen Begegnung. Je mehr man mit anderen Menschen auch in schwierigen Situationen gearbeitet hat, um so klarer wird man die Möglichkeiten und auch die Grenzen des Shiatsu kennen. Ein Gefühl dafür wird vorhanden sein, wie Shiatsu wirkt und welche (überraschende) Wege es dabei gehen kann.
Es braucht aber auch Erfahrung um die eigene Person. Vor allem allgemeine Lebenserfahrung ist wichtig, aber auch Selbsterfahrung, wie man sie in eigener Therapie, Supervision, Meditation und in einer offenen Betrachtung der eigenen Person im Shiatsu erhält. Darüber hinaus ist meiner Ansicht nach auch Erfahrung in der energetischen Wahrnehmung wichtig oder zumindest sehr hilfreich. Die Grundlagen kann man in einer guten Ausbildung vermittelt bekommen, erfahren, was es bedeutet, sich darin zurechtfinden wird man aber nur in Jahren der Praxis.
Die feine energetische Wahrnehmung hilft sehr, die psychische Situation eines Menschen zu erfassen und einschätzen zu können. Dabei geht es nicht nur um die Wahrnehmung von Meridianen, sondern auch z.B. der Schwingungsqualität energetischer Organe, oder des energetischen Raumes im Körper bzw. in Teilen davon. Die Wahrnehmung des therapeutischen Raumes, den BehandlerIn und KlientIn gemeinsam entstehen lassen und sich teilen, und der ja auch ein energetisches Phänomen ist, ermöglicht es, die Situation des Klienten und die eigene Arbeit in der Behandlung zu betrachten und einzuschätzen.
Wenn wir Menschen in seelischen Krisen Shiatsu geben, brauchen wir ferner Wissen und Kenntnisse. Wissen z.B. darüber, wie wichtig es ist, dass der Klient in dem Vertrag, den wir mit ihm haben, die volle Verantwortung für sich selber und sein Leid (und seine Freude) behält und sie nicht ohne Schaden abgeben kann an die BehandlerIn. Das Wissen und die Erfahrung, den Klienten nicht durch zu großes Mitleid zu schwächen, sondern seine Stärke und Schönheit zu erkennen und seine Fähigkeit zu sehen, eine gute Lösung für seinen Konflikt zu finden.
Wenn wir die Verantwortung für unser eigenes therapeutisches Handeln ohne Ausnahme bejahen, werden wir in immer feinerer Wahrnehmung der Wirkung unseres Handelns, Denkens und Empfindens auf den Klienten nachspüren. Es wird uns ein natürliches Anliegen, in unserem Shiatsu die Würde, die Verantwortung und die Freiheit unserer Klienten zu unterstützen und unsere eigenen Impulse, die die diesem Ziel entgegen wirken, immer klarer zu erkennen.
Kenntnisse sind erforderlich über die Natur der Beziehung zwischen TherapeutIn und KlientIn, über die Möglichkeiten und die Fallgruben darin wie z.B. die Phänomene der Übertragung und Gegenübertragung, der Projektion, typischer Konflikte zwischen bestimmten Persönlichkeitstypen u.ä.m. All dies sollte meiner Ansicht nach in einer guten Shiatsu-Ausbildung vermittelt werden.
Schließlich braucht es neben Kenntnissen um die Grenzen der eigenen Arbeit auch solche über die Gefahren, in denen Klienten sich während der Zeit, in der wir sie behandeln, befinden bzw. in die sie sich begeben können (z.B. Suizidgefährdung). Es ist hilfreich, sich frühzeitig nach Adressen kompetenter Fachleute und Institutionen zu erkundigen, an die wir unsere Klienten im Notfall weiterleiten können.
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© Wilfried Rappenecker, geb. 1950 in der Nähe von Köln, ist Leiter der Schule für Shiatsu Hamburg (D-22769 Hamburg, Oelkersallee 33, http://www.schule-fuer-shiatsu.de), Mitbegründer der GSD und Autor zweier Bücher zum Thema Shiatsu. Als Arzt für Allgemeinmedizin arbeitet er dort überwiegend mit Shiatsu. Der vorliegende Artikel ist Teil des Kongressbandes „Europäischer Shiatsu-Kongress Kiental 2004“.