Shiatsu bei seelischen Problemen (Brigitte Ladwig)

„Die Mächte, die den Kosmos bewegen, sind nicht verschieden von jenen,
die die menschliche Seele bewegen.“
(Lama Anagerika Govinda)

Menschen kommen mit ganz unterschiedlichen Beschwerden und Anliegen zum Shiatsu, mit Rückenschmerzen, ständiger Verstopfung der Nasennebenhöhlen, Unterstützung bei schweren chronischen Krankheiten, sie suchen Wohlergehen bei den unterschiedlichsten Grundvoraussetzungen. Und es kommen Menschen auch mit Hilfe-Wünschen, die direkt einer seelischen Ebene zuzuordnen sind. Sie befinden sich in einer emotionalen Konfliktsituation, haben Ängste, Stress-Symptome oder Entscheidungsschwierigkeiten, sie wünschen seelische Unterstützung im Leben und Sterben. Aber auch einige der vorgebrachten körperlichen Symptome können psychische Komponenten enthalten. Die Rückenschmerzen können z.B. mit einem niedergedrückten, depressiven Lebensgefühl in Verbindung stehen, die Unbeweglichkeit eines Gelenks mit einem unbewusst zurückgehaltenen emotionalen Ausdruck, Erschöpfung mit dem Verlust von Lebensfreude, Schwindel mit verlorenem Vertrauen in den eigenen Weg.

Download im pdf-Format
Download

In diesem Artikel wird es darum gehen, Möglichkeiten dafür aufzuzeigen, wie Seelenfragen durch Shiatsu beantwortet werden können. Dabei ist mit ‚antworten‘ nicht gemeint, Lösungen für das vorgetragene Problem zu finden (obwohl sich natürlich auch etwas lösen kann).

Mit Shiatsu auf Seelenfragen ‚antworten‘ heißt zunächst einmal, dass Shiatsu unser Werkzeug ist als Shiatsu-Praktizierende. Mehr braucht man in der Regel nicht, wenn man von den kurzen Gesprächen vor und nach der eigentlichen Behandlung absieht. Der Rahmen, den die eigenen Kompetenzen und Fähigkeiten bilden, muss natürlich gewahrt und der Bereich der Kontraindikationen für Shiatsu berücksichtigt sein.

Mit ‚antworten‘ ist gemeint, dass ich mich durch meine Techniken, mein Vorgehen, durch meine Präsenz, meinen Fokus beziehe, mich einschwinge auf die energetischen Entsprechungen der Fragestellung; dass ich diese Facette der Energie erkunde, dass ich auf ihr Zusammenspiel mit der ganzen Person und mit anderen Aspekten achte; dass ich neugierig bin auf den Ausdruck dieser Energie, auf die Wandlungsbewegungen und Qualitätsveränderungen, die sich dadurch zeigen, dass ich mit ihr in Kontakt und in den Dialog gehe.

Diese Thematik ist so umfassend, die Möglichkeiten im Shiatsu auf Seelenfragen einzugehen sind so vielfältig und natürlich jedes Mal wieder ganz individuell, so dass die Darstellung einer kleinen Auswahl an seelischen Fragestellungen und möglicher Shiatsu-Antworten darauf für diesen Rahmen ausreichen muss. Es sollen einige grundlegende Sicht- und Vorgehensweisen und wesentliche Prinzipien für diesen Themenbereich beschrieben und geklärt werden. Außerdem bekommt der Leser und die Leserin anhand von Fallbeispielen Einblick in die konkrete und die innere Arbeitsweise, die energetischen Reaktionen der Klientinnen und die Überlegungen zur jeweiligen Thematik. Dabei handelt es sich durchgängig um Menschen mit Anliegen, die eindeutig ambulant begleitet werden können. Es wird hier nicht die Arbeit mit Menschen vorgestellt, die schwere psychopathologische Symptombilder zeigen.


Seele

„Wäre die Bewegtheit und das Schillern der Seele nicht, der Mensch würde in seiner größten Leidenschaft, der Trägheit zum Stillstand kommen.“
(C.G. Jung)

Wenn man durch die Kulturen, durch die Zeiten, durch die Wissenschaften schaut, gibt es ganz unterschiedliche Seelenvorstellungen. Wenn man im Alltag Menschen fragt, bekommt man viele unterschiedliche persönliche Antworten darauf. Seele ist ein Begriff, für den es keine eindeutige Definition gibt. Im Rahmen der Leib-Seele-Diskussion ist Seele erst einmal das, was nicht Körper ist. Seele wird manchmal gleichgesetzt mit Psyche, mit allen bewussten und unbewussten psychischen Vorgängen. Das heißt, auch Emotionen und Sinneswahrnehmungen gehören dann dazu, also recht körperliche Bereiche. Aber auch alle mentalen Aktivitäten können mit hinzu gerechnet werden mit dem Denken, der Fantasie, dem Selbstgewahrsein, mit Konzepten, Überzeugungen usw. Als Seele wird auch eine feinstoffliche Ebene verstanden – ein überindividuelles Selbstempfinden in einer Atmosphäre, die schon über das Konventionelle und Irdische hinaus weist. Oder Seele wird als das Lebendige im Menschen und als das Leben Verursachende angesehen. Vielfach kommt heute das Wort ‚Herz‘ bestimmten Bedeutungen von ‚Seele‘ am nächsten.

Wenn in diesem Artikel von seelischen Problemen gesprochen wird, können sowohl emotionale Probleme, mentale Fragestellungen als auch geistig-spirituelle Anliegen gemeint sein.


Die seelische Ebene im Shiatsu-Kontext

„Unsere Seelen sind nicht in unseren Körpern, unsere Körper sind in unseren Seelen.“
(R. Sheldrake)

„Die Natur besteht aus Energie, die jede Form annehmen kann, und aus Feldern,
die die formbildenden Prinzipien in allen Bereichen der Natur sind.“
(R. Sheldrake)

So ähnlich haben es Hildegard von Bingen, Thomas von Aquin, Meister Eckehart gesagt. Diese Sichtweise entspricht der von Shiatsu. Wir arbeiten mit Ki. Ki ist Vibration, ist Form und Nicht-Form, ist in ständigem Wandel. Ki ist die Substanz, die im Menschen eine Verbindung darstellt zwischen Körper, den Gefühlen, den mentalen und den geistigen Aspekten. Ki kommuniziert sofort, unmittelbar, übergreifend auf und mit diesen Ebenen. Das Ki, auf das wir uns im Shiatsu beziehen können, ist sowohl im physischen Körper vorhanden als auch in dem – letztendlich unbegrenzten – Feld um den Körper herum. Das energetische Feld einer Person kann man sich vorstellen als eine Mischung aus verschieden dichten und schnellen Vibrationen mit holografischen Eigenschaften. Selbst die feinsten Seelen- oder Geistes-Schwingungen sind als Vibrationen mit hoher Frequenz und geringer Dichte auch im Raum des physischen Körpers anwesend.

Die Meridiane mit ihren Funktionen – nach Masunaga – spiegeln diese Bandbreite ebenfalls wider. Über den Nierenmeridian erreichen wir z.B. die Fähigkeit des Antriebs sowohl auf einer ganz physischen Ebene: die Hormone, die für den Antrieb zuständig sind, der Umgang mit Stress, als auch auf der emotionalen Ebene: z.B. die Angst, die auch dazu dienen kann, das eigene Leben zu bewahren, indem sie zu erhöhter Wachsamkeit oder zu Flucht führen kann. Der Wille kann sowohl mental verstanden werden als auch als die Kraft, die uns einbindet in das Kontinuum des Lebens. Der Yin-Aspekt von Zhi (Wille) beschreibt die Fähigkeit, mit dem natürliche Lauf der Ereignisse zu fließen. Er ist der ‚Lange Wille‘, der nicht gewollt werden kann; er geht durch dich hindurch. Er steht für das Wagnis, das Unbekannte zu umarmen.

Die Shen, die am wenigsten materiellen Aspekte der Zang Fu Funktionen (Organsysteme) in der Traditionellen Chinesischen Medizin, werden zum Teil als Seelen übersetzt, obwohl manche von ihnen nach unserem Verständnis eher Instinkten oder mentalen Fähigkeiten entsprechen. Die chinesischen Schriftzeichen enthüllen auch noch die Dimensionen von Geistern und Dämonen. Ebenso zeigen sich diese verschiedenen Ebenen in Namen und Indikationen von Akupunkturpunkten. Z.B. Herz 7: ‚Tor des Geistes‘, Blase 52: ‚Sitz des Willens‘, Lunge 3: ‚Residenz des Himmels‘ zur Beruhigung der Körperseele (Po).

Das heißt, wir arbeiten sowieso mit allen Aspekten, auch den seelischen, sobald wir uns auf das Ki einstimmen. Jedoch können wir unsere Techniken, unsere Wahrnehmung und unser Verständnis der Wirkzusammenhänge so entwickeln und verfeinern, dass wir gezielter mit den seelischen Dimensionen in Kontakt treten können.


Allgemeine Wirkungsweise von Shiatsu auf seelischer Ebene

Shiatsu ist erst einmal eine körperliche Berührung. Sie kann helfen zu spüren, dass man da ist. Die klaren Berührungen fördern das Empfinden für die eigenen Grenzen, sie vermitteln Ruhe, vielleicht ein ganz neues Selbstverständnis über ein deutlicheres Körperbewusstsein und mehr Körperakzeptanz. Es kann Entspannung, Wohlgefühl, Stimmungsaufhellung, Beweglichkeit auf allen Ebenen entstehen.

Durch den Shiatsu-spezifischen Kontakt tritt die Funktion des Parasympatikus stärker in den Vordergrund, die Muskulatur entspannt sich, der Geist wird klarer und wacher, die Verbindung zu sich selbst vertieft sich. Das Energiepotential des Gewebes wird angeregt und durch die Veränderung von chronischen Gewebezuständen können sich auch Verhaltensgewohnheiten verändern.

Berührung findet immer an der Schnittstelle zwischen inneren und äußeren Welten statt. Sie wirken hier für die empfangende Person wie Taschenlampen in dunklen oder noch nicht so bekannten Räumen. Über den Tastsinn bekommen wir Vorstellungen von der Welt und von uns selbst. Das Grundprinzip des Shiatsu, dass es nicht eine mechanisch von außen angesetzte Technik ist, sondern immer eine Kommunikation ohne Worte, ein Dialog über die Berührung, ist von den KlientInnen als wohltuende Erfahrung spürbar und kann neue ‚Räume‘ öffnen. Auch übertragen sich die anderen Aspekte der Philosophie deutlich im Behandlungskontakt, wie der Respekt für die andere Person, die Achtsamkeit, die Präsenz. Das Erleben von ungeteilter Aufmerksamkeit während der Sitzung kann schon sehr heilsam wirken. Und es wird auch ohne Worte im praktischen Tun vermittelt, dass im Shiatsu Gesundheit körperliches, seelisches, geistiges und soziales Wohlbefinden umfasst.

Schon allein diese allgemeinen Wirkungen von Shiatsu-Berührungen sind Grund genug, die Frage, ob Shiatsu bei seelischen Problemen eine Unterstützung sein kann, eindeutig zu bejahen. Und es liegt auf der Hand, dass diese Methode eine wertvolle Begleitung psychotherapeutischer Arbeit sein kann und auch in Einrichtungen wie z.B. in psychosomatischen Kliniken oder in der Sterbebegleitung sinnvoll angeboten werden kann.

Der Entspannungszustand in einer Shiatsu-Sitzung kann noch über eine reaktive Entspannung hinaus gehen; sie kann tiefer wirken, als die Ebene, die der psychovegetativen Selbstregulation dient. Aus solchen Tiefen heraus kann sich unbewusstes dynamisches ‚Material‘ an die Oberfläche bewegen. Es kann sich in Bildern offenbaren, aber auch in körperlichen und emotionalen Reaktionen zeigen. Dieser Prozess, dass sich in der Tiefe etwas umorganisiert, kann eine große Chance dafür sein, dass ein größeres Verständnis für die eigene Lebenssituation entsteht, es kann zu neuen Lebensimpulsen führen, zu mehr Freiheit und zu Mut und Vertrauen, Wandlung geschehen zu lassen. Hierbei ist es ganz wichtig, dass der oder die Shiatsu-PraktikerIn solche Prozesse mit Kompetenz und Ruhe begleiten kann.

Im Shiatsu beziehen wir uns nicht vorrangig auf das Gewebe, sondern auf das energetische System des Menschen. Der Zugang zur Energie über die Meridiane, verstanden sowohl als Bahnen von Energie als auch als Ausdruck jeweils spezifischer Lebensfunktionen, ermöglicht gleichzeitig den Kontakt zu unterschiedlichen Qualitäten und Dichten von Energie. Mit den gleichen äußeren Techniken kann man einen Menschen sowohl in seinen körperlichen als auch in seinen emotionalen, mentalen oder geistigen Aspekten erreichen. Wie oben beschrieben, spiegelt sich das auch in den unterschiedlichen Facetten der Meridianfunktionen wider.


Spezifische Begleitung mit Shiatsu auf seelischer Ebene


Wichtige Methoden

Als ganz zentral für die Arbeit mit seelischen Aspekten muss die eigene Ausrichtung gesehen werden. Sie spielt schon in der Gesprächssituation eine wichtige Rolle, um dem Menschen möglichst umfassend, einfühlend und klar begegnen zu können, ohne sich im Helfen wollen emotional zu verwickeln oder sich nur vom Verstand her anzunähern. Mit Ausrichtung ist hier eine körperlich gelöste, aufrechte Haltung gemeint, die es der Energie erlaubt, sich in guter Verankerung auf allen Ebenen möglichst gut balanciert und frei zu bewegen. In der Einschätzung der Energie durch Bo Shin (Schauen) oder Setsu Shin (Berühren) ist die innere Ausrichtung ebenfalls von großer Bedeutung für die Offenheit und Klarheit, um auf möglichst vielen Ebenen Informationen erhalten zu können. Diese Qualität spielt natürlich auch in der praktischen Arbeit eine wichtige Rolle, damit sich der eigene Fokus gut übersetzen kann, die Berührung auch bis in die Tiefe offen und weit ist und so der Kontakt auch zu feineren Schwingungen gewahrt werden kann. So ist Resonanz zu der Person und ihren energetischen Qualitäten sehr umfassend möglich.

Als eine hilfreiche Art, um in Kontakt mit den Energien der Klienten zu kommen, haben sich die Scanningmethoden erwiesen. Dabei handelt es sich um Techniken, die uns ein räumliches ‚Bild‘, eine Art ‚Tastempfinden‘ oder eine multidimensionale Information für die Verteilung und den Ausdruck der Energie geben können. Das Scannen kann sich auf den Körperraum beziehen, auf das energetische Feld der Person insgesamt oder man kann spezifisch bestimmte Ebenen von Vibrationsfrequenzen (z.B. emotional, physisch, geistig), bestimmte Meridiane oder einzelne Körperbereiche scannen.

Durch das Gespräch vor der Sitzung werden die energetischen Dynamiken, um die es im Anliegen geht, aktualisiert. So kann man darauf vertrauen, dass der energetische Ausdruck, den man im Scanning oder Bo Shin wahrnimmt, auch in Verbindung mit der angesprochenen Thematik steht. Das ‚lebendige Bild‘, das durch die verschiedenen diagnostischen Möglichkeiten entsteht, ist eine wichtige Realität, mit der man während der Sitzung in einen Dialog treten kann.

Aus diesem ‚Bild‘ entwickele ich eine Leitidee für die Sitzung. Welche energetische Veränderung könnte für diesen Menschen hilfreich sein in Hinblick auf sein Anliegen? Dabei geht es als ein oberes Ziel letztlich immer um Integration. Wie kann das, was als dominant auffällt, wieder eingebunden werden in ein Ganzes? Wie kann die Energie lebendiger, freier werden mit genügend Halt und Struktur? Welche auffälligen Aspekte treten mit mir in den Kontakt, in der Bereitschaft sich zu wandeln?

Wenn wir uns einer Person nähern in unserem praktischen Tun und unserem Verständnis, haben wir die Wahl, das, was wir wahrnehmen, als eine Art Pathologie oder Schwäche zu interpretieren. Oder aber wir können in einen Dialog treten mit der Energie, die durch ihr in Erscheinung treten zeigt, dass sie sich wandeln möchte. Dabei ist das, was uns als auffällig entgegentritt, abhängig von unserem Fokus, unserer Einstimmung, unserem Menschenbild, unserer Präsenz und unseren Erfahrungen. Seele braucht Raum und kein richtig oder falsch. Wir können dabei in Berührung kommen mit Lebensaspekten, die über das biografisch Belegbare, über das Fassbare hinaus gehen, etwas, das nicht mehr benennbar ist, das uns und den Klienten verbindet oder einbindet in etwas Größeres. Um sich in diesen Seelen- und Erfahrungsräumen im Rahmen einer Shiatsu-Sitzung frei und ohne Angst zu bewegen, ist die Fähigkeit, sich selbst wieder gut organisieren zu können, zu der eigenen Ausrichtung und Klarheit zurück zu finden, Voraussetzung.

„Alles Sichtbare grenzt ans Unsichtbare,
Alles Hörbare ans Unhörbare,
Alles Fassbare ans Unfassbare
Und vielleicht alles Denkbare ans Undenkbare.“
(Lama Anagerika Govinda)

Die Besonderheit von Shiatsu beruht unter anderem auf dem großen Wirkungsspektrum, innerhalb dessen wir variieren können. Unser Fokus und die Wirkung können auf den verschiedenen Dimensionen angesiedelt werden: von lokal über entfernt bis umfassend, vom Körperlichen zur Energie, von der physischen Vibrationsfrequenz zur spirituellen, vom Fokus auf diesen einen Menschen ganz persönlich bis in unpersönliche Bereiche, von der Dominanz der Praktikerin im Energiekontakt über die Dominanz des Klienten zur Dominanz des Kosmos. So fühlt sich Berührung im Shiatsu nicht nur lokal an, sondern die Klienten erfahren sich in einer Weise umfassend angesprochen. Es ist über die Wahl meiner Ausrichtung auf den beschriebenen Dimensionen möglich, sich auf ein klar begrenztes körperliches Anliegen zu beziehen, wie die Förderung der Beweglichkeit eines Gelenks, auf den emotionalen Inhalt eines Traums, auf die Unterstützung der Klarheit im Denken oder darauf, den Menschen einzubinden in eine kosmische Präsenz. Wenn man sich jedoch nur auf das stützen will, was mit den Sinnesorganen wahrgenommen werden kann, dann zeigen sich auch nur die materiellen Phänomene.

So, wie die Ausrichtung uns in eine Neutralität und Offenheit bringt für die ‚Diagnose‘, so ist sie ein ganz wesentlicher Hintergrund für die Praxis, wenn man auf der beschriebenen Weise mit den feineren Aspekten der Energie arbeiten möchte. Entlang der verschiedenen Dimensionen können wir den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichsten Bereiche, Ebenen und Aspekte richten. Indem wir unsere eigene Energie in eine bestimmte Qualität bringen, in uns einen Bereich, eine Bewegung betonen, kann sich dieses energetische Muster über Resonanz dem energetischen System der anderen Person mitteilen. Auf diese Weise kann man sich auch auf die Masunaga-Meridianfunktionen einstimmen. Als Orientierung dafür, ob die entsprechende Einstimmung in dem Moment passend ist, dient uns die energetische Reaktion des Klienten auf unser Angebot.

An seelischen Problemen mit Shiatsu arbeiten heißt nicht unbedingt, auf einer emotionalen oder geistigen Frequenzebene zu arbeiten. Wie körperpsychotherapeutische Verfahren, z.B. Bioenergetische Analyse, zeigen, kann auch der Zugang über den Körper, durch Dehnungen oder Druck oder Belastungen emotionale Blockaden ins Erleben bringen und lösen. Umgekehrt wird man beobachten, dass die Arbeit an den subtileren Energien und größeren Bezügen auch Wirkungen im Körper, im konkreten Verhalten und Lebensgefühl zeigt.

Um einem verbreiteten Missverständnis vorzubeugen, soll hier betont werden, dass man nicht mit einer leichteren Berührung arbeiten muss, um einem seelischen Anliegen gerecht zu werden. Die feineren Frequenzen sind überall, auch im physischen Körper. Und häufig ist gerade die Verbindung aller Ebenen, die Integration ins Körperliche ein wichtiges Thema.

Wenn wir mit der Rückbindung an das Anliegen und an unsere Wahrnehmung zu Beginn und während des praktischen Tuns arbeiten, können wir gut die Dynamiken, das Zusammenspiel der Energiequalitäten beobachten. Es hat sich als hilfreich heraus gestellt, Klienten auf deren Nachfrage etwas davon in einer alltagstauglichen Sprache mitzuteilen. Wie wirkt etwas zusammen, wie hat etwas geantwortet, worum habe ich mich in der Sitzung bemüht? Zum Glück müssen Shiatsu-Praktiker dann nicht ‚orakeln‘ und brauchen nicht interpretieren. Wenn wir das in Worte fassen, was nahe an dem ist, was für den Klienten selbst erfahrbar ist, bestätigt und schult es seine Eigenwahrnehmung. In aller Regel ist er sehr interessiert und motiviert und wir haben eine ausgezeichnete Grundlage für ein Arbeitsbündnis. Aus diesen Beobachtungen lassen sich auch gut Empfehlungen ableiten, die so für den Klienten direkt nachvollziehbar sind.


Kommentierter Sitzungsbericht

Anhand einer ausführlichen Sitzungsdokumentation sollen die verschiedenen Schritte und weitere Aspekte einer Behandlung beschrieben und erläutert werden. Zunächst geht es darum, sich auf die Fragestellung und die Fragestellerin einzuschwingen und mit dem entsprechenden Ausdruck der Energie in Dialog zu treten.

Frau W., Mitte 50, arbeitet Teilzeit in einem Hilfe leistenden Beruf. Sie kommt schon länger zum Shiatsu. Seit einiger Zeit ist ihr Schmerz, ihre Verzweiflung über die Trennung von ihrem Partner das Hauptthema. Über lange Zeit litt sie deshalb unter Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit und hatte sehr viel Gewicht verloren. Außerdem überfielen sie, von ihr manchmal kaum kontrollierbar, heftige emotionale Attacken mit Weinen.

Dieses Mal kommt sie zur Sitzung in einer Phase von mentaler und emotionaler Selbstdestruktivität: „Ich kann nichts.“, „Ich bin zu nichts nütze.“, „Ich habe aus meinem Leben nichts Gescheites gemacht.“ Sie erzählt, dass sie diese Gefühle und Gedanken kennt, sie kämen immer wieder mal ganz aus der Tiefe. Ihr fehlt der Antrieb, jeder Handgriff ist schon zu viel. Außerdem hat sie das Empfinden, dass ihr Kopf nicht ganz zum Körper dazu gehört. Sie wünscht sich Unterstützung bezüglich ihrer Selbstzweifel und Einbindung ihres Kopfes.

An diesem Punkt könnte man leicht einer Verführung folgen, die dem normalen menschlichen Impuls entspricht helfen zu wollen: dass man versucht zu ermutigen oder die Selbstzweifel auszureden, dass man beweisen möchte, dass ihr Leben doch einen Wert hat. Ein anderer unnötiger Umweg in diesem Kontext wäre, sich Interventionen zu überlegen, die aus westlichen psychotherapeutischen Richtungen im Umgang mit einem geringen Selbstwertgefühl als hilfreich angesehen werden. Oder man könnte schon vorab wissen wollen, mit welchen Meridianen, mit welchem Shiatsu-Konzept man arbeiten soll: vielleicht am Nierenmeridian arbeiten wegen des fehlenden Antriebs, oder am Herzmeridian, um das Gefühl für die eigene Identität zu unterstützen oder am Lungenmeridian wegen der depressiven Grundstimmung. Oder bräuchte sie eher den Lebermeridian, um an unterdrückte Wut zu kommen? Die Füße, die Erdung stärken als Gegenpol für den Kopf … Dieses ‚Schon vorab wissen wollen‘ schließt uns jedoch ab. Wir würden dadurch aus dem lebendigen, ‚atmenden‘ Kontakt heraus gehen, statt unserer Neugier, unserer Bereitschaft zu folgen, uns jeden Moment überraschen lassen zu können von den Bewegungen und vom Potenzial des Lebens.

Im Bo Shin nehme ich ihre Energie insgesamt als unbeweglich wahr, eine gewisse Enge fällt auf (auf mich wirkt die Energie irgendwie sehr ‚anständig‘, ‚vernünftig‘). Mir helfen solche Begriffe und Bilder, um bestimmte Qualitäten der Energie für mich benennbar und wieder erkennbar zu machen. Es ist mir dabei klar, dass es keine Aussage ist über die Person, sondern nur ein Versuch, den ‚Geschmack‘, die ‚Atmosphäre‘ der Energie zu beschreiben.

Sonst strahlt Frau W. oft eine Fülle aus, obwohl sie vom Körperbau her sehr schlank ist. Ihre Energie hat, wenn es ihr gut geht, gleichzeitig etwas kraftvoll Ruhiges und etwas Freches, Leuchtendes, neugierig Bewegtes. Jetzt wirkt es so, als würde gerade diese Leuchtkraft fehlen. Sie wirkt abwartend, nicht sehr beteiligt am Leben. In unserem Gespräch geht sie nicht sehr in den Kontakt mit mir. Und der Kopf wirkt so, als wollte er über Wasser bleiben wollen.

Das Scannen von der Berührung am Hara aus bestätigt diese Wahrnehmungen. Es ist nicht viel Bewegung zu spüren, sondern eine Qualität wie Müdigkeit und gleichzeitig Spannung, überall. Das Hara selbst ist still, in sich zurück gezogen, wie eingeigelt. Insgesamt ist wenig Kontakt mit Außen zu spüren. Im Hara reagiert mit der Milzenergie als kyo die Jitsu-Qualität der Lungenzone. Durch das Meridianscanning für die Lungenmeridianenergie nehme ich eine periphere Spannung im energetischen Feld wahr, die sich vor allem auf geistiger Ebene aber auch auf der emotionalen Schwingungsebene ausdrückt. Die Qualität des Milzmeridians zeigt sich auf allen Frequenzebenen so, als hätte die Energie keinen Tonus, als würde sie weg fallen oder auseinander fallen.

Im Shiatsu arbeiten wir mit der Energie der Person. Von daher ist die ‚Übersetzung‘ von den verbal vorgetragenen Beschwerden, Informationen und Anliegen, hin zu einem ‚Bild‘ der Energie der Person wichtig, eingeschlossen auch das, was ‚von außen‘ körperlich und im Verhalten sichtbar wird. Die Übersetzung nimmt nicht mein Verstand vor, sondern sie geschieht durch die direkte Wahrnehmung von energetischen Qualitäten, wie sie sich mir präsentieren. Dabei kann ich auch spezifisch nach dem schauen, was die Person als Anliegen für die Sitzung mitgebracht hat. Einen oder zwei der wesentlichen Aspekte wähle ich als ‚Indikator‘ (ein Merkmal, das mir Veränderungen anzeigen kann) aus, um daran abzulesen, ob meine Angebote in die gewünschte Richtung wirksam sind. Während des Arbeitens kann ich mich so über meine ‚Mutterhand‘, über das Bo Shin oder das Scannen immer wieder rückbinden an die Leitidee und meinen Fokus.

Mein Ziel für diese Behandlung ist es, die Energie zunächst wieder mehr ins Schwingen zu bringen. Dann werde ich schauen, ob und in welche Richtung Unterstützung noch hilfreich wäre. Dieses Unbewegte, nicht Kommunizierende ist für mich das Offensichtlichste in dem Wahrgenommenen. Die Bereitschaft, den Fokus zu ändern, wenn ich für meine entsprechenden Angebote keine Antwort bekomme, ist selbstverständlich. Im Hintergrund soll noch die Integration des Kopfes in den ganzen Körper als ‚Auftrag‘ mit laufen.

Der Beginn einer Behandlung besteht darin, mich erst einmal auf die Person als Ganzes ein zu schwingen. Während ich in der Regel mit der ‚Mutterhand‘ am Hara mit einer weichen offenen Berührung am Oberschenkel arbeite, variiere ich meinen Rhythmus, meine innere Einstimmung so, dass ich einen möglichst guten Grundkontakt zur Klientin finde.

Mit der Behandlung beginne ich in der Rückenlage. Um zunächst in einen guten Grundkontakt zu Frau W. zu kommen, braucht es eine Qualität, die behutsam ist, umhüllend, eine ruhige Vitalität. In anderen Sitzungen war die Klientin eher mit einer inneren Haltung von kraftvoller, ‚frecher‘ Energie zu erreichen. Eingestimmt auf die Wahrnehmung der unbewegten, müden Energiequalität arbeite ich am Milzmeridian am Bein. Der Kontakt ist sehr matt, dumpf. Ich probiere über Technik- und Rhythmusvariationen und über innere Techniken (hier das Einstimmen auf verschiedene Aspekte der Funktionen) aus, mit welcher ich am besten in Resonanz komme und bei welcher sich die Energie in die angestrebte Richtung bewegt. ‚Nähren‘ wird eindeutig nicht angenommen, ‚Erden‘ ist langweilig. Offensichtlich braucht es eine Einstimmung, die mehr Bewegung enthält. Ich probiere das ‚Durchmischen‘, ‚Durchfeuchten‘‚ Transformation‘ und es gibt sofort eine deutliche Antwort. Sowohl die Energie in der Meridianbahn von Milz als auch im Feld und im Hara reagiert mit Lebendigkeit. Der gesamte Ausdruck ist stärker definiert, hat wieder Tonus und mehr Kraft.

Bei der Arbeit an den Füßen und Fußgelenken nehme ich wieder mehr Bezug auf die Anbindung des Kopfes. Auch bei den Mikrorotationen über die Fußgelenke schaue ich, über welchen Meridian, an welchen Stellen am besten die Verbindung hergestellt wird.

Das Hara fühlt sich schon lebendiger an …

Für die Arbeit am Brustkorb lege ich die ‚Mutterhand‘ auf die Milzzone und arbeite am Lungenmeridian. Die Funktion, die am besten reagiert, ist ‚Po‘, die Kondensation kosmischer Energie, sich verbinden mit dem körperlichen Sein und gleichzeitig mit dem Kosmos, als wäre er in jeder Zelle. Zusätzlich geht es darum, die emotionale und mentale Ebene zu integrieren. Das heißt, ich vergewissere mich, dass diese Ebenen auf jeden Fall möglichst gut in mir mitschwingen, dass aber die anderen als Anker und um das ganze Spektrum anzubieten, auch in meiner Ausrichtung mit dabei sind. Es braucht ein tiefes, klares Einsinken. Vor allem über den Lungenmeridianast unterhalb des Schlüsselbeins gibt es Reaktionen von tiefem Lösen und Lassen, in den Lunge 1 Punkt lehne ich mich mit viel Fülle mit dem Ellbogen mehrmals tief. Frau W. atmet entspannt und tief auf und seufzt. Und ihre Energie beginnt wie zu glitzern, sie hat aber gleichzeitig eine große Ruhe wie ein tiefer lang nachklingender Glockenton. Es gibt mehr Raum nach innen und nach außen. Über eine tiefe Arbeit am Milzmeridian am Brustkorb mit dem Daumen und einer Einstimmung auf ‚Fülle und Sattheit‘ entspannt sich die Lungenmeridianqualität noch mehr.

Am Arm arbeite ich mit beiden Knien am Milzmeridian, um weiter zu stabilisieren. Es braucht keine neuen Impulse. Ich löse kräftig die Schulterblätter. Der Kopf und Hals hat noch etwas Spannung. Die allgemeine Arbeit an der Rückseite des Halses hilft schon zu lösen. Durch die Dehnung der Schulter öffnet sich der Raum zwischen Kopf und Brustkorb mehr. Bei der Arbeit am Milzmeridian am Kopf, Hals bis in den Brustkorb laufen der Klientin Tränen, beim Lungenmeridian am Hals vertieft sich noch einmal mehr der Atem. In der Seitenlage arbeite ich am Rücken und am Lungenmeridian am Arm und stabilisiere noch einmal die offenere weiche Energiequalität. In der Bauchlage greife ich bei der Arbeit des Blasenmeridians am Rücken vom Kopfende aus die Qualität der Brustkorbarbeit noch einmal auf. Ich öffne noch einmal den Nacken. Bei der Arbeit von der Seite aus habe ich zum Verbinden meine ‚Mutterhand‘ auf den Kopf gelegt. Für den Lungenmeridian am Gesäß und am Bein wähle ich den Grundkontakt, zum Bestätigen und um Raum zu geben für die Integration. Nichts Neues mehr, es ist schon viel passiert.

Die Klientin berichtet, dass bei der Arbeit an den Beinen zu Beginn (Milzmeridian) Mut und Zuversicht in ihr entstanden seien, sie spüre wieder Antrieb in sich. Bei den Berührungen am Brustkorb hätte sich ihr Herz geöffnet, sie wäre wieder in eine tiefe Berührung mit sich selbst gekommen und wieder bei sich angekommen, und sie hätte wieder Kontakt zur Welt. Sie fühlt sich wie transparent, sieht dadurch ihre Verletztheit. Und sie fühlt in sich die Gewissheit, dass sie gut für sich sorgen kann: gut essen, sich pflegen …

Das Empfinden der Klientin von geringem Selbstwert und mangelndem Antrieb ging hier zusammen mit dem wahrgenommenen müden, gespannten und wenig kommunikativen energetischen Ausdruck. Das Arbeiten am Milzmeridian brachte die Energie wieder wie in einen guten Tonus und über die Arbeit am Lungenmeridian konnte die Energie wieder zu Austausch und räumlicher Ausdehnung ‚motiviert‘ werden.

Die spürbare Lebendigkeit und Verbindung zu sich als Ganzes sind eine ganz andere Basis für Fragen des Selbstwertes, wenn sie denn in diesem Lebensgefühl überhaupt in dieser Form gestellt würden. Die Klientin sieht nach der Sitzung Möglichkeiten dafür, was sie tun kann und worum es jetzt geht (Verletztheit, gut für sich sorgen), statt wie vorher in einem ‚abgehobenen Selbstentwertungskarussell‘ festzustecken.

Es soll hier noch kurz die Entwicklung in den nächsten Sitzungen beschrieben werden: In der folgenden Sitzung wünschte sie sich, wieder mehr nach unten in die Beine an zu kommen. Die Arbeit am Lungenmeridian über die Einstimmung auf ‚Austausch‘ als Funktion wirkte vor allem vitalisierend auf die Beine, über den Milzmeridian wurde mehr der Brustkorb angesprochen.

In der Sitzung darauf zeigte sich im Meridianscanning die Qualität des Herzkreislaufmeridians still und irgendwie wackelig und ließ sich im Arbeiten gut über ‚emotionale Stabilität‘ ansprechen. Die Energie des Lungenmeridians wirkte, als wolle sie nach oben und außen wie aus der Haut fahren; die innere Einstimmung auf ‚Raum‘ half, diese Spannung zu lösen. Der Herzkreislaufmeridian brauchte einen fast laserartigen und tiefen Druck. Bei der Behandlung des linken Beins tauchte bei der Klientin zunächst Angst, Aufregung, dann Zuversicht auf. Sie benannte es während der Sitzung so. Danach wirkten die Beine wesentlich präsenter und waren wie ein Bogen verbunden nach unten da. Der Punkt Herzkreislauf 8 war wichtig, um dieses Empfinden zu stabilisieren. Die Klientin berichtete nach der Sitzung, dass das „Bibbern“ bei der Arbeit am Bein verbunden war mit der Angst, ihren eigenen Weg zu gehen und volle Verantwortung für sich und ihr Handeln zu übernehmen. Das heißt nicht, dass sie sonst nicht Verantwortung für sich trägt – aber hier wurde es auf einer ganz neuen Ebene und bewusst ‚gefordert‘.

In der Sitzung danach erzählte sie zu Beginn, sie sei wie durch eine Wand gegangen. Es hätte sich ganz grundlegend etwas geändert. In ihr spränge nichts mehr an, wenn es zu Auseinandersetzungen mit ihrem Partner kommt. Sie fühle sich aber immer noch sehr „bibberig“ in diesem neuen Zustand. Sie möchte noch einmal Verstärkung in ihrem Entwicklungsprozess und wieder mehr ihre Beine spüren (das tut ihr immer gut). Beim Scanning war mein erster Eindruck: alles ist gut, nichts fühlt sich ‚behandlungsbedürftig‘ an. Beim genaueren Schauen zeigte sich, dass sich der obere Brustkorb etwas mehr ablegen könnte und die Beine etwas Stärkung brauchen könnten. Die Energie des Herzkreislaufmeridians wirkte beim Scanning leicht bewegt, wie wabernd, fast als würde sie sich weg winden. In der Behandlung arbeitete ich hauptsächlich mit der inneren Einstimmung auf Harmonisieren. Der Lebermeridian zeigte in seinem energetischen Ausdruck eine Spannung im Bereich des Kopfes und der Arme, wie ein Streben nach außen mit Kraft; diese Bewegung fühlte sich noch nicht ganz frei an. Der ‚freie Fluss der Energie‘ passte auch gut, um in Resonanz zu kommen. In der Rückenlage legten sich auf der Seite Brustkorb und Arm mehr ab, allein schon durch die Dehnung des Lebermeridians am Bein mit der ‚Mutterhand‘ auf dem Herzkreislaufmeridian am Kreuzbein. Insgesamt wirkte der Lebermeridian wie ein Lebensmeridian auf die Klientin. Vor allem die Arbeit am Punkt Leber 1 löste mehr Lebensfreude und Vitalität aus und die Klientin spürte Impulse tanzen zu wollen. Der Herzkreislaufmeridian brauchte eine weiche, fast fürsorglich-umfassende Berührung; für den Lebermeridian konnte sie gar nicht spitz genug sein für das Freierwerden der Energie der Klientin, auch am Arm. In der Seitenlage arbeitete ich am Bein an Leber- und Herzkreislaufmeridian gleichzeitig. Die Klientin fühlte sich danach durchströmt von Wärme und Vitalität, so als wären alle Zellen heller geworden. Sie hatte Lust auf Shopping mit Freundinnen und war sehr glücklich nach einer langen eher depressiven Zeit.

Als wesentlich für diese Sitzungssequenz zeigte sich die Unterstützung der Energie zu mehr Vitalität. Das war die Basis für eine größere Stabilität und Freiheit.


Wunsch nach Abgrenzung und Schutz

Im Folgenden soll anhand von mehreren Sitzungsberichten gezeigt werden, wie unterschiedlich und jeweils individuell mit Shiatsu auf ähnliche Anliegen geantwortet werden kann. Als Beispiel habe ich den Wunsch nach Abgrenzung und Schutz ausgewählt, einer sowohl in der Psychotherapie als auch im Shiatsu häufig vorkommenden Hilfefrage.

Frau F., Mitte 40, ist berufstätig im medizinisch-therapeutischen Bereich. Sie kommt seit eineinhalb Jahren etwa alle vier bis sechs Wochen zu Shiatsu-Sitzungen. Vor circa acht Jahren war sie schon einmal vor allem wegen psychischen Fragestellungen da. In der aktuellen Serie geht es vorwiegend um Anliegen auf der körperlichen Ebene: Knieprobleme, Magenprobleme …

In dieser aktuellen Sitzung wünscht sie sich mehr Öffnung. Sie berichtet, dass sie sich zur Zeit als Fahrradfahrerin oft attackiert fühlt von unachtsamen anderen VerkehrsteilnehmerInnen. Auch gegenüber einer Kollegin müsse sie sich oft sehr energisch durchsetzen, weil diese ihre Grenzen nicht respektiere. Ihr sei aufgefallen, dass sie sich während ihrer Arbeit mit PatientInnen sehr öffnen könne. Draußen wäre es nicht möglich, sie müsse sich eher schützen.

Im kurzen Vorgespräch finden wir heraus, dass es nicht so sehr um eine mangelnde Offenheit geht, sondern eher um eine bessere Abgrenzung und um gute Übergänge von dem einen Zustand in den anderen (Arbeit – offen; Außenwelt – schützen).

Von den Harazonen fällt die Nierenzone als kyo auf und sie reagiert mit der Dünndarmzone. Im Meridianscannen dominiert beim Dünndarm der Eindruck von einem gespannten, gehaltenen und überaktiven Bereich im oder oberhalb des Kopfes. Beim Nierenmeridian fällt vor allem auf, dass es im Bauch-Becken-Bereich eine Präsenz der Nierenqualität gibt, die an der Rückseite zu lokalisieren ist und die sich von da aus sehr weit nach außen und vorne aufklappt. So als würde die Verbindung nach vorne nicht stabil sein und zu offen. Ziel der Sitzung ist zum einen die Integration der wahrgenommenen Dünndarm-Qualität in den Körper als Raum und als energetische Vibrationsfrequenz, zum anderen möchte ich Unterstützung geben für einen Halt an der Vorderseite.

Bei der Arbeit am Dünndarm-Meridian am Bein in der Rückenlage reagiert die Energie in die gewünschte Richtung am besten mit der Einstimmung auf Zentrierung in jeder Zelle. Vorher hatte ich versucht, ‚Zentrierung‘ anzubieten, indem ich in mir eine kraftvolle Mittelachse betonte; diese Berührungsqualität stieß jedoch auf energetischen Widerstand. Also soll jede Zelle in dem Bewusstsein unterstützt werden, wahrnehmen zu können, was sie braucht und was nicht zu ihr passt. Diese Einstimmung lässt genügend Offenheit zu. Es gibt viele energetische Bewegungen des Lösens, Fließens und Vitalisierens im Beckenbereich und insgesamt wird die Energie im Körperraum wacher. Die ‚Anstrengung‘ am Kopf löst sich. Das Halten des Hara mit einer Hand vorne auf dem Bauch, die andere unter dem Rücken bestätigt die Wahrnehmungen vom Nieren-Meridian-Scanning. Mit einer Hand in der Nierenzone am Rücken arbeite ich über den Verlauf des Nierenmeridians am Bauch. Es geht um die Verbindung zwischen vorne und hinten. Es fühlt sich fast so an, als würde ich die Energie vorne zusammen nähen. Die äußeren Stellen des Nierenmeridians unterhalb der Schlüsselbeine bieten einen guten Zugang, um die Energie mehr in den Körperraum zu bringen. Ebenso der Nierenmeridian am Kleinfingerballen. Auch bei der Arbeit in der Bauchlage an Dünndarm- und Nierenmeridian geht es immer wieder um den Kontakt zwischen vorne und hinten und die Integration in das gesamte Spektrum der Vibrationsfrequenzen.

Nach der Sitzung empfindet die Klientin ihren „inneren Kern“ weiter und gefüllter. Ich teile ihr einige meiner Eindrücke mit und empfehle ihr, den Verlauf des Nierenmeridans vorne auf dem Rumpf zu visualisieren. Ihr fällt ein, dass sie beim Reiten ganz selbstverständlich diesen Bezug zu dieser Art Halt nach vorne hat bzw. dort schnell herstellt. Sonst habe sie oft das Empfinden, ihr fehle etwas vorne im Brust-Bauch-Bereich.

Die Frage nach Schutz und Abgrenzung muss also nicht mit der Arbeit am Dreifacher Erwärmer Meridian beantwortet werden. Obwohl ‚Schutz‘ für den Dreifacher Erwärmer Meridian die Hauptfunktion ist, ist das Leben viel komplexer als dass es sich in solch einer eins zu eins Zuordnung abbilden ließe. Grundsätzlich wird danach geschaut, wie sich die Energie dieser Person bewegt, welche Muster sie bildet, welche Neigungen und Tendenzen sie hat, auf Reize zu reagieren. Und wir gehen über die miteinander reagierenden kyojitsu-Meridiane in den Kontakt zu dem vorgefundenen Muster. Über diese Meridiane, ihre Funktionen und die Dynamik können wir versuchen, die Beobachtungen, Informationen und Anliegen zu verstehen. Letztendlich kann jede Symptomatik mit jedem Meridian in Verbindung stehen. Und bei gleicher Symptomatik können jedes Mal andere Meridiane in der kyojitsu-Reaktion hervortreten. Manchmal erkennt man bei einer Person, dass sich über die Zeit bestimmte Diagnose-Meridiane auffällig häufen, evtl. jeweils im Zusammenhang mit bestimmten Lebenssituationen, mit Wetter, mit Belastungen, mit Beschwerden … Dann kann man in dem persönlichen Ausdruck über die Meridiane auch von einem Muster sprechen.

Bei dem Ausdruck der Energie der oben beschriebenen Klientin in dieser Sitzung taucht bei mir das Bild von einem Menschen auf, der sich erschreckt, bei dem die Arme nach oben gehen, die Vorderseite sich ungeschützt öffnet und die Energie hinten erstarrt. Wie ein Schrecken, der nicht integriert ist. In Panik hört Integration auf. Wenn etwas nicht verarbeitet wird, kann es eine Art ‚wunden Punkt‘ geben, eine ‚Stelle‘ im energetischen System, von wo die Energie auf Ereignisse keine angemessene Antwort weiß. In solch einen Punkt ‚haken‘ sich schnell entsprechende Energien aus der Außenwelt ein. Es scheint, als wäre die Energie der Klientin zur Zeit nicht bereit, mit Unachtsamkeit und Feindseligkeit als Lebensrealität umzugehen, so als sollte es das im Leben eigentlich nicht geben.

Es gibt sicher noch andere Möglichkeiten, den energetischen Ausdruck hier zu verstehen. Die oben beschriebene Version ist eine brauchbare Arbeitshypothese, um die Beobachtungen mit den interagierenden Meridianfunktionen in Verbindung zu bringen und sich einzuschwingen auf die Klientin. Der Dünndarmmeridian ist hier angesprochen in seiner Aufgabe zu assimilieren und so z.B. auch Schockerfahrungen zu integrieren, der Nierenmeridian in seinem Reagieren auf Bedrohung.

In dem folgenden Sitzungsbericht geht es ebenfalls um das Sich Abgrenzen und Schützen:

Frau B., Ende 30, Fachverkäuferin. Sie liebt ihre Arbeit sehr. Es fiel ihr jedoch bis vor kurzem sehr schwer, sich dort abzugrenzen und sie hat z.B. Hunderte von Überstunden angehäuft, weil sie fast immer bereit ist, zusätzlich zu arbeiten. Mit diesem großen Einsatz in ihrem Beruf kompensierte sie auch lange Zeit ihre private Isolation und ihre Sehnsucht nach einer Partnerschaft. Schon seit einer Weile wagt sie neue Schritte und erobert sich Freiräume und Freude im Privatleben. Die Neigung, sich von den Wünschen und dem Handeln anderer bestimmen zu lassen, besteht weiterhin. Ursprünglich war sie wegen heftiger Kopf- und Nackenschmerzen gekommen, die sich nach einigen Sitzungen gebessert hatten. Nachdem sie mit Erstaunen feststellte, dass sich zusätzlich ihr Denken verändert hatte, sie freier und beweglicher im Denken geworden sei, so dass andere es bemerkt hätten, traten mehr und mehr psychische Belange als Anliegen in den Vordergrund.

Sie berichtet in dieser Sitzung, dass sie in größerer Runde einen Mann kennen gelernt hat, der sie jetzt häufig anruft. Er ist ihr nicht besonders sympathisch. Sie antwortet jedoch immer freundlich auf seine Anfragen, lässt sich auf ein Gespräch mit ihm ein und verspricht auch, dass sie ihn anrufen würde. Innerlich gerät sie dabei aber in Rage. Sie schafft es nicht, ihm zu sagen, dass er nicht mehr anrufen soll. Sie hat das ganze letzte Wochenende mit dem Druck und der Angst vor möglichen Anrufen von ihm verbracht und hat auch schon Treffen mit ihrem Bekanntenkreis vermieden, um ihm nicht zu begegnen. Außerdem hat sie zur Zeit ein großes Wärmebedürfnis. Sie wünscht sich zum einen Schutz und zum anderen Weite im Brustkorb und in den Schultern; dort fühlt sie sich oft eingeengt.

Der Schulterbereich wirkt gespannt, so als würde er im Liegen höher sein als der Rest des Körpers. Der Dickdarmmeridian als jitsu reagiert in den Harazonen mit dem Gallenblasenmeridan als kyo. Im Scanning drückt sich die Qualität des Dickdarmmeridians als gespannte Begrenzung aus, die dann während der Sitzung auf meine Einstimmung auf ‚Lassen‘ und ‚Raum‘ reagiert. Die Gallenblasenenergie wirkt wie zusammen geklumpt, schwer, unbeweglich. Das Verteilen gelingt über das Einfärben meiner Energie auf ‚meinen Weg gehen‘. Schon nach kurzer Meridianarbeit an den Beinen haben sich die Schultern gelöst und nach einer Weile bewegt sich die Energie insgesamt mehr, feiner und es fühlt sich nicht mehr so gestaut an.

Die Klientin hatte das Lösen der Schultern ziemlich zu Anfang bemerkt. Sie berichtete, dass sie nach einer Weile helles, gelbliches Licht gesehen hätte und sie war ganz erstaunt, dass nicht die Sonne scheint.

Im Nachgespräch, bei dem ich ihr auf Nachfrage einige meiner Wahrnehmungen mitteile, wird für sie der Unterschied deutlich zwischen ‚Kämpfen an und um ihre/r Grenze‘ und dem neuen Gefühl von ‚Erlaubnis‘, ihrer Wahrnehmung, ihren Werten, ihren Vorlieben zu vertrauen. In diesem neuen Zustand kann sie spüren, dass sie ein Recht auf ihren ‚Raum‘ hat und sie kann sich vorstellen, dass sie ihn direkt bewahren kann ohne schon vorher auf den antizipierten Übergriff zu reagieren. Wie sich in den Sitzungen danach zeigte, wird es noch eine Weile dauern und Unterstützung benötigen, bis ‚alle Zellen‘ diese neue Sichtweise verstanden haben.

In dem folgenden Bericht geht es bei der Shiatsu-Antwort auf eine ähnliche Fragestellung mehr um die Integration von Körper und energetischem Feld:

Frau M., Mitte/Ende 20 Jahre, Berufsanfängerin als Sozialpädagogin. Sie kommt zum Shiatsu, weil sie sich aktuell Unterstützung wünscht in einer schwierigen Lebenssituation. In ihrer neuen Stelle fühlt sie sich überfordert, vor allem durch die Aggressivität und das wenig kollegiale Verhalten im Team. Auch ist sie in ihrer Wohnsituation zur Zeit einer eher feindseligen Stimmung ausgesetzt. Um sich zu schützen, verschließt sie sich, es trifft sie aber dennoch. Sie fühlt sich sehr verletzlich und äußerst erschöpft. Sie ist zierlich und wirkt auf mich fast etwas durchsichtig; ich empfinde sie als offen, freundlich, ‚hell‘. Sie hat schon Erfahrung mit anderen Formen von Körper- und Heilarbeit. Ihr konkreter Wunsch für die erste Sitzung ist, sich kräftiger zu fühlen.

Ich nehme über Bo Shin und Setsu Shin eine feine, lebendige, kräftige Energie wahr. Das besondere ist, dass es sich so anfühlt, als würde der physische Körper nicht mit in diese Energie einbezogen. Er wirkt ganz still, wie unbewohnt. Mein Ziel für die Sitzung, das sich aus ihrem Anliegen und meinen Wahrnehmungen entwickelt, ist es, den physischen Körper und diese lebendige Energie mehr miteinander zu verbinden.

Die Kyojitsu-Reaktion am Hara ergibt als interagierende Meridiane: Milz kyo und Lunge jitsu. Die inneren Haltungen, mit denen ich in Resonanz kommen kann mit ihr und mit der ich hier eine Integration von der lebendigen Energie und dem Körper unterstützen kann, sind ‚Transformation‘ für Milz und für Lunge die ‚Kondensation von kosmischem Ki‘. In die Berührungen beziehe ich bewusst das energetische Feld mit ein, so als wüssten meine Hände, dass ich mich gleichzeitig in den Körper hinein und auf das Feld um den Körper herum beziehe. In mir achte ich während des Arbeitens auf eine gute Verbindung der physischen und geistigen Aspekte, des Körperraums und des Feldes um mich. Vor allem beim Milzmeridian wirkte ein sehr tiefes Einsinken zusammenführend auf die nicht so gut verbundenen Qualitäten.

Nach der Sitzung strahlt sie; sie fühlt sich ganz anders, viel geerdeter. Schon bald, als ich an den Beinen gearbeitet hatte, wäre ihr Herz wieder aufgegangen. Sie kennt ihre Neigung ‚aus dem Körper raus zu gehen‘. Jetzt fühlt sie sich aber wieder gut verbunden.

In den folgenden Sitzungen konnte dieser Prozess noch mehr stabilisiert werden. Ab der dritten Sitzung nahm sich die Klientin selbst als größer wahr, einige Sitzungen später war sie konstant deutlich mehr im Körper angekommen und hatte eine kräftige robuste Ausstrahlung und wirkte gar nicht mehr so zart wie zu Anfang. Sie hat sich schnell aus der unglücklichen Wohnsituation gelöst. Die Arbeit wollte sie als Berufsanfängerin nicht gleich wechseln. So wurde die herausfordernde Situation für sie zu einem kontinuierlichen Übungsfeld, sich zu behaupten, sich abzugrenzen, sich unabhängiger von den Einschätzungen der Kollegen und Kolleginnen zu machen. Shiatsu hat sie dabei in ihrer Zentrierung, Erdung und Klarheit unterstützt und im Verarbeiten von schwierigen Erfahrungen.

„Letztendlich hilft uns Shiatsu, die Einmaligkeit jedes Menschen und den Wert des Lebens selbst schätzen zu lernen. Shiatsu erlaubt uns nicht nur andere, sondern auch uns selbst zu heilen. Es bietet uns die Gelegenheit, unseren Platz in der Unendlichkeit des Universums zu entdecken und an diesem Kontinuum durch Transformation teilzuhaben.“
(Pauline Sasaki)

———————————————————————–

© Brigitte Ladwig, Leiterin des Europäischen Shiatsu Instituts Münster (c/o Sobi, Achtermannstrasse 10 – 12, D – 48143 Münster, Tel: 0049 – 251 – 43 765, www.esi-muenster.de); lernt seit 1980 Shiatsu; nach Shiatsu-Lehrtätigkeit im Rahmen des Ohashiatsu Instituts 1989 Mitbegründerin des Europäischen Shiatsu Instituts; seit 1991 Schülerin von Pauline Sasaki und Cliff Andrews; Shiatsu-Lehrtätigkeit in Deutschland, Österreich, Italien und der Schweiz. Autorin des Video/DVD ‚Shiatsu – Grundlagen und Praxis‘. Psychologische Psychotherapeutin, seit 1985 in eigener Praxis mit Methoden der Tiefenpsychologie, Körperpsychotherapie, Initiatischen und Transpersonalen Psychotherapie. Heilpraktikerin.             
Der vorliegende Artikel ist Teil des Kongressbandes „Europäischer Shiatsu-Kongress Kiental 2004“.