Shiatsu bei Schock und Trauma (Peter Itin)
Was sind Schock und Trauma?
Trauma ist die Bezeichnung für das Erleben oder Beobachten eines aussergewöhnlichen Ereignisses:
- das überraschend / unerwartet kommt,
- das unausweichlich ist, und
- das eine ernsthafte Gefahr für die körperliche Unversehrtheit darstellt.
In einer traumatischen Situation sind Flucht oder Verteidigung nicht mehr möglich. Der Schutzmechanismus wird ausser Kraft gesetzt, es findet eine Überwältigung statt. Traumatische Ereignisse sind verbunden mit einem Schock, einem subjektiven Erfahren von intensivster, existenzieller Angst, von vollständiger Ohnmacht, von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit, von überwältigender Panik und blankem Entsetzen. Körperlich findet im Schock eine Überlastung des Nervensystems statt, ein Erstarren, energetisch ein „Einfrieren der Lebenskraft“, die „eiskalt in den Knochen“ sitzt. Die erste Phase wird oft abgelöst von „mechanischen Handlungen“ (z.B. Weiterfahren nach einem Unfall als ob nichts gewesen wäre), und verzögerten Reaktionen (Zusammenbruch, Fluchtversuch, Weinen, Schwitzen, Herzrasen, Zittern usw.). Psychisch finden eine Art „Betäubung“ (Gefühlsnarkose und Schmerzunempfindlichkeit) sowie Dissoziieren („geistiges Wegtreten“) statt. Später kann man sich an das Ereignis selbst (z.B. den Aufprall im Unfallgeschehen) oft nicht mehr erinnern.
Ein wesentliches Element des Traumas besteht darin, dass störende Folgewirkungen im Denken, Fühlen und Handeln auftreten. Das Trauma sitzt immer noch im Nervensystem – der Körper erinnert sich. Typische Symptome sind:
- schnelle Aktivierung („Überempfindlichkeit“)
- bildhafte Flashbacks (als sähe man die Szene vor dem inneren Auge) und
- Sprachlosigkeit („mir fehlen die Worte, das Grauen zu beschreiben“).
Meist verschwinden die Symptome nach ein paar Wochen. Bleiben sie lang anhaltend, spricht man von Posttraumatischen Belastungsstörungen. Diese können sich beispielsweise in Phobien (z.B. Angst vor roten Autos), Vermeidungsverhalten (nicht mehr Fahrstuhl fahren), Angstattacken, Kontrollzwängen, Teilnahmslosigkeit, Flashbacks, Schuldgefühlen u.a. äussern. Bei Kriegsveteranen treten die traumatischen Bilder auch Jahrzehnte später unverändert lebendig und belastend auf. Selbst wenn das Geschehen aus rationaler Sicht „verstanden“ wird, reagieren traumatisierte Menschen emotional immer noch unter dem Einfluss des vergangenen Ereignisses.
Als sekundäre Folgen können z.B. Arbeitsunfähigkeit (Invalidität) und tiefgreifende Persönlichkeitsänderungen resultieren (z.B. Alkohol, Drogen, Depression, chronische Nervosität, dauerhafte Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses, feindliche Haltung der Welt gegenüber, religiöser Wahn, Bulimie, Magersucht u.a.).
Trauma-KlientInnen finden sich in jeder Shiatsu-Praxis
Wir haben häufiger traumatisierte Personen in unserer Praxis als wir denken. In 10 von 26 Fallstudien, welche die SGS von Mitgliedern erhielt, lagen traumatische Störungen vor. Auch wenn diese zufällig gesammelten Fälle statistisch nicht repräsentativ sein wollen, so lässt der hohe Anteil dennoch aufhorchen.
Fast 40% der Frauen in der Schweiz erleben in ihrem Leben mindestens einmal physische, sexuelle oder verbale Gewalt. Jährlich sind in der Schweiz 5’000 Unfälle mit der Diagnose Schleudertrauma statistisch erfasst, d.h. die Wahrscheinlichkeit, innerhalb der Lebensspanne davon betroffen zu sein, liegt bei mindestens 5%.
In einer amerikanischen Repräsentativuntersuchung wurde ermittelt, dass 50% der Männer und 60% der Frauen mit mindestens einem traumatischen Erlebnis in ihrem Leben konfrontiert wurden. 5% der Männer und 10% der Frauen gaben an, in Laufe ihres Lebens unter einer posttraumatischen Störung gelitten zu haben. Man geht davon aus, dass jedes vierte Mädchen und jeder achte Knabe in unseren westlichen Ländern sexuellen Missbrauch bzw. Übergriff erleben, wobei die Täter zu 80% aus dem Familienkreis stammen.
Manche KlientInnen kommen ins Shiatsu, weil sie den Eindruck gewonnen haben, die Schulmedizin „hätte sie aufgegeben“. „Man findet nichts“, ist eine übliche Aussage, oder „es sei psychosomatisch“. Wenn wir sie nach ihren Problemen fragen, nennen sie manchmal eine Kombination von verschiedenen, oft wechselnden Symptomen (= Syndrom), die auf eine posttraumatische Störung hinweist, z.B. Angst, Unsicherheit, Unzugänglichkeit, rasches Ermüden, Konzentrationsprobleme, Schuldgefühle, Überempfindlichkeit usw.. Da das traumatische Ereignis von der Fähigkeit zu seiner Verarbeitung abgespalten wurde (kein Erinnern), und manchmal lange zurückliegt (z.B. sexueller Missbrauch in der Kindheit), ist diese Zuordnung jedoch oft auch für Ärzte und Psychiater nicht augenfällig und zunächst hypothetisch. Als Shiatsu-TherapeutInnen steht es uns nicht an, „medizinische Diagnosen“ zu stellen. Trotzdem gebietet es die Vorsicht, das Vorliegen bisher unerkannter Traumata zumindest nicht auszuschliessen. Nicht selten zeigt sich im Verlauf des therapeutischen Prozesses, dass ein Trauma oder dass gar multiple Traumen vorliegen und möglicherweise Ursache der Beschwerden sind.
Gewisse KlientInnen suchen Shiatsu bewusst wegen posttraumatischer Belastungsstörungen auf. Sie suchen nach alternativen Wegen, sich von ihrem Leiden zu befreien oder zumindest besser damit umgehen zu lernen. Hier drei Beispiele aus meiner Shiatsu-Praxis:
Klientin A. wurde mir von ihrer Hausärztin überwiesen, weil sie ein paar Tage zuvor Opfer eines Raubüberfalls wurde – sie wurde von hinten angefallen, gewürgt, man hielt ihr eine Pistole an die Schläfe und verlangte ihr Geld. Seither stand sie unter Schock. Sie funktioniere wie eine Marionette, die Arme seien wie tot, sie fühle sich energielos, innerlich dumpf, leer, heimatlos, traurig, lebe wie unter einer „Glocke“, leide unter Angstzuständen und Alpträumen, Kopfschmerzen und Nackenverspannungen, war ihre Beschreibung bei der ersten Sitzung.
Klient B. sprach mit mir nach einer Shiatsu-Behandlung – es war seine dritte – über die möglichen Bedeutungen seiner Hara-Diagnose. In diesem Zusammenhang tauchte auf, dass er zwei Jahre zuvor einen Autounfall verursacht hatte, bei dem seine Beifahrerin schwer verletzt wurde und lange Zeit arbeitsunfähig blieb. Seine starken Schuldgefühle hatte er in der Zwischenzeit mehrheitlich verdrängt, sie waren aber latent immer noch vorhanden und innerlich „bedrückend“.
Klientin C. kam wegen permanent wechselnder, psychosomatischer Beschwerden ins Shiatsu. Sie litt seit Jahren ständig unter Kopf- und Bauchschmerzen, täglich mehrfachen Durchfall-Anfällen, Herzrasen, Hautausschlägen und permanenten Angstzuständen. Ihr Hausarzt und auch ihr Psychiater waren längst ratlos. Eine lebenslange Medikation war für sie keine Option. Sie wollte sich ihrem Körper stellen. Ihr Leben war geprägt durch eine Kette traumatischer Erlebnisse, mit frühen Rückweisungen durch die Eltern, lebensbedrohlichen Verhaltensweisen ihres älteren Bruders in der Kleinkind-Phase, sexuellen Übergriffen und Überfallen-Werden in der Adoleszenz.
Verschiedene Typen von Traumata
Im Trauma findet eine massive Einwirkung von Aussen statt. Beispiele sind:
- Unfälle mit starken Körpereinwirkungen (z.B. Verkehrsunfälle, Sportunfälle, Berufsunfälle, Stürze, Vergiftungen)
- Körperliche Angriffe von Menschen und Tieren (z.B. Raubüberfall, Vergewaltigung, Kampfhunde)
- Körperverletzungen und -eingriffe (z.B. Schuss- und Stichwunden, Knochenbrüche, Operationen)
- Emotionale Traumata (z.B. Verlassen werden vom Partner, Todesfall in der Familie, einen schweren Unfall sehen, Beinahe-Unfall mit Flugzeug)
- Existenzbedrohende Situationen (z.B. Ersticken, Ertrinken, vorgeburtlicher Stress wie Eingriffe im Uterus, Geburtstrauma).
- Naturkatastrophen (z.B. Feuersbrunst, Überschwemmungen, Erdbeben)
- Lebensbedrohliche Erlebnisse von lang anhaltender Dauer sind z.B. Vernachlässigung in der Kindheit, rituelle Folter, Krieg, Hungersnot u.a..
Die Störungen sind umso schwerwiegender:
- Je grösser die eigene Gefährdung und Betroffenheit war
- Wenn das Trauma durch Menschen verursacht wurde
- Je enger die Beziehung zur Tatperson war
- Je länger das traumatische Geschehen andauerte.
Nicht nur das objektive Ereignis selbst, sondern die subjektiv wahrgenommene Bedrohlichkeit ist ausschlaggebend. Nicht alle Menschen reagieren gleich intensiv und lange auf eine an sich gleichartige Situation. In einer Studie zu Vergewaltigungsopfern litten 35% an posttraumatischen Belastungsstörungen, bei versuchter Vergewaltigung waren es 14%.
Posttraumatische Symptome
Nach Stürzen und starkem Aufprall z.B. bei Unfällen finden sich oft die Symptome des Schleudertraumas: rasches Ermüden, Erschöpfung, Schwindel, Benommenheit, Vergesslichkeit, Orientierungslosigkeit, Gleichgewichtsstörungen, Schreckhaftigkeit, schlechte Konzentrationsfähigkeit, lokale körperliche Bewegungseinschränkungen, Kopfschmerzen, Angst vor Autos, Vermeidungshaltungen, Flashbacks, Angstträume, Schlafstörungen, Depression, Schuldgefühle usw..
Nach unvermeidbaren Angriffen und Verletzungen finden wir oft Hyperwachsamkeit und Misstrauen, ein rasches Auftreten von Hilflosigkeitsgefühlen, Erstarren, Angst vor Männern/Tieren usw..
Missbrauchte Menschen fühlen sich oft ausgegrenzt, „gebrochen“ und minderwertig. Zu beobachten sind Verlust der Selbstachtung, zerstörtes Selbstwertgefühl, Selbstvorwürfe, Selbsthass, Scham und Schuldgefühle. Reaktionen können Suizidversuche, Selbstverstümmelung, Magersucht, Bulimie, Alkoholismus, Drogensucht, Ängste und Paniksyndrome, Lernschwierigkeiten, sexuelle Störungen bis hin zur zersplitterten Psyche sein. Es ergeben sich Opfer-Haltungen, Teilnahmslosigkeit, Gefühle von Wehrlosigkeit, sich Abschotten, sich zurückziehen und verstecken wollen, und die Unfähigkeit, Gefühle überhaupt zulassen zu können oder subtile Empfindungen zu spüren (z.B. Zärtlichkeit). Viele können keine Liebe geben oder annehmen, Frauen entwickeln einen eigentlichen Männerhass.
Wo keine echte und liebevolle Erziehung erlebt werden durfte, treten vielfach Autoritätsprobleme, Integrationsprobleme, Bindungs- und Beziehungs-Unfähigkeit auf.
Trauma ist verbunden mit einer weiterhin präsenten Existenzangst und einer permanenten Übererregung und Übereregbarkeit. Typisch für traumatisierte Personen ist ihre geringe Frustrations-Toleranz oder Belastbarkeit bei Stress. Ihre Reaktionen erscheinen unangemessen, übertrieben, überempfindlich. Sie sind z.B. sehr schreckhaft oder aber misstrauisch, übervorsichtig. Sie reagieren sehr schnell entweder mit Wut, Gereiztheit, Aggressivität, oder aber umgekehrt mit Rückzug, Resignation, Energielosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Mutlosigkeit. Der geringste Anlass, der in der Grundanlage mit der Trauma-Struktur übereinstimmt, führt zur sofortigen (Über-) Alarmierung des Nervensystems.
Trauma-Opfer zeigen zudem starke psychosomatische Reaktionen, die mit den Organfunktionen zu tun haben (Asthma, Herzrasen, Verdauung). Bei einem Stress, der das Trauma aktiviert, werden rasch Schlaflosigkeit, Schlafstörungen, Panikattacken, Schweissausbrüche u.a. ausgelöst.
Bei Kindern finden sich z.B. Sprachverweigerung und Sprachstörungen, Entwicklungsverzögerungen und Regression.
Was geschieht im Körper des Menschen?
In einer gefährlichen Situation reagiert der Mensch zunächst mit erhöhter Aufmerksamkeit und versetzt sich in Alarmbereitschaft. Ist die Bedrohung klein oder vorbei, entspannt er sich wieder. Nimmt die Bedrohung jedoch zu, kommt Angst ins Spiel und die Reaktionsmuster von „Fight“ oder „Flight“ werden aktiviert, er versucht zu kämpfen oder zu fliehen. Im Falle eines Traumas, wo alles überraschend, viel zu schnell und zu heftig passiert, werden diese Bewältigungsstrategien ausser Kraft gesetzt. Panik taucht auf, und die einzige Überlebenschance ist der „Freeze“, die Erstarrung im Schockzustand – so wie wir es von der Maus kennen, die schon im Mund der Katze steckt und dank dieser Starre manchmal überlebt. Verbunden damit ist das Gefühl von Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit, ein „inneres Aufgeben“, ein geistiges Dissoziieren, ein seelisches Wegtreten von der Realität.
In der Tierwelt kann man beobachten, dass nach einer Periode körperlicher Starre – das Tier scheint bereits tot zu sein – der ganze Körper zu zittern beginnt und sich die gestaute Energie dadurch voll entlädt, bis der Körper wieder normal funktioniert.
Nach Stress und Trauma greift das Nervensystem des Menschen die „Lektion“ heraus und erledigt sich meist innerhalb weniger Tage der Gefühle, Gedanken und Aktivierungen (sog. „Trauerarbeit“, Homöostase). Bei Personen mit posttraumatischen Belastungen hält das limbische Gehirn die Alarmbereitschaft aufrecht. Die Bilder, Geräusche, Emotionen und Empfindungen bleiben im Nervensystem und im emotionalen Gehirn als unverarbeitete, dysfunktionale Informationen verankert, ohne Beziehung zum rationalen Wissen über die Welt. Die durch den Schock hochkomprimierte Energie bleibt im Körper stecken. Die notwendige Entladung und Entspannung findet nicht statt, es verbleibt eine unnötig hohe Alarmierung. Jede Situation, die auch nur einen Aspekt der erlebten Begebenheit enthält, kann die gesamte Erinnerung wieder aufrufen und autonome, unangemessene Reaktionen auslösen. Die Person wirkt übermässig rasch gestresst, harmloses wird bereits als bedrohlich empfunden, der Körper reagiert mit Schmerzen usw.. Neben dem Phänomen der raschen „Überaktivierung“ kann auch das Komplement dazu beobachtet werden, ein rasches Kollabieren, Aufgeben und sich innerlich Verabschieden. Eine volle Verbindung mit dem Hier und Jetzt ist in beiden Ausprägungsformen nicht mehr möglich, das Trauma des früheren Ereignisses beeinträchtigt die gegenwärtigen Situationen und Handlungen und beeinflusst sie auf unangemessene Weise.
Shiatsu bei Traumafolgen
Traumatisierte Klientinnen können mit Shiatsu gut unterstützt werden. Es ist empfehlenswert, dass sie sich darüber hinaus in ärztlicher Begleitung und professioneller Trauma-Therapie befinden.
Im Shiatsu ist es zunächst zentral, bei Trauma-Klientinnen ein Gefühl von Sicherheit, Kontrolle, positiver Unterstützung, realistischer Zuversicht und Vertrauen herzustellen, d.h. einen entsprechenden „energetischen Raum“ auf der Beziehungsebene aufzubauen.
Mit der Überwältigung ist – aus energetischer Sicht – eine Bewegung (Flucht, Kampf) abrupt unterbrochen worden, die als blockierte Energie immer noch im Körper steckt. Meist ist auch eine Abspaltung zwischen Körper, Geist, Gefühlen und Seele erfolgt. Wir haben also extreme, energetische Phänomene oft gleichzeitig vorliegend: Jitsu (komprimierte Energie, die nach Bewegung und Befreiung ruft) und Kyo (Leere, die nach Nährung und dem Wiederherstellen von Verbindungen ruft).
Folgende Aspekte können im Shiatsu besondere Bedeutung erlangen
- das Ansprechen der tiefsten, lebensbejahenden Kräfte im Menschen, Kontakt aufnehmen mit der inneren Zuversicht, dem Sinn des Lebens, dem Urvertrauen, (Nieren-Energie)
- „Bewegen“ (aus der Immobilität heraus führen – das Leben geht weiter; „wieder in Fluss kommen“, „den Rhythmus wieder finden“ (Leberenergie, Blasenenergie, Lungenenergie)
- das „Wieder-Verbinden“ und Re-Integrieren, z.B. Kopf und Rumpf / Oben-Unten, Gelenke als Übergänge und Verbindungsglieder, körperliche und emotionale Ebene wieder zusammenführen, usw. (Dünndarm-, Dreifacherwärmer- und Holz-Energie)
- Das Zulassen auch negativer Gefühle, z.B. der Wut, die aus Scham unterdrückt wird, weil die Tatsache der Überwältigung als Versagen beurteilt wird (Gallenblasen-Energie)
- das Erden“, d.h. Kontakt herstellen mit dem Materiellen, dem Hier und Jetzt, (Arbeit an den Füssen; viel Gewicht; Magen-Energie)
- das Gefühl, wieder ganz im Körper und zentriert zu sein (den ganzen Körper spüren und integrieren, Hara stärken, Lenker- und Konzeptionsgefäss)
- die eigene Identität spüren und stärken (Herz-Energie)
- die eigenen (verletzten) Grenzen zurückgewinnen (Dickdarm-Energie)
- Nährendes und Tröstendes erhalten (Ur-Mütterliches, Milzenergie)
- Entspannen, Überaktivierung abbauen.
Dabei handle ich im Shiatsu nicht „konzeptionell“ nach Plan. Ich reagiere auf das, was sich entwickelt und zeigt. Ich schwinge mich auf die Person als Ganzes ein. Ich habe in jedem Moment ein grosses Spektrum von Möglichkeiten. Ich kann lokal die physische Beweglichkeit eines Gelenks fördern und mich später auf ein überpersönliches, universelles Thema einschwingen. Meine Offenheit hilft mir zu sehen und zu spüren, wo der Fokus im Moment zu liegen hat. Behandeln und Diagnostizieren sind eins und laufend im Fluss. Die Stichwörter zu den Meridianfunktionen helfen mir, den jeweiligen Fokus zu klären und mich auf die verschiedenen Ebenen (körperlich, emotional, mental, spirituell) einzuschwingen, um so die optimale Begegnung und Wirkung erreichen zu können.
Bei Schleudertrauma ist die Energie oft so geballt, dass wir einen muskulären „Schutzpanzer“ vorfinden. Es ist besonders darauf zu achten, dass die Shiatsu-Arbeit den Körpersignalen folgt, dass z.B. Seitwärts-Bewegungen des Kopfes nicht forciert werden. Wenn sich der Kopf gegen eine Drehung sperrt, bieten wir ihm ein offenes Gefäss an, das ihn stützt und ihm ermöglicht, seine notwendigen Bewegungen selbständig zu finden. Nur so gelingt es ihm, das Vertrauen in diese Bewegungen wiederherzustellen. Innerliches Zureden ist oft hilfreich („schau, es ist links wieder sicher, die Gefahr ist vorbei“). Unsere innere Einstellung unterstützt das Nervensystem darin, zu entspannen und unnötige Muster aufzugeben.
Bei Trauma können wir auch „in die Zeit zurück scannen“ und z.B. Hara-Diagnosen für frühere Zeitpunkte stellen, z.B. den Zeitpunkt vor dem Unfall (was war das Bedürfnis, als alles noch ok schien?), den Zeitpunkt des Unfalls (was passierte), und die Zeit danach. Manchmal kommt uns in der Behandlung selbst ein Thema in Form eines Bildes oder Stichworts entgegen, auf das wir eingehen können.
Wirkungen und Verhaltensweisen während der Behandlung
Shiatsu kann traumatische Gefühle, Erlebnisse und Erfahrungen aktivieren – der Körper erinnert sich.
Werden Spannungen gelöst, können sich körperliche Reaktionen zeigen, tiefe Erschöpfung, Gähnen, Tränen, Schütteln des Körpers, usw.. Die Klientin ist zu ermuntern, derartige Reaktionen zuzulassen und als positive Entladungen zu werten.
Traumatische Erfahrungen kennzeichnen sich dadurch, dass sie einen negativen Sog entwickeln, dem sich Betroffene willentlich selber kaum entziehen können. Das Unterbewusstsein möchte das Erlebnis und seine Folgen abschliessen und schafft es nicht. Zuviel und „immer wieder“ über das negative Erlebnis zu sprechen hat erfahrungsgemäss eine retraumatisierende Wirkung und ist zu vermeiden.
Den Sog des Traumas erkennen wir vor allem in Form von Beschleuigung (z.B. schnell alles erzählen wollen) und Aktivierung (Erregung). Ein Eintauchen der Klientin in den negativen Sog des Traumas ist möglichst zu verhindern, z.B. durch den Bezug zum Hier und Jetzt im Raum (Aussen- statt Innen-Wahrnehmung).
Tritt eine emotionale Überwältigung dennoch ein, sollte die Therapeutin in geeigneter Weise die Orientierung im Hier und Jetzt aufrechterhalten, z.B. durch Verwenden von Alltagssprache, oder durch die Aufforderung an die Klientin, die Augen zu öffnen (und z.B. zu beschreiben, was sie gerade sieht). Die Klientin ist zu fragen, was sie in diesem Moment benötigt, z.B. physischen Kontakt, oder ggf. bloss ein Taschentuch, das wir ihr respektvoll anbieten (nicht aufdrängen).
Als Therapeutin müssen wir nicht „neutral“ bleiben. Im Gegenteil weiss man aus Erfahrungen und Forschung in der Psychotherapie, dass eine mitfühlende Beziehung für den Therapieerfolg mitentscheidend ist. Mitschwingen heisst Mit-Leben. Eine Therapeutin soll mitfühlen. Mitgefühl ist zu unterscheiden von Mitleid, bei dem ich zuviel Leid der anderen Person auf mich zu laden versuche. Es ist wichtig, im Mitgefühl zu bleiben, das gleichzeitig eine innere Stabilität beinhaltet, währenddessen Mitleid überwältigt. Gerade bei Trauma ist es wichtig, dass die Therapeutin den Raum und die Orientierung im Hier und Jetzt halten kann – in schwierigsten emotionalen Situationen. Gegebenenfalls ist Supervision eine wichtige Unterstützung. Man sollte jedenfalls keine Klientinnen behandeln, deren emotionale Situation man nicht halten kann.
Generell sollten wir traumatisierte Klientinnen darin unterstützen, seelische Kräfte und Stabilität als Basis für die Alltagsbewältigung bewusst zu entwickeln. Es gilt, positive Ressourcen zur Bewältigung des Hier und Jetzt aufzubauen – unterstützende Beziehungen, erfreuliche Aktivitäten usw.. Ggf. gelingt es der Klientin, ein „Ressourceninventar“ über die eigenen Stärken zu verfassen, oder ressourcierende Aufgaben zu erfüllen, z.B. freudvolle Erlebnisse in einem „Tagebuch der Freude“ festzuhalten. Es ist wichtig, kleine Erfolge und Fortschritte festzustellen und wertzuschätzen. Das Selbstwertgefühl und die Selbstliebe müssen gesteigert werden. Dem Sog des Negativen ist die nährende Kraft des Positiven gegenüberzustellen.
Literatur
- Peter Levine, Trauma-Heilung, Synthesis Verlag, 1998.
- Babette Rothschild, Der Körper erinnert sich – Die Psychophysiologie des Traumas und Traumabehandlung, Synthesis Verlag, 2002.
- Louise Reddemann, Eine Reise von 1’000 Meilen beginnt mit einem ersten Schritt, Herder Spektrum 2004.
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© Peter Itin, Shiatsu-Therapeut und Kursleiter in Basel und Muralto; Ausbildung in Traumaheilung bei Peter Levine (Somatic Experience); Tai Chi-/Chi Gong-Lehrer im Chen Stil; Berater des Vorstands der Shiatsu Gesellschaft Schweiz; derzeit Präsident des Dachverbands Xund (veröffentlicht in Shiatsu Journal 43, Winter 2005)