Shiatsu bei Erkältungen (Wilfried Rappenecker)
Durch Shiatsu können unter ungünstigen Bedingungen heftige Erkältungen ausgelöst oder bestehende Erkältungen verschlimmert werden. Warum das geschehen kann, wie es sich vermeiden läßt und wie man Erkältungen mit Erfolg behandeln kann, davon berichtet dieser Artikel.
Fast alle, die Shiatsu machen, werden schon einmal erlebt haben, dass eine behandelte Person nach einer Shiatsu-Behandlung eine schwere Erkältung entwickelte. Wenn alles überstanden ist, berichtet dieser Mensch vielleicht sogar, dies sei die heftigste Erkältung seit vielen Jahren gewesen.
Häufig wird dieses Ereignis dann beispielsweise dahingehend interpretiert, dass die Behandlung einen notwendigen Reinigungsprozess auslöste, der zu begrüßen sei, oder dass der Körper der erkrankten Person sich so die dringend benötigte Ruhe holte. Das mag auch zutreffen. Meist wird es sich jedoch ganz simpel vor allem darum handeln, dass die Shiatsu-Behandlung das Wei Qi vorübergehend schwächte, und das ist durchaus nicht immer wünschenswert.
Wie kann das sein? Wie kann Shiatsu, dass doch angeblich kaum Nebenwirkungen hat und immer gut tut, die Abwehrkraft eines Menschen schwächen? Wir brauchen aufmerksame Beobachtung, eine gute theoretische Grundlage und geeignete Techniken, um die richtigen Erfahrungen sammeln zu können und zu verstehen, was da geschieht.
Betrachten wir zunächst einmal den Menschen, der in dieser Weise auf eine Shiatsu-Behandlung reagiert. Meist – wenn auch nicht immer – bekommen wir bereits vor der Behandlung Hinweise darauf, dass bei diesem Menschen eine Erkältung im Anmarsch ist. Entweder ist unser Partner bereits seit 1 oder 2 Tagen krank oder er ist fröstelig und berichtet uns, dass er sich unwohl fühle, so als „habe es ihn erwischt”.
Mit einiger Erfahrung wird man dann die beginnende Erkältung – auch, wenn sie noch nicht richtig ausgebrochen ist – im Gesicht des Menschen, in seiner Haltung oder in der Weise, wie er sich anfühlt, ahnen. Wer öfters den Puls seiner Klienten fühlt (was sehr zu empfehlen ist), wird feststellen, dass der Puls etwas rascher, angespannter und oberflächlicher als sonst ist. An dieser Stelle sollte jetzt (auch ohne Fühlen des Pulses) beim Behandler ein kleines Warnlämpchen aufleuchten. In der Regel sage ich hier meinen Klienten, dass ich sie dieses Mal anders behandeln werde als sonst, vorausgesetzt sie bestehen nicht auf „ihrer” Erkältung.
Tiefenentspannung vermeiden und das Wei Qi stimulieren
Die Behandlung, die dann folgt, ist meist kürzer als sonst, sie dauert höchstens 35 Minuten. Ich versuche, zu vermeiden, dass die Person „wegtaucht”, d.h. tief entspannt, arbeite also meist relativ rasch und belebend.
Zusätzlich wende ich eine Technik an, die ich bei Menschen entwickelt habe, denen immer sehr kalt beim Shiatsu wurde: ich reibe mit relativ großem Druck über die Kleidung meines Partners (die jetzt hoffentlich nicht aus synthetischen Fasern besteht und auch kein fluselndes Mohairwolle-Teil ist), so dass die Körperoberfläche an dieser Stelle nicht nur warm, sondern richtig heiß wird. Diese aufheizende Technik wende ich vor allem im Verlauf des Lungen-Meridians am Oberarm an, im Bereich der Lungen-Diagnosezone auf dem oberen Rücken und, wenn dem Menschen sehr kalt ist, auch auf der unteren Nieren-Zone im Lendenbereich.
Man muss sehr kräftig reiben. Während die eine Hand reibt, fixiert die andere die Kleidung durch leichten Zug (so wird vermieden, dass die Kleidung durch die reibenden Hand lediglich hin- und hergeschoben wird und keine Reibungswärme entsteht). Meist berichten die Klienten hiernach, dass sie sich viel wohler fühlen als zuvor. Insofern ihnen vorher kalt war (was bei einer beginnenden Erkältung ja eher die Regel ist), ist ihnen jetzt meist deutlich wärmer und behaglicher – diese Wirkung ist oft sehr ausgeprägt.
Schließlich massiere ich auch noch recht kräftig (und durchaus etwas schmerzhaft) die Punkte Dickdarm 4 und 11. Diese beiden letzten Punkte zeige ich nach der Behandlung dem Klienten mit der Aufgabe, jeden von ihnen zu Hause 4 mal täglich jeweils für 2 Minuten ebenso kräftig zu massieren.
Zusätzlich zu diesen besonderen Techniken schaue ich mir die Lungen-Energie dieses Menschen genau an. Bei einer normalen akuten Erkältung ist z.B. die Hara-Diagnosezone der Lunge meist auffällig, im typischen Fall ist sie etwas angespannt. Wirkt sie eher leer und kraftlos, bestand wahrscheinlich schon vor der Erkältung eine relative Schwäche der Lunge (z.B. eine chronische Neigung zu Erkältungen), die für den Ausbruch der Erkrankung mit verantwortlich sein kann.
Genau so wichtig wie der Zustand der Lungen-Energie selber ist der jener Meridian- bzw. Organ-Energie, die dafür verantwortlich ist, dass die Lunge erkrankte. Das kann z.B. die der Leber, der Gallenblase, des Magens oder von Milz-Pankreas sein. Aber jede andere Organ-Energie kann es auch sein. Die Hara-Diagnose verrät hier mehr.
Die betroffenen Energien behandle ich dann möglichst aufmerksam und klar in ihren wichtigsten Bereichen (bei Lunge z.B. häufig die Verläufe am Arm und am oberen Brustkorb – nach Masunaga, aber auch im Bereich der Diagnosezone am oberen Rücken), mit dem Ziel, stagnierendes Ki in Fluss kommen zu lassen und den Ausgleich zu erleichtern.
Diese Behandlungsweise hat sich in meiner Praxis als sehr erfolgreich erwiesen. Ich schätze, dass es bei etwa 70 bis 80% der Klienten zu einer meist deutlichen positiven Reaktion kommt. Im Idealfall berichten sie, dass sie nach Hause kamen und gesund waren, bzw. dass sie eine Erkältung, die sie schon so lange mit sich herum schleppten, endlich losgeworden sind. Es mag auch sein, dass die Erkältung deutlich leichter und kürzer verlief als sonst oder aber, dass sie im Gegensatz zu sonst auffallend heftig und kurz war. Keine so deutliche Resonanz zeigt sich häufig in Situationen, in denen die Erkältung bereits voll im Gange war bzw. wenn z.B. eine emotionale Situation die Lunge langfristig schwächte. Allerdings ist diese Behandlungsweise auch in solchen Fällen oft überraschend hilfreich.
Perverse Einflüsse
Die Wirkung einer solchen „Erkältungsbehandlung” lässt sich sehr gut an Hand des Modells der krankmachenden Bioklimatischen Faktoren sowie des Schichtenmodells des menschlichen Abwehrsystems erklären. Beide sind Teil der Theorie der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). Dabei genügt bezüglich des Modells der Bioklimatischen Einflüsse (mitunter auch salopp als „Perverse Einflüsse” bezeichnet) die Vorstellung, dass Krankheiten ausgelöst werden können, wenn Krankheitsfaktoren, die klimatische Namen und Eigenschaften tragen, in den Menschen eindringen können.
Den von außen drohenden Bioklimatischen Faktoren steht ein gestaffeltes Abwehrsystem im Menschen gegenüber. Je tiefer ein klimatischer Einfluss eindringen kann, d.h. je mehr Abwehrlinien sich ihm nicht aktiv genug entgegensetzen können, um ihn aufzuhalten, um so schwerer wird eine solche Erkrankung.
Die äußerste Abwehrlinie wird von der Lunge regiert, die dortige Energie ist sehr aktiv (yang) und wird durch ein aktives Leben gefördert. Sie wird im Chinesischen als Wei Qi bezeichnet. Auf den Körper bezogen befindet sich diese Abwehrlinie in der Haut, dem Unterhautbindegewebe und den darunter liegenden Muskeln. Eine normale Erkältung z.B. mit Gliederschmerzen, Halsschmerzen und Frösteln ist Ausdruck der Auseinandersetzung mit den eingedrungenen Faktoren auf der Ebene des Wei Qi.
Alpha-Zustand täuscht das Abwehrsystem
Tritt in einer Shiatsu-Behandlung ein Mensch in den „Alpha-Zustand” zwischen Wach-Sein und Schlafen, so wird der äußere Bereich seines Abwehrsystems quasi „eingelullt”. Die im Alltag mehr oder weniger verschlossenen Tore öffnen sich weit, worauf ja auch ein wesentlicher Teil der positiven allgemeinen Wirkungen des Shiatsu beruht. Die oberflächlichen Schichten des Abwehrsystems sind sehr yang, sie werden durch ausgesprochenes Aktiv-Sein stimuliert, durch Entspannung und Ruhe, wie es im Shiatsu möglich wird, eher inaktiviert.
In einem solchen tief entspannten Zustand können die Bioklimatischen Faktoren tief eindringen (vorausgesetzt es liegt im betroffenen Menschen eine momentane innere Disposition dazu vor, was bei einer Erkältung ja der Fall ist). Im ungünstigsten Fall könnte so – selten – auch einmal eine schwere Erkrankung ausgelöst werden. Es liegt also auf der Hand, dass bei einer beginnenden Erkältung das Shiatsu eine tiefe Entspannung und Öffnung vermeiden sollte.
Die Hitze, die durch das kräftige Reiben auf der Kleidung des Klienten erzeugt wird, stimuliert zum einen am Oberarm direkt das Ki der Lungen. Am oberen Rücken liegt oberhalb des Yu-Punktes für Lunge (Blase 13) auf Blase 12 ein wichtiger Punkt, der nach traditioneller Vorstellung eine Eintrittspforte für Winderkrankungen nicht nur der Lunge darstellt. Dieser Punkt ebenso wie der Yu-Punkt Lunge und die gesamte Diagnosezone Lunge in diesem Bereich werden durch das Reiben aktiviert, gestärkt und in gewisser Weise versiegelt.
Des weiteren stärkt die Hitze die oberflächlichen Abwehrschichten des Menschen und sein Wei Qi (Hitze ist yang). Drittens wirkt es der eventuell eingedrungenen Kälte entgegen, die behandelte Person fühlt sich nachher auch tief im Inneren wärmer und wohler.
Die Punkte Dickdarm 4 und 11 schließlich gehören in der Akupunktur und Akupressur zu den wichtigsten Punkten zur allgemeinen Stimulierung der Abwehrkräfte, vor allem für den Oberkörper. Leider ist insbesondere Dickdarm 11 im Falle einer Erkältung besonders schmerzempfindlich, so dass das ganze Einfühlungsvermögen der BehandlerIn gefordert wird, um trotzdem wirksam zu behandeln. Voraussetzung ist, dass die BehandlerIn mit der genauen Lage der Punkte vertraut ist. Deren eigentliches Zentrum in der Tiefe kann man mit etwas Erfahrung gut erahnen. Erst wenn sich die Aufmerksamkeit der BehandlerIn in diesem Zentrum konzentriert, wird die Behandlung wirksam.
Die Punkte lassen sich übrigens auch durch eine ganz leichte rotierende Berührung aktivieren. Das allerdings würde die Entspannung des Klienten zu sehr fördern. Zudem soll er diese Technik ja anschließend zu Hause bei sich selber ausführen. Allzu subtile Techniken sind von einem im Berühren unerfahrenen Menschen wahrscheinlich nicht so leicht nachzumachen wie handfestes Massieren.
Wer sich mit der Akupunktur auskennt, kann im Anschluss an eine solche Erkältungsbehandlung auch noch Nadeln in Dickdarm 4 und 11 setzen. Wie in vielen anderen Situationen können Nadeln auch hier die Wirkung einer Shiatsu-Behandlung unterstützen. Shiatsu ist aber auch ohne Nadeln wirksam.
Erfahrungsgemäß braucht es etwas Zeit, um mit dieser Art der Behandlung vertraut zu werden. Insbesondere das intensive Reiben und die Stimulierung der Punkte ist für viele ungewohnt. Wenn man aber erst einmal mit diesem Verständnis und den Techniken vertraut ist, verfügt man über eine Möglichkeit, wirksam und ohne zu schaden mit Menschen zu arbeiten, die eine Erkältung bekommen oder bereits haben.
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© Wilfried Rappenecker, geb. 1950 in der Nähe von Köln, ist Leiter der Schule für Shiatsu Hamburg (D-22769 Hamburg, Oelkersallee 33, http://www.schule-fuer-shiatsu.de), Mitbegründer der GSD und Autor zweier Bücher zum Thema Shiatsu. Als Arzt für Allgemeinmedizin arbeitet er dort überwiegend mit Shiatsu.