Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie (4). Unterstützung von psychisch-emotionaler Entwicklung mit Shiatsu (Dr. Eduard Tripp)
Shiatsu entwickelte sich im Japan des 20. Jahrhunderts und ist in seiner heutigen Form durch vielfältige Einflüsse geprägt. Sein Ursprung liegt vor allem in Anma (japanische Massage), deren Basis die traditionelle chinesische und japanische Medizin und Philosophie bilden. Anma war lange Zeit Teil der traditionellen ärztlichen Ausbildung, doch zunehmend verlor sich ihre therapeutische Bedeutung, so dass sie schließlich vor allem wegen der von ihr hervorgerufenen angenehmen und lustvollen Gefühle angewendet wurde. Viele Anma-Therapeuten, die mit ihren Behandlungen weiterhin therapeutische Ziele verfolgten, waren mit dieser Entwicklung unzufrieden. Dies führte schließlich dazu, dass sie sich mit der Bezeichnung Shiatsu von Anma abgrenzten und Shiatsu als eigenständige manuelle Behandlungsmethode weiter entwickelten.
Für das Verständnis von Shiatsu und seiner Entwicklung ist der gesellschaftliche, kulturelle und spirituelle Hintergrund Japans wichtig, der stark von Shintoismus, Konfuzianismus und Buddhismus geprägt ist. Von Bedeutung sind auch die meditativen und spirituellen Aspekte der Kampfkünste, durch die – analog zur meditativen Übungspraxis in den Klöstern – geistige Vollkommenheit erlangt werden soll. Alle diese „Wege“ (do) betonen das Hara als das innerste Zentrum, das „absichtsloses Handeln“ aus innerer Leerheit heraus ermöglicht.
Shiatsu ist in seinem Ursprung geprägt von den soziokulturellen Bedingungen Japans. Und kulturelle Einflüsse prägen, wie neuere Forschungen zeigen, selbst grundlegende Denk- und Wahrnehmungsprozesse. So ist es daher nicht verwunderlich, dass sich Shiatsu in Europa in bestimmten Bereichen anders entwickelt hat und weiter entwickelt als in Japan selbst. Grund dafür sind die unterschiedlichen kulturellen und sozial geprägten Bedürfnisse.
Im Westen wird Shiatsu als eine Methode verstanden, die die Einheit von Körper, Seele und Geist und ein authentischeres, ganzheitlicheres Leben fördert. Dieses Verständnis entspringt, wie Glyn Adams in einer Arbeit darlegt, allerdings nicht so sehr dem ursprünglichen Shiatsu Japans als vielmehr der New Age-Bewegung. Vieles von dem, was uns Shiatsu bedeutet, ist nicht so sehr „authentisches, fernöstliches Shiatsu“ als vielmehr eine neuere und außerhalb Japans wurzelnde Entwicklung.
Als Beispiel dazu mag die in Österreich in die Definition von Shiatsu integrierte begleitende Gesprächsführung dienen, denn während das „klassische“ Shiatsu in seiner Konzeption kein begleitendes Gespräch beinhaltet (von allgemeinen Gesundheits- oder Ernährungsratschlägen abgesehen), ist es in Österreich – und dies gilt sicherlich auch über Österreich hinaus – ein deutliches Bedürfnis der KlientInnen, ihre Erfahrungen auch sprachlich auszudrücken und das Gespräch zu suchen. Von Bedeutung ist hier der Kontext, in dem das Gespräch steht: Der sprachliche Ausdruck vermag einem Problem, einem bisher unbewältigten, „unfassbaren“ Erlebnis eine Fassung zu geben – gleichsam einer Form, die uns hilft Erlebtes und Erfahrenes zu integrieren. Unterschiedlich jedoch sind die gesellschaftlich und kulturell vorgegebenen Wege, wie eine solche Integration stattfinden kann. Das Gespräch ist eine solche, wenn auch nicht die einzige, für uns im Westen wesentliche Möglichkeit.
Das Selbstverständnis der japanischen Kultur unterscheidet sich deutlich vom Selbstverständnis der westlichen Kultur. Während das autonome und unabhängige Selbst zu einem wichtigen Ziel des Westens geworden ist, wird das japanische Selbstverständnis wesentlich stärker von der Teilhabe an der Gemeinschaft geprägt. „Jibun“, der japanische Ausdruck für das Selbst (zusammengesetzt aus den Schriftzeichen „Selbst“ und „Teil“) bedeutet sinngemäß „mein Teil im geltenden Lebensraum“. Zugehörigkeit ist wesentlich, ausgegrenzt sein wird gefürchtet. Ganz im Gegenteil dazu geht das westliche Streben dahin, die Individualität zu betonen, sich von anderen abzuheben. Niemand will durchschnittlich sein – mit der Gefahr, den Kontext mit der eigenen Ganzheit und mit der Welt, die uns umgibt, zu verlieren. Unter anderem aus diesem kulturellen und individuellen Bedürfnis lässt sich der unterschiedliche Umgang mit dem Gespräch erklären, ja mitunter die Notwendigkeit des verbalen Austausches zur (Re-)Integration.
Auch möchte ich nochmals explizit festhalten, dass Shiatsu keine psychotherapeutische Arbeit ist und dass die Ausbildung zu Shiatsu weder zur psychotherapeutischen Arbeit befähigt noch berechtigt. Sehr befruchtend hingegen ist – abgesehen von den Fällen, in denen die Shiatsu-PraktikerIn zugleich auch PsychotherapeutIn ist und Shiatsu als körperorientierten Aspekt innerhalb einer Psychotherapie einzusetzen vermag – die Unterstützung von Psychotherapie durch Shiatsu-Behandlungen.
Stärken und Auffüllen grundlegender Qualitäten durch die Vermittlung von Wärme, Rhythmus und Konstanz
Durch die offene und vertrauensvolle Begegnung unterstützt Shiatsu unsere innere Strukturierung und Differenzierung. Shiatsu vermittelt Wärme, Rhythmus und Konstanz als grundlegende (basal-narzisstische) Erfahrungen und so lässt sich (als einer der möglichen Erklärungsansätze) aus psychotherapeutischer Sicht das große Wirkungsspektrum von Shiatsu verstehen, das weit über den Ausgleich von spezifischen Disharmoniemustern hinausgeht und erfolgreich auch die psychische (Neu-)Strukturierung unterstützt. Letztlich, vereinfacht ausgedrückt, lässt gerade die respektvolle und einfühlsame körperliche Berührung das Gefühl, ja die Gewissheit entstehen, wahrgenommen und angenommen zu werden als „ganzer Mensch“.
Wärme als Qualität in einer Shiatsu-Behandlung vermittelt sich einerseits ganz direkt durch den unmittelbaren Körperkontakt, aber auch im emotional zugewandten Klima, in dem die Sitzung, die Begegnung stattfindet – und insbesondere im Eingehen auf unsere KlientIn, und im Eintauchen in eine letztlich gemeinsame coenästhetische Beziehungs- und Wahrnehmungswelt (vgl. Teil 1 der Artikelserie).
Rhythmus ist ein weiteres wichtiges Element einer Shiatsu-Behandlung: der Rhythmus von Druck und Entspannung oder die Arbeit mit den körpereigenen Rhythmen, dem Atemrhythmus zum Beispiel, den man stärken und festigen oder aber erweitern, flexibler und durchgängiger machen kann.
Immer auch sprechen wir in einer Shiatsu-Sitzung durch die direkte Berührung unsere PartnerInnen im Erleben ihres Körper und dessen Grenzen an und stärken so die Verbindung mit dem Körper und die Erfahrung Körper zu sein (und nicht nur einen Körper zu haben und – wie ein Werkzeug – zu benützen).
Konstanz schließlich vermittelt sich vor allem durch den in seinen Grundzügen immer ähnlichen Sitzungsablauf, durch das vertraute Setting, durch die vertraute Technik und durch die im wesentlichen gleich bleibende, offene, ehrliche und zugleich professionelle Zuwendung des Praktikers zur/zum Shiatsu-Empfangenden. Erlebte Beständigkeit befähigt uns, mit ambivalenten, einander zumindest scheinbar entgegengesetzten Gefühlen und Impulsen umzugehen und diese zu integrieren. Und gerade ein solch reifer Umgang mit einander widerstreitenden Inhalten bildet die Grundlage für Ausgeglichenheit, Gesundheit und steht als Basis für stabile, verbindliche, reife und „ganze” Beziehungen.
Stärkung der gelebten Erfahrung und ihre Integration in die sprachliche Repräsentation
Durch den spezifischen Arbeitsstil von Shiatsu wird das Erleben tiefer, innerer Qualitäten gefördert, und dadurch werden im Körper gespeicherte (bewusste wie auch unbewusste) Erfahrungen mobilisiert und als Erinnerungen, Gefühle, Intentionen u.ä.m. aktiviert. Gerade diese Mobilisierung (Aktualisierung) ermöglicht ihre Integration in die (sprachliche repräsentierte) Erfahrung und führt damit zu größerer Stabilität und Differenziertheit. Rogers, der Begründer der Gesprächstherapie, spricht in diesem Kontext von der Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (hier ist keineswegs das abstrakte intellektuelle Gespräch oder die oberflächliche Kategorisierung gemeint!), die sich als Bearbeitung und Integration von gelebter Erfahrung auf höherer Ebene verstehen lässt.
Förderung der körperlichen Selbstwahrnehmung und Entwicklung/Stärkung des Körperschemas
Das Wahrnehmen und Erleben von Körpergrenzen im eigenen Erleben – die Psychoanalyse spricht von Körperschema oder auch Körperbild – wird durch Shiatsu gefördert. Die achtsame Berührung im Shiatsu eröffnet die Möglichkeit, eine positive und differenzierte Beziehung zum eigenen Körper zu erfahren, das Erleben des eigenen Körpers zu intensivieren und positiv zu verändern.
Aber nicht nur das Erleben als eigenständiges und abgegrenztes Wesen wird durch Shiatsu gefördert, sondern auch das „innere Wesen“, das diesen Körper ausfüllt und erfüllt, wird angesprochen, berührt und tritt in Dialog mit der/dem Shiatsu-Gebenden. Durch Shiatsu wird der Kontakt, die Auseinandersetzung und Integration von „Innen“ und „Außen“ angesprochen und in einer Weise angeregt, dass sich zwischen dem Innen und dem Außen eine größere Übereinstimmung wie auch eine größere Flexibilität entwickeln kann. So dass wir – im Sinne des Orakels von Delphi – in und mit Shiatsu mehr und mehr die werden, die wir sind.
Literatur
- ADAMS, G: Shiatsu in Britain and Japan: personhood, holism and embodied aesthetics. In: Anthropology & Medicine, Vol. 9, No. 3, 2002.
- BARTL, G. – Der Umgang mit der Grundstörung im Katathymen Bilderleben. In: J.W. ROTH (Hg) – Konkrete Phantasie. Verlag Hans Huber, Bern 1984, S. 117 – 129.
- BARTL, G. – Strukturbildung im therapeutischen Prozeß. G. BARTL & F. PESENDORFER (Hg) – Strukturbildung im therapeutischen Prozeß. Literas Universitätsverlag, Wien 1989.
- MASUDA, T. & NISBETT, R.E.: Attending Holistically Versus Analytically. In: Journal of Personality and Social Psychol. 81, 2001, S. 922.
- NISBETT, R.E.: The Geography of Thought. Nicholas Brealy Pbul. Ltd. London, 2003.
- NISBETT, R.E., PENG. K, CHOI, I. & NORENZAYAN A.: Culture and Systems of Thought. In: Psychological Review 108, 2001, S. 291.
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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).