Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie (3). Werkzeuge aus der Praxis der Psychotherapie, die die Arbeit in und mit Shiatsu unterstützen (Eduard Tripp)


Emotionale Begleitung und Begleitende Gesprächsführung

Körperkontakt, vor allem, wenn ihn regressive (nach innen, in „frühes Erleben“ führende) Elemente kennzeichnen, wie das im Shiatsu der Fall ist, kann Gefühle, Erlebnisse und Erfahrungen „auslösen”. Die Ursache dafür liegt im „Körpergedächtnis”, das im Unterschied zu dem uns vertrauteren „semantischen (sprachlichen) Gedächtnis” schon von Beginn unseres Lebens an wirksam ist und alle unsere Erfahrungen in uns, in unserem Körper speichert.

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Werden Erfahrungen bei unseren KlientInnen wachgerufen, die mit heftigen Gefühlen einhergehen, sollte die Shiatsu-PraktikerIn über das notwendige Maß an Wissen, Erfahrung und Reife verfügen, um mit diesen Gefühlen, Wünschen und Bedürfnissen adäquat (ohne psychotherapeutischen Anspruch, denn dafür gibt es Spezialisten!) umgehen zu können. Der PraktikerIn sollte es möglich sein, auch heftige und stark berührende Emotionen – ebenso wie Sehnsüchte und Bedürfnisse – im Sinne der emotionalen Begleitung anzunehmen und zu begleiten. Sie nicht abwürgen müssen oder bagatellisieren, auch keine Ratschläge geben oder aber persönliche Grenzen der KlientIn überschreiten. In diesem Zusammenhang ist die Kenntnis und Erfahrung der begleitenden Gesprächsführung von Bedeutung.

Ziel des begleitenden Gesprächs ist es nicht, für die KlientIn eine Lösung zu finden. Insbesondere sollte die Shiatsu-PraktikerIn nicht versuchen, die KlientIn mehr oder weniger direktiv in eine Richtung zu drängen. Im begleitenden, partnerschaftlichen Gespräch sollte vielmehr der Raum dafür gegeben werden, ein Problem auszudrücken und ihm einen konkreten Rahmen zu geben. Probleme können über die Sprache präzisiert, fassbar und damit auch behandelbar, bearbeitbar gemacht werden. Mit dem partnerschaftlichen Gespräch können der verbale Austausch und das einfühlsame Verstehen zu tragenden Elementen der Begegnung im Shiatsu werden.


Erklärende Sprache und erforschende Sprache

Sprachlich kann man zwischen einer erklärenden Sprache und einer erforschenden Sprache unterscheiden (D. Boadella, 1992). Die erklärende Sprache ist die Sprache der Analyse, Diagnose, Objektivität und Klassifikation. Sie neigt dazu, die Worte vom Körper zu trennen und verflacht die Kommunikation. Geht es uns um emotionale Begleitung und begleitende Gesprächsführung, so ist die erklärende Sprache zu vermeiden, denn sie führt vom Erleben, vom Erlebensinhalt weg. Ihr Einsatz kann in bestimmten Situationen wichtig sein, doch sollte man dabei besonders achtsam sein, dass man der KlientIn damit nicht ihre Gefühle und ihr Erleben „nimmt“.

Die erforschende Sprache hingegen ist „verkörperte“ Sprache, ist leidenschaftlich und verbindet die SprecherIn mit der Erfahrung und ihre Erfahrungen untereinander. Sie hat vielfach mehr Fragen als Antworten, „wächst“ während man spricht und ist partnerschaftlich.


Die Sprache als Instrument der Integration

Der Erwerb der Sprache ermöglicht dem Kind, seine vielfältigen Erfahrungen zu integrieren und mitzuteilen. Zugleich aber besteht damit die Gefahr, dass die Kraft und die Ganzheit des unmittelbaren Erlebens verloren gehen, denn Worte vereinfachen und brechen das ganzheitliche Erleben, das alle Wahrnehmungsqualitäten umfasst, auf. Sprache greift sich immer lediglich ein Stück heraus aus dem Konglomerat von Gefühl, Empfindung, Wahrnehmung und Denken. Dieses Stück wird durch den Prozess der Sprachbildung transformiert und entwickelt sich zu einer vom ursprünglichen, ganzheitlichen Erleben isolierten Erfahrung. Und damit wird es möglich, dass sich die sprachlich ausgedrückte und die erlebte Version nicht entsprechen, ja manchmal sogar widersprechen.

Wir verfügen mit der Sprache (und dem sprachlichen, symbolischen Denken) also über ein Instrument, mit dessen Hilfe wir die Realität sowohl verzerren als auch transzendieren können. Symbolische (sprachliche) Verdichtungen ermöglichen die Realitätsverzerrung und bereiten „neurotischen Konstruktionen“ den Boden. Isolierte Episoden, z.B. schlechte Erfahrungen mit der Mutter, können so zu einer symbolischen Repräsentation, wie z.B. die „böse Mutter” oder das „unfähige Ich”, in einer Art zusammengezogen werden, wie sie in Wirklichkeit niemals erlebt wurden.

Andererseits aber können durch den sprachlichen Ausdruck Erfahrungen, Konflikte und einander widersprechende Inhalte auf eine höhere Ebene gebracht, fassbar, greifbar und kommunizierbar gemacht werden – und damit auch behandelbar. Sprache hat das Potential, uns unsere erlebte Realität fassen und verarbeiten zu lassen, und auch – in ihrem kommunikativen Aspekt, der die Distanz zwischen dem Ich und dem Du überbrückt – Integration in eine größere Gemeinschaft zu finden.


Integration von Sprache und Erleben

Wenn wir uns und unsere KlientInnen von der erklärenden und damit erlebnisfernen Sprache hin zu einer erforschenden Sprache über ihre Erfahrungen und Lebensumstände führen können, ist dies – über die unmittelbare Verbindung der erforschenden Sprache mit Gefühlen – eine Bewegung hin zur Integration von Ausdruck und Erleben. Wir unterstützen unsere KlientInnen auf diesem Weg, zu fühlen, was sie sagen, und zu sagen, was sie fühlen.


Krise und Krisenintervention

Eine Krise lässt sich verstehen als die Zuspitzung eines Problems, den Zusammenbruch der bisherigen Abwehrstrategien und die Zunahme der Angstspannung, die nur noch eine radikale Lösung möglich erscheinen lässt – mit der Gefahr gewalttätiger Selbst- und/oder Fremdgefährdung.

Töten (sich selbst und/oder andere) ist die radikalste und endgültigste Art eines Menschen, seine Ausweglosigkeit auszudrücken, sein Lebensproblem zu lösen. Die Basis dafür bildet ein langfristig ungelöstes Lebensproblem. Durch – vor allem – Angstabwehr sind die vorhandenen Möglichkeiten eingeschränkt und nicht selten dienen Alkohol, Medikamente und (Krankheits-)Symptome der Kontrolle der Angstsignale. Die Spannung nimmt zu und ein Loslassen, einen Wechsel des Weges (der Angstabwehr, der Problemlösungsmethode) gibt es nicht mehr. Die einzige Möglichkeit scheint es zu sein, den eigenen Weg noch konsequenter weiterzugehen. Die Krise spitzt sich letztlich so weit zu, dass der Weg zu Ende ist, dass sich die gesamte psychische Aktivität eines oder zweier Menschen auf einen Punkt zusammenzieht, konzentriert und reduziert. Ein Zurückgehen ist nun ebenso ausgeschlossen wie ein Auf-der-Stelle-Treten. Möglich und zugleich zwingend ist nur der „gewaltsame Sprung“, der ins Offene geht (K. Dörner & U. Plog, 1992).

Das „präsuizidale Syndrom”, so E. Ringel (1969), besteht in:

  1. der Einengung der Wahrnehmung, dem Rückzug auf sich selbst, dem Gefühl der Vereinsamung, der Sinn- und Ausweglosigkeit;
  2. ohnmächtiger Aggressionen und Vorwürfen gegen Andere, schmerzlicher Resignation, der Ankündigung der Selbstmordabsicht; und
  3. der Flucht in die Phantasie, die zunehmend von der Selbsttötungsabsicht und den den Anderen entstehenden Leiden besetzt wird.

Gemäß der Narzissmustheorie der Krise sind suizidale Menschen besonders leicht kränkbar. Verluste und Angriffe werden schnell als Katastrophen erlebt und können nur schwer ausgeglichen oder genutzt werden. Vielmehr zeigen sich Vermeidung, Schwanken zwischen Minderwertigkeits- und Größenphantasien oder Rückzug in Verschmelzungsphantasien (wie z.B. die Geborgenheit des Mutterschoßes, das Einswerden mit dem All, an nichts mehr denken müssen, endlich Ruhe haben, ewiges Leben etc.).

Verstehen hebt den Beziehungsabbruch und damit die Ausweglosigkeit auf. Daher ist es auch der Weg, einen Menschen „vor dem Sprung” so lange im „Gespräch“ (verbaler oder nonverbaler Kommunikation, Auseinandersetzung) zu halten, bis die Ausweglosigkeit geteilt ist und aus dem Sprung ins Töten, ins Nichts ein gemeinsamer Sprung ans andere Ufer, auf eine andere Ebene werden kann. Diese Begegnung ist hart und brutal, denn ein auswegloser Mensch kann ausschließlich bei seiner Ausweglosigkeit – und sonst nirgends – erreicht werden. Trost für einen Trostlosen wäre nur Spott (K. Dörner & U. Plog, 1992).

Um zu einer Begegnung zu kommen, ist es wichtig:

  1. Tötungssignale, die wahrgenommen werden, offen zum Gegenstand der Kommunikation zu machen. Je offener und deutlicher, desto besser;
  2. die Verzweiflung nicht mindern, damit man gemeinsam an ihren Grund gelangen kann;
  3. „schonungslos” alle ausgelösten Ängste und Gefühle mitteilen, womit die Isolation und Einengung des Anderen aufgehoben wird; und
  4. der KlientIn zeigen, dass man ihr Recht auf Tod als eine für sie in diesem Moment sinnvoll erscheinende Lösung achtet (K. Dörner & U. Plog, 1992).

Krisenintervention ist sicherlich nicht – geplanter – Inhalt von Shiatsu-Sitzungen, doch kann es sehr wohl sein, dass wir eine KlientIn begleiten, die in eine Krise gerät – sei es plötzlich oder kontinuierlich. Auch wenn wir als Shiatsu-Ausübende weder dazu ausgebildet sind, noch eine solche Rolle für unsere KlientInnen anstreben, so können wir uns doch in einer solchen Situation wieder finden. Und dann kann es wichtig und gut sein, dass wir über die Grundzüge von Krisen und Krisenintervention und – vor allem! – um unsere Grenzen Bescheid wissen und unseren KlientInnen die Notwendigkeit einer professionellen (Mit-)Betreuung deutlich machen. Nicht zuletzt auch, um unsere eigene Belastung – und solche Begegnungen sind höchst belastend – in Grenzen zu halten.


Unterstützung von Strukturbildung und Auflösen von Verpanzerungen

Form (Struktur) ist die Basis für die Integration und Verarbeitung der immer auch emotional erlebten Inhalte. Mangelnde Struktur führt dazu, dass wir Zuwendung zwar erfahren, aber nicht für uns (bleibend) nutzen können. Strukturen geben Halt, bieten Sicherheit. Werden Strukturen jedoch zu starr und dominierend, nehmen sie überhand und das Leben erstickt im Formalen (Panzerung). Bei einem Mangel an Struktur hingegen versinkt das Leben im Chaos.

In der konkreten Behandlungssituation kann es darum wichtig sein, zu unterscheiden, was das Ziel ist: Sollen Strukturen gefördert, gestärkt und aufgebaut werden, oder soll das Ziel in mehr Flexibilität und Spontanität liegen?

Strukturbildende und strukturauflösende Maßnahmen unterscheiden sich grundlegend: Strukturbildend sind (konstanter) Rhythmus, klare und festgelegte Abläufe, „Rituale“, aber auch die sprachliche Integration, das Besprechen von Erlebtem mit dem Ziel es einzuordnen, eine Struktur zu entwickeln, die das Erlebte und Erfahrene zu integrieren vermag. Und auch die Kommunikation mit Anderen (im Sinne eines partnerschaftlichen Gesprächs) über ein problematisches Erleben stellt schon einen integrativen Aspekt dar – die Einbettung spezifischer Erlebnisse in vorhandene Erfahrungen wie auch durch den Austausch mit Anderen in eine größere soziale Gemeinschaft.

Halt und Rhythmus sind ganz besonders wichtig für Menschen in Krisensituationen, die durch einen Schicksalsschlag ihre bisherigen Lebens- und Beziehungsstrukturen (-ordnungen) verloren haben. Gerade hier sind Rhythmus und Verlässlichkeit – auch die Strukturierung der Termine (beispielsweise „engmaschiger“, längerfristig geplant, regelmäßig und vor allem verlässlich) – von großer Bedeutung.

Von der Zielsetzung her etwas anders gelagert ist das Problem bei Menschen mit einem Übermaß an Struktur, denen es an emotionaler Wärme mangelt. Aber auch hier ist, insbesondere wenn die „zwanghaften Züge“ stark ausgeprägt sind, der Rhythmus, die verlässliche Wiederkehr, die Vertrauen mit sich bringt und die Sicherheit, wahr- und angenommen zu werden, unabdingbare Voraussetzung für eine offenere, flexiblere Begegnung, die das Ausprobieren und Experimentieren mit neuen, weniger einengenden Strukturen erlaubt und fördert.


Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung

Wichtig ist in all den angeführten Aspekten, in denen mit Shiatsu die psychisch-emotionale Entwicklung gefördert und angeregt wird, der achtsame und zugleich authentische („kongruente“) Umgang der Shiatsu-PraktikerIn mit sich selbst und der KlientIn. Ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung ist Grundvoraussetzung, um die eigenen Grenzen zu kennen und die Grenzen der KlientIn wahrnehmen und beachten zu können. Ebenso wichtig ist die Wahrnehmung von Übertragungen und Gegenübertragungen, um dadurch die Gefahr des Agierens (das unbewusste Ausleben von Wünschen und Phantasien, die ihren Ursprung nicht in der gegenwärtigen Situation haben) so gering wie möglich zu halten.

In der Arbeit mit Menschen bedeuten Selbsterfahrung und Selbstreflexion die Basis professionellen Handelns. Ohne reflektierte Erfahrungen ist es nur schwer möglich, zwischen den verschiedenen Impulsen und Motiven zu unterscheiden und damit frei zu handeln. Einzig die persönliche Erfahrung, das Gewahr-Werden, Bewusst-Werden der eigenen Konfliktpotentiale, Ängste und Defizite in uns (wie auch die Umsetzung und Lösung derselben in unserem persönlichen Zugang zur Welt und in unseren eigenen Beziehungen) schützen KlientIn und BehandlerIn vor den oft verletzenden und schmerzlichen Verstrickungen in Übertragung und Gegenübertragung wie auch vor Überforderung von uns selbst und/oder unseren KlientInnen.


Literatur

  • BARTL, G. – Der Umgang mit der Grundstörung im Katathymen Bilderleben. In: J.W. ROTH (Hg) – Konkrete Phantasie. Verlag Hans Huber, Bern 1984, S. 117 – 129.
  • BARTL, G. – Strukturbildung im therapeutischen Prozeß. G. BARTL & F. PESENDORFER (Hg) – Strukturbildung im therapeutischen Prozeß. Literas Universitätsverlag, Wien 1989.
  • BOADELLA, D. – Die Worte, der Körper und die Übertragung. In: Maul, B. (Hg) –Körperpsychotherapie. Verlag Bernhard Maul, Berlin 1992.
  • DÖRNER, K. & PLOG, U. – Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie. Psychiatrie Verlag, Bonn 1992 (7. Auflage).
  • RINGEL, E. – Selbstmordverhütung. Fischer, Frankfurt/M. 1969.
  • STERN, D.N. – Die Lebenserfahrung des Säuglings. Verlag Clett-Cotta, Stuttgart 1992 (2. Auflage).

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).