Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie (2). Für die Anwendung von Shiatsu relevante therapeutische Konzepte (Dr. Eduard Tripp)

Shiatsu ist eine ganzheitliche Methode, die Seele, Geist und Körper umfasst, und hat Berührungspunkte und Überschneidungen sowohl mit Massage und Körperarbeit wie auch mit psychotherapeutischen Ansätzen. In der Praxis des Shiatsu hat es sich deshalb bewährt, psychotherapeutische Blickwinkel und Konzepte einzubinden, die die Arbeit unterstützen und bereichern. Aus der Vielzahl der Konzepte, die in eine Shiatsu-Behandlung einfließen können, habe ich exemplarisch vier Themenbereiche herausgegriffen – im Bewusstsein, dass darüber andere wichtige Ansätze vernachlässigt werden.


Körpergedächtnis

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Als Wesen, die wir immer (auch) unser Körper sind, speichern wir unsere Erfahrungen als energetische Muster in unserem Körper und in unseren körperlichen Strukturen. Dieser Vorgang ist dafür verantwortlich, dass wir im Alltag wie auch in der Diagnostik auf Grund der Beobachtung äußerer Hinweise auf innere (körperliche wie auch seelische) Gegebenheiten schließen können. Unsere positiven Erfahrungen werden auf der Ebene des Körpergedächtnisses ebenso abgespeichert und erinnert wie unsere negativen Erfahrungen und die damit verbundenen Schmerzen, Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte. Immer sind alle – positive, negative und „neutrale“ – Erfahrungen auf diese Art und Weise auch körperlich manifest und können sowohl den ganzen Körper betreffen (z.B. als generelle Spannung) oder auch bestimmte Körperregionen (wie z.B. Belastungen, die im wahrsten Sinne des Wortes auf unseren Schultern lasten).

Dieser Prozess entfaltet sich aber auch in der Gegenrichtung: So wie Erfahrungen sich im Körper speichern, so können sie auch über den Körper „angesprochen“, ins – bewusste oder unbewusste – Erleben gebracht werden. Wenn unser Klient, unsere Klientin auf der Shiatsu-Matte liegt, dann liegt hier ein Mensch mit seiner gesamten Lebensgeschichte vor uns, den und dessen Erfahrungen wir mit unserem Shiatsu im wahrsten Sinne des Wortes berühren.

Sucht man einem Erklärungsansatz dafür in der modernen Forschung, so finden sich die Grundlagen dafür im so genannten Episoden-Gedächtnis, das sich schon sehr früh in unserer Entwicklung herausbildet.

Aus mehreren ähnlichen, sich nur geringfügig unterscheidenden Erfahrungen („Episoden“), die alle Sinnes- und Erlebniskanäle umfassen bildet sich eine generalisierte Erfahrung heraus – gleichsam einem „durchschnittlichen“ Erlebnis. Generalisierte Episoden kann man als Abstraktionen einer Vielzahl von Erlebnissen verstehen, die unterschiedliche Handlungs-, Wahrnehmungs- und Affekt-Attribute zu einem Ganzen zusammenfassen. Sie sind zum Prototyp erhobene durchschnittliche Erfahrungen. Und erst auf diesem Hintergrund wird ein spezifisches, sich unverkennbar unterscheidendes Erlebnis zu einer erinnerten spezifischen Episode. Diese ist als ein Stück gelebter Erfahrung von Bedeutung und erinnerbar, weil sie gegen die Erwartungen der generalisierten Episode verstößt.

Das semantische (sprachliche) Gedächtnis, für das generalisierte und spezifische Episoden potentielle Bestandteile darstellen, entwickelt sich erst wesentlich später mit der Entwicklung der Sprache (etwa um das 18. Lebensmonat). Es ist das Wesen der Sprache, ganzheitliche Erlebnisse, die alle Sinnes- und Erlebniskanäle umfassen (Gefühle, Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken), auf bestimmte, wenige Aspekte zu reduzieren und damit kommunizierbar und einordenbar zu machen. Damit erlaubt die semantische Strukturierung unserer Erfahrungen und Erlebnisse, bewusst auf unsere Erfahrungen zugreifen zu können (und diese auch zu kommunizieren).

In diesem Sinne entspricht das semantische Gedächtnis der Struktur einer Bibliothek, in der Bücher und andere Veröffentlichungen nach verschiedenen Stichwörtern geordnet, gesucht und gefunden werden können. Die diversen Veröffentlichungen, die der Bibliothek zugeliefert werden, sind in dieser Metapher die Erlebnisse (Episoden). In welchem Kontext („Stichworte für den Bibliothekskatalog“) die jeweiligen Episoden („Veröffentlichungen“) im semantischen Gedächtnis verarbeitet werden, ist durch den „Bibliothekar“ bestimmt. Es kann also sein, dass komplexe Erlebnisse unter bestimmten lebensgeschichtlichen und emotionalen Einflüssen anders abgespeichert (und später erinnert) werden als dies sonst (unter anderen lebensgeschichtlichen und emotionalen Bedingungen) der Fall wäre. In diesem Fall weicht unsere bewusste Erinnerung von der erlebten Erfahrung ab (lässt Aspekte weg, verzerrt sie …), die – unabhängig davon, auf welche Weise sie in unserem semantischen Gedächtnis verarbeitet wurde – weiterhin in uns gespeichert (und damit präsent als auch abrufbar) bleibt. Keine Erfahrung, die wir machen, geht jemals verloren, einzig unser (mehr oder weniger) bewusster Zugang zu ihnen über das semantische Gedächtnis (als „Schnittstelle“ zu ihnen) kann verloren gehen.


Übertragung und Gegenübertragung


Übertragung

Grundlegend für die psychodynamische Betrachtung von Begegnungen ist, dass unsere Entwicklung das Ergebnis unserer Anpassung an unsere Erfahrungen und damit an unsere Beziehungen zur Welt und zu den Menschen ist. Auf diesem Weg werden zugleich aber auch Beziehungsmuster verinnerlicht, die Schwierigkeiten mit sich bringen und diverse Störungen zur Folge haben können.

Ihrem Wesen nach handelt es sich bei der Übertragung um die vor allem unbewusste Tendenz zur Wiederherstellung früherer Beziehungsmuster – aus dem Bedürfnis heraus, unerfüllt gebliebene Wünsche und Sehnsüchte zu befriedigen, unerledigte Konflikte zu lösen oder aufsteigenden Ängsten vorzubeugen. Erlebnis- und Verhaltensmuster aus früheren Erfahrungen werden wieder belebt, wobei sich die auftretenden Gefühle, Wünsche und Phantasien „in Wirklichkeit“ nicht auf die aktuelle Situation und die reale Bezugsperson beziehen, sondern früheren Bezugspersonen (bedeutungsvollen Menschen in unserem Leben) gelten.

Übertragung bedeutet, dass ein Mensch Gefühle, Haltungen, Phantasien, Triebwünsche und Abwehrreaktionen in Bezug auf eine Person der Gegenwart erlebt, die dieser Person jedoch nicht angemessen sind. Übertragung ist gleichsam ein Wieder-Durchleben der Vergangenheit, ein Missverstehen der Gegenwart gemäß der Vergangenheit. So unpassend die Übertragungsreaktionen für eine Person der Gegenwart sind, so genau passen sie hingegen auf jemand in der Vergangenheit. Die Übertragung lässt sich deshalb bildlich mit einer Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart vergleichen oder auch mit einem Klebstoff, der die Vergangenheit festhält und sie mit der Gegenwart verbindet.

Übertragungsbereitschaft (d.h. die Bereitschaft, die Gegenwart gemäß der Vergangenheit zu verwechseln) ist abhängig vom Grad der Versagung (Frustration) und der daraus resultierenden Suche nach Befriedigung. Der neurotische, frustrierte und unglückliche Mensch lebt durch die Vielzahl seiner ungelösten Konflikte und Sehnsüchte gleichsam in einer ständigen Übertragungsbereitschaft. Je größer der Druck ist, desto eher werden im Gegenüber die gewünschten oder auch gefürchteten Eigenschaften „gesehen“ bzw. „erahnt“. Wie sich ein Ertrinkender an einen Strohhalm klammert, um nicht unterzugehen, „erkennt“ der neurotische Mensch in seinem Gegenüber die ersehnten Möglichkeiten, schreibt sie ihm zu. Oder aber es werden – ganz im Gegenteil – bedrohliche und unangenehme Erfahrungen „wahrgenommen“, die zu Ablehnung, Distanz und Vorsicht führen.

Normalerweise sind Übertragungen zu Beginn einer neuen Begegnung nicht so massiv, so zwingend, dass die konkret stattfindenden Wahrnehmungen – wie das Gegenüber spricht, was es sagt, wie man sich angenommen fühlt (oder eben nicht) – davon sehr stark beeinflusst werden. Je intensiver die Beziehung jedoch wird und auch je größer die Übertragungsbereitschaft ist, desto stärker kommen Übertragungen zum Vorschein: Situationen und Erfahrungen, Ängste und Konflikte, die aus der eigenen Lebensgeschichte her bekannt sind (und damit auch die damit verbundenen Bewältigungs- und Lösungsstrategien) konstellieren („wiederholen“) sich – auch wenn man das Gefühl oder vielmehr die Hoffnung hatte, dass es diesmal ganz anders sein würde.

Das so verlässlich wirkende Gegenüber scheint plötzlich unverlässlich, das Gefühl von Geborgenheit weicht Eindrücken von Kälte und Abweisung oder der Gefahr der Vereinnahmung. Gefürchtete und bedrohliche Situationen entstehen und stellen die Behandlung in Frage. Oder aber unser Gegenüber erscheint uns nun in einem überaus strahlendem Licht, wird idealisiert, begehrenswert und eine Erfüllung der Trieb- und Beziehungswünsche wird (mitunter „mit allen Mitteln“) gesucht.

Je größer die Einschränkungen der Realitätswahrnehmung sind, desto stärker treten Übertragungen in den Vordergrund. Und umgekehrt, je stärker die Übertragungen sind, desto weniger wird die Realität als solche wahrgenommen, sondern vielmehr im Lichte der eigenen Projektion verkannt.

Shiatsu, und das ist hier zu beachten, fördert das regressive Eintauchen in körperbezogene, entwicklungsgeschichtlich frühe Erlebnisformen des eigenen Seins. Von besonderer Bedeutung dafür sind aus psychologischer Sicht insbesondere die auf Berührung (Tastsinn) und Tiefenwahrnehmung beruhende, nichtsprachliche Kommunikation zwischen Klient und Shiatsu-Praktiker, die direkte und offene Zuwendung sowie der beständige und ruhige Rhythmus der Shiatsu-Arbeit – Elemente, die das kontrollierende Wachbewusstsein in den Hintergrund treten lassen. So der Kontrolle durch das Wachbewusstsein (zumindest in größerem Maße) entbunden, können sich verborgene und verdrängte Gefühle, Wünsche, Ängste und Erinnerungen leichter entfalten und damit auch Übertragungen.

Nun hängt es von der Reife (und damit Integrationsfähigkeit) der KlientIn ab, aber auch von der Einfühlsamkeit und Professionalität der BehandlerIn, welchen Stellenwert, welche Bedeutung die so auftretenden Affekte, Erinnerungen und Übertragungen erlangen. Im Idealfall können sie als Teil der eigenen Vergangenheit, des eigenen Lebens integriert werden und auf diese Weise die innere Erfahrungswelt bereichern und beleben.

Problematischer wird die Situation jedoch, wenn die notwendige Integrationsarbeit nicht geleistet werden kann, weil die KlientIn zu diesem Zeitpunkt (noch) nicht über die erforderlichen Möglichkeiten verfügt oder die BehandlerIn durch ihre Handlungen und ihr Verhalten die Integration verhindert oder erschwert.

Ein großes Problem im Umgang mit Übertragungen (eigenen und fremden gleichermaßen) ist die Ambivalenz, d.h. die gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle (wie z.B. Liebe und Hass) in der Beziehung zu ein und derselben Person. Positive Übertragung (die Verkennung der Realität im Sinne eines Wunsches, einer Idealisierung) wandelt sich deshalb mit der Zeit zwangsläufig in negative Übertragung. Das, was vorher positiv erlebt wurde, wird nun negativ erlebt, verurteilt, schlecht gemacht. Der Idealisierung folgt die Enttäuschung. Aus dem Retter, dem Erlöser, dem Verständnisvollen wird der unfähige und negativ besetzte Helfer. Und aus der geschätzten KlientIn, der man sich zuwendet, für die man sich engagiert, an die man glaubt, die sich von uns helfen lässt, wird die undankbare, uneinsichtige, unkooperative KlientIn, die die Behandlung unterläuft, blockiert, die BehandlerIn verleumdet u.ä.m.


Gegenübertragung

In Abgrenzung zu Gefühlen und Haltungen, die in der BehandlerIn wachgerufen werden und durch die Lebensgeschichte und Struktur der KlientIn geprägt sind (wenn die Shiatsu-PraktikerIn frei genug ist, sie wahrzunehmen, sind sie ein gutes diagnostisches und therapeutisches Hilfsmittel), sind „Gegenübertragungen im engeren Sinne“ die Folge unbewältigter innerer Konflikte und Defizite der BehandlerIn selbst. In diesem Falle verkennt die BehandlerIn die reale Begegnung, legt quasi projektiv ihre eigenen Wünsche und Ängste in die Beziehung und handelt ihnen entsprechend (und nicht situations- und vertragsgemäß). Die Ursache dafür sind unbewältigte innere Konflikte und Defizite („neurotische Anteile“) der BehandlerIn, die durch entsprechend verantwortungsbewusstes und professionelles Umgehen abgefangen werden sollten, wobei Supervision und Eigentherapie sehr hilfreich sind und sein können.


Grenzen: Abgrenzung und Grenzüberschreitung

Für die notwendige und doch flexible Ausbildung von Grenzen ist ein adäquater Schutz vonnöten. Dieser Schutz darf jedoch nicht zu rigoros sein, damit sich die Funktionen von Abgrenzung und Kontakt optimal herausbilden können, denn die heranreifenden Strukturen entwickeln sich in der Auseinandersetzung mit einer möglichst „optimalen“ Herausforderung. Wir wachsen an bewältigten Problemen, die wir dann als Herausforderungen ansehen können. Eine übermäßige Herausforderung jedoch überfordert und schwächt. Die Gefahr einer Traumatisierung und eines damit verbundenen Entwicklungsstillstandes (oder einer Fehlentwicklung) ist gegeben, und das nicht nur durch ein einmaliges traumatisches Geschehen, vielmehr auch durch kontinuierliche Überforderung, durch ein „überforderndes Klima“. Aber auch Unterforderung lässt die Entwicklung stagnieren und schwächt auf diese Weise. Adäquate Herausforderung stärkt die Niere, die die tiefste Ebene unserer Anpassungs- und Schutzfunktionen bildet. Überforderung jedoch schwächt sie ebenso wie Unterforderung – vergleichbar einem geistigen oder körperlichen Training, für dessen Erfolg die Vermeidung von Über- wie auch Unterforderung von größter Wichtigkeit ist.

Traumatisierende, über- und unterfordernde Lebensbedingungen führen zur Ausbildung von problematischen Abwehrstrukturen, die weniger die Entwicklung in den Vordergrund stellen als vielmehr das „Überleben“. Abwehr- und Überlebensstrategien werden infolgedessen entwickelt, die die Anpassungsmöglichkeiten eines Menschen einschränken, flexibel und angemessen mit der Umwelt zu interagieren, mit ihr in Beziehung zu treten.

Um Grenzüberschreitungen im eigentliche und negativen Sinne handelt es sich dann, wenn die Grenzen der KlientIn massiv überschritten werden oder der berufliche und ethische Rahmen der Shiatsu-Sitzung verlassen wird. Dies passiert beispielsweise immer dann, wenn sich die Shiatsu-Sitzungen zu einer erotisch-sexuellen Beziehung hin entwickeln. Hier werden die professionellen Grenzen zwischen der Shiatsu-KlientIn und der Shiatsu-Gebenden überschritten. Es kommt zu einer Vermischung des professionellen Settings, das unsere KlientIn aufsucht um Hilfe und Unterstützung zu finden, mit privaten und – wie es die Psychoanalyse ausdrückt – libidinösen (triebhaften) Wünschen und Begierden des Shiatsu-Gebenden. Ob und inwieweit unsere KlientIn in dieser Situation wirklich eine libidinöse und partnerschaftliche Beziehung sucht, oder ob es für sie (ihn) ein aus der Erfahrung erlernter Weg ist, Zuwendung auf diesem Weg zu erhalten (ähnlich wie oft Zärtlichkeit in der Sexualität gesucht und vielfach nicht gefunden wird), sei für diese Betrachtung hinangestellt. Im Zentrum steht vielmehr, dass die Shiatsu-Gebende auf diese Weise letztlich unreflektiert agiert und ihre professionellen Grenzen (mehr oder weniger „eingeladen“) überschreitet.

Gerade Menschen, die ihre Grenzen nicht adäquat entwickeln konnten/durften, haben im späteren Leben große Schwierigkeiten, „gesunde Grenzen“ (nicht zu nah und nicht zu fern) zu ziehen. Und gerade sie sind besonders in Gefahr, dass ihre Grenzen auch von der BehandlerIn überschritten werden – ohne dies im Moment deutlich wahrnehmen oder gar artikulieren zu können.

Ein auch zu berücksichtigender Gesichtspunkt sind die Grenzen der Shiatsu-PraktikerIn selbst. Auch hier kann es Grenzüberschreitungen geben, wenn die KlientIn von der PraktikerIn Handlungen oder auch Haltungen wünscht, die deren Grenzen überschreiten (und die die PraktikerIn aus einem falsch verstandenen Gefühl der Verpflichtung und Hilfestellung gewährt) oder sich ihr gegenüber grenzüberschreitend verhält (z.B. in der Art und Weise der Berührung bei der Begrüßung oder während der Sitzung).

Insbesondere verletzende Grenzüberschreitungen sollte die Shiatsu-PraktikerIn nicht selbstverständlich akzeptieren, vielmehr durch ihr Umgehen damit (z.B. sich klar abgrenzen und von der Haltung her zugleich offen und zugewandt bleiben) auch als Modell wirksam zu werden. Problematisch wäre es, sich zu viel gefallen zu lassen (über die eigenen Grenzen gehen und sich selbst damit zu verletzen) oder aber auch zu abrupt und massiv, für die KlientIn nicht nachvollziehbar zu reagieren und beispielsweise die Behandlung abzubrechen oder sich emotional zu distanzieren.


Psychosomatik

Betrachtet man die fernöstliche Vorstellung von der Ganzheit eines Menschen, die Körper, Seele und Geist umfasst, untrennbar eins ist in all ihren Aspekten und Bereichen, so findet sich in der modernen westlichen Medizin im Konzept der Psychosomatik die größte Ähnlichkeit dazu. Wenngleich in keiner Weise so umfassend und letztlich so radikal wie das traditionelle chinesische Verständnis, geht auch der psychosomatische Ansatz von Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist aus. Emotionale Erfahrungen und psychische Verarbeitungen schlagen sich nicht nur in psychischen Problemen, Störungen und Dysfunktionen nieder, sondern durchaus auch in körperlichen Erkrankungen. Die westliche Medizin spricht hier, den modernen Klassifikationen folgend, von somatoformen Störungen: Körperliche Symptome, die eine körperliche Störung nahe legen, doch lassen sich keine organischen Befunde oder bekannte pathophysiologischen Mechanismen nachweisen – und es ist evident bzw. liegt der Verdacht nahe, dass psychischen Faktoren oder Konflikten Bedeutung zukommt.

In der Umgangssprache und im allgemeinen Verständnis wird der Begriff der Psychosomatik gewöhnlich weiter gefasst als im medizinisch-psychotherapeutischen Bereich, wo zwischen Konversionssymptomatik, hypochondrischen Symptomen und psychosomatischen Erkrankungen im engeren Sinne unterschieden wird.


Konversionssymptomatik

In der Konversionssymptomatik werden körperliche Symptome gleichsam – ohne entsprechende organisch-pathologische Befunde – imitiert, wie eine plötzlich auftretende Lähmung, obwohl die muskuläre und nervale Versorgung nicht beeinträchtigt ist. Das Symptom hat in diesem Kontext symbolischen Wert und drückt – unbewusst – einen inneren Konflikt und verdrängte Inhalte aus. Nach einem Streit beispielsweise wird der innere Konflikt, der mit dem heftigen Zorn verknüpft ist, durch eine „Lähmung des Armes“ darstellt.


Hypochondrie

Hypochondrie bedeutet die Projektion diffuser, nicht greifbarer und damit umso bedrohlicher Ängste auf bzw. in den eigenen Körper, wodurch diese Ängste eine „Quasi-Objektivierung“ erfahren. Hypochondrische Menschen beobachten sich dauernd und neigen dazu, unbedeutende Beschwerden und Störungen zu lebensbedrohlichen Erkrankungen auszubauen, wobei sie von der tödlichen Ernsthaftigkeit ihrer Erkrankungen überzeugt sind.


Psychosomatische Erkrankungen

Für das Verständnis psychosomatischer Erkrankungen (im engeren Sinne) wichtig sind insbesondere das somatopsychische-psychosomatische Modell, der Organmodus und das chronische Affektkorrelat.

Somatopsychisches-psychosomatisches Modell: Das Konzept der Desomatisierung von M. Schur (1955) beruht darauf, dass sich emotionale Zustände (Befindlichkeiten) aus ursprünglich rein körperlichen Befindlichkeiten entwickeln. Körpernahe und undifferenzierte Zustände entwickeln sich zu bewussten und unterscheidbaren emotionalen Befindlichkeiten. So zeigt ein Baby seine Abneigung gegen etwas, was ihm gefüttert wird, beispielsweise durch Abwenden oder, wenn ihm dies nicht möglich ist, durch Erbrechen des Essens. Später, mit zunehmender Differenzierung, kann das Kind dann – ohne Erbrechen zu müssen – seine Abneigung wesentlich differenzierter wahrnehmen und ausdrücken.

Wird die sich zunehmend herausbildende innerpsychische Regulation überfordert, so kann es – als Notfallsmechanismus – zu einer Rückkehr zur (frühen) Körpersprache kommen. Dieser als Resomatisierung bezeichnete Vorgang führt dazu, dass an Stelle differenzierter emotionaler Wahrnehmung (und entsprechenden Ausdruckes) wieder ganzheitliche Reaktionen (wie z.B. Erbrechen) auftreten.

A. Mitscherlich (1983) beschreibt in seinem Modell der „zweiphasigen Abwehr“, dass in vielen Fällen später psychosomatisch Erkrankte zunächst versuchen, Konflikte und Belastungen mit psychoneurotischen und psychosozialen Abwehr- und Verarbeitungsmodi zu bewältigen. Erst wenn dies nicht gelingt, kommt es innerhalb einer zweiten Phase zur Resomatisierung.

Resomatisierungsvorgänge, das sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, kommen in Belastungs- und Konfliktsituationen auch bei psychisch relativ gesunden Menschen vor, häufig jedoch liegen ihnen gewisse strukturelle Mängel (Entwicklungsdefizite) zu Grunde.

Der Organmodus: Die psychosomatische Reaktion bedient sich einer frühsymbolischen Organsprache (Körpersprache), die leibnäher, archaischer und auch wesentlich stärker von der individuellen Biographie geprägt ist als die „Sprache der Konversion“ (S. Mentzos, 1984).

Das chronische Affektkorrelat: Die systematische Blockierung und Frustrierung psychischer Bedürfnisse führt dazu, dass diese zwar auf psychischer Ebene nicht mehr bewusst erlebt werden, ihr psychophysiologisches Korrelat jedoch als Dauererregungszustand im vegetativen Nervensystems aufrechterhalten wird. Diese vegetative Dauerirritation führt schließlich zu Funktionsstörungen und Organschäden.

Haben wir es als Shiatsu-Praktizierende mit Menschen zu tun, die an psychosomatischen Erkrankungen leiden, so kann uns das Verständnis der zu Grunde liegenden Mechanismen helfen, unsere KlientInnen in ihrer Lebenssituation und ihren Schwierigkeiten anzunehmen und zu unterstützen. Mit Shiatsu können wir – darüber hinaus – das Auffüllen basaler Defizite, von denen psychosomatische Erkrankungen begleitet werden, unterstützen, und wir können die Entwicklung zu mehr Differenzierung im Sinne der Desomatisierung anregen. Zudem hat Shiatsu das Potential, durch seine ausgleichende Wirkung die Irritation im vegetativen Nervensystem zu beruhigen und so Funktionsstörungen günstig zu beeinflussen wie auch ihnen vorzubeugen.


Literatur

  • ALEXANDER, F. – Psychosomatische Medizin. Grundlagen und Anwendungsgebiete. De Gruyter Verlag, Berlin 1977 (3. Auflage).
  • DÖRNER, K. & PLOG, U. – Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie/Psychotherapie. Psychiatrie Verlag, Bonn 1992 (7. Auflage).
  • MENTZOS, S. – Neurotische Konfliktverarbeitung. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1984.
  • MITSCHERLICH, A. – Gesammelte Schriften, Psychosomatik 1+2. Hrsg.: T. Allert. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1983.
  • SCHUR, M. – Comments on the metapsychology of Somatization. The Psychoanalytic Study of the Child 10, 1955, S. 119 – 164.
  • STERN, D.N. – Die Lebenserfahrung des Säuglings. Verlag Clett-Cotta, Stuttgart 1992 (2. Auflage).

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).