Quantenphysik und Shiatsu (Patrizia Stefanini)
Übersetzung: Anne Frederiksen
Verstehen Quantenphysiker und Shiatsu-Praktiker die Welt auf eine
ganz ähnliche Weise? Patrizia Stefanini weist darauf hin, dass die Ansicht
des Physikers, der das Leben als eine Serie energetischer Interaktionen sieht,
die direkte Erfahrung des Shiatsu-Praktikers widerspiegeln könnte.
Während der letzten drei- oder vierhundert Jahre tendierte die Wissenschaft dazu, strikt zwischen Subjekt und Objekt, Geist und Natur zu trennen. Galileo Galilei (1564–1642) war der erste Mensch, der ausgiebig experimentierte, um Naturphänomene zu untersuchen (er wurde von der Inquisition eingekerkert, weil er zu behaupten wagte, dass die Planeten die Sonne umkreisen). Der Imperativ, „Miss, was gemessen werden kann und mache messbar, was nicht messbar ist“ (Galilei), wurde Grundlage modernen wissenschaftlichen Denkens und der Philosophie. Er liegt bis heute auch dem westlichen Ansatz von Gesundheit und Medizin zugrunde. Auf vielen Gebieten fordern Wissenschaftler Objektivität, aber die Grundlagen, auf denen dieser Ansatz basiert, können durchaus infrage gestellt werden, wie die folgende Aussage zeigt:
„Ein wichtiger Aspekt der Soziologie, der Wissenschaftler um den Verstand bringt, ist, dass es objektives Wissen nicht gibt. Abhängig von ihrem religiösen, kulturellen und sozialen Hintergrund sehen verschiedene Wissenschaftler ein und dasselbe Problem durch verschiedene Augen, stellen unterschiedliche Fragen und kommen zu unterschiedlichen Schlüssen, obwohl alle von denselben Daten ausgegangen sind.“ (Mike Holderness „Houses of What“, New Scientist, 9/10,1999).
Die Erforschung der subatomaren Welt im 20. Jahrhundert hat zudem gezeigt, dass Materie eine innere dynamische Natur hat. Man geht nicht länger davon aus, dass sie aus elementaren Bausteinen besteht, die exakt in Zeit und Raum lokalisiert werden können.
„Die Bestandteile eines Atoms sind dynamische Anordnungen, die nicht als isolierte messbare Einheiten existieren, sondern als integrale Teile eines voneinander abhängigen Netzwerks der Interaktion.“
Ein „voneinander abhängiges Netzwerk der Interaktion“ – ist das nicht eine wunderbare Beschreibung des Meridiansystems, das wir im Shiatsu benutzen? Die gegenwärtige Vorstellung von der subatomaren Welt enthält in der Tat Samen einer überaus großen Vorstellung von Mensch und Natur, in der Energie und Materie nicht länger getrennte Einheiten sind und die Trennung zwischen Beobachter und dem, was beobachtet wird, aufgehoben ist.
Physik und Mathematik bilden die Grundlage aller Wissenschaften. In der Physik wurde die alte Newton’sche/Cartesiasche Vorstellung von den Atomen als elementare Bausteine abgelöst von einer hochkomplexen Vorstellung der Interdependenz und Interaktion, der Energie und Wahrscheinlichkeit.
Die gängige Praxis in der westlichen Medizin will nach wie vor unterteilen und kategorisieren. Auf subatomarer Ebene bekommen wir heute aber die Botschaft, dass unsere „Realität“ viel zu komplex für solch einen vereinfachten Ansatz ist. Wenn wir von einem Atom in der Leber als einer schwingenden interagierenden energetischen Wahrscheinlichkeit sprechen, ist es dann nicht vernünftig und eine logische Schlussfolgerung, von dem Organ selbst in derselben Begrifflichkeit zu sprechen?
Auch Masunagas Meridiansystem bewegt sich von den anatomisch genau lokalisierten Punkten weg. Stattdessen macht Masunaga uns Vorschläge, wie wir den „Meridian fühlen“ können. Wenn wir während der Behandlung an die Funktion des Meridians denken, können wir energetisch mit seiner Schwingungsqualität in Kontakt zu kommen versuchen, d.h. schauen, ob wir eine Resonanz spüren. Mit anderen Worten: die Meridiane, die auf Masunagas energetischer Karte dargestellt sind, haben eine veränderliche Natur und Tiefe. Wie sie sich manifestieren, hängt von der Art der Behandlung und der Interaktion zwischen Therapeut und Klient in dem besonderen Augenblick ab.
Als ich Masunagas Buch las und begriff, wie er und sein Team ihre Theorien entwickelten, nämlich durch eine angewandte wissenschaftliche Methodenlehre über einen Zeitraum von zehn Jahren, erinnerte ich mich, was ich in den Jahren meines Physikstudiums gelernt hatte. Die Vorstellung der klassischen, deterministischen Physik, in der alles bestimmbar und lokalisierbar ist, findet ihre Parallele in den Traditionellen Chinesischen Meridianen, deren Verläufen und Punkten. Die energetische oder auf Wellen basierende Vorstellung der Quantenphysik, bei der nur eine Wahrscheinlichkeit der Präsenz besteht und alles zusammenhängt und sich gegenseitig beeinflusst, passt besser zu Masunagas Vorstellung von den Meridianen und der sehr persönlichen Beziehung im Augenblicks des Kontakts zwischen Praktiker und Klient.
Es ist nun nicht so, dass das eine Modell richtig, das andere dagegen falsch wäre. Jedes gibt uns eine Vorstellung von der Welt, in der wir einen unterschiedlichen Fokus und unterschiedliche Sphären oder Kompetenzfelder gebrauchen (Zeichen und Symptome in der Traditionellen Chinesischen Medizin, die Person in ihrer oder seiner gegenwärtigen Lebensphase bei Masunaga).
Wir können das Ziel der Behandlung ändern, weil wir eine andere „Vorstellung von der Welt“ haben. Nichts in unserem täglichen Leben hilft uns, das seltsame Phänomen der subatomaren Welt zu verstehen. Einstein selbst sagte einst, „Realität ist eine Illusion, wiewohl eine sehr beständige“. In der subatomaren Welt erscheinen Teilchen als Wellen und umgekehrt, Elektronen verlieren ihre Identität und verändern sich abhängig davon, wer sie beobachtet. Es kann sein, dass sich ein einzelnes Photon oder ein einzelner Lichtstrahl an zwei Orten gleichzeitig befindet.
Wenn Beobachter und das, was beobachtet wird, Teil desselben Phänomens sind, hat es keinen Sinn mehr, dass wir versuchen zu vergleichen, was wir jeweils im Hara gefunden haben. Was sich manifestiert, wenn zwei Menschen zusammentreffen, ist für diese beiden Menschen in eben jenem Augenblick einzigartig.
Albert Einsteins Relativitätstheorie trägt im Kern das Konzept in sich, dass die vierdimensionale Realität von Raum-Zeit (x, y und z + Zeit) als unabhängige physikalische Einheit keine objektive Bedeutung hatte. Alles ist relativ und die Koordinaten, die benutzt werden, um Raum-Zeit zu definieren, sind nur Elemente einer Sprache, die von einem Beobachter benutzt wird, um seine Umgebung zu beschreiben.
„Bist du tatsächlich davon überzeugt,
dass der Mond nur dann existiert,
wenn Du ihn siehst?“, fragte Einstein seinen Kollegen, den Physiker Abraham Pais.
(David Lindley, Astrophysiker)
Die moderne Physik und die Philosophie der alten Mystiker kommen beide zu demselben Schluss, dass sich die Welt in einem permanenten dynamischen Wandel, in Transformation befindet, und alle Phänomene der Welt miteinander verbunden und abhängig voneinander sind. Die Tatsache, dass die Wissenschaft heute zumindest auf der subatomaren Ebene bestätigt, dass es unmöglich ist, den Beobachter von den beobachteten Phänomenen zu trennen, bringt uns zurück zu einem der grundlegenen Prinzipien der Fernöstlichen Philosophie, in der die Struktur und die Phänomene, die in der Natur beobachtet werden, nichts anderes sind als das Erzeugnis unseres Geistes, der misst und klassifiziert. Die Anhänger des Hinduismus nennen es Maya, die Buddhisten Avidya.
Wenn wir im Sinne Masunagas arbeiten, suchen wir nach der Schwingungsqualität, die die maximale Wahrscheinlichkeit im Ausdruck entlang einem der Meridianverläufe, die auf seiner Karte dargestellt sind, hat. Wenn wir diese Art von Arbeit machen, sind wir nicht an die vierdimensionale Realität von Raum-Zeit, den festgelegten Gesetzen der Natur oder gar dem energetischen Konzept von Yin und Yang gebunden. Das Chinesische Modell, ähnlich wie das westliche Modell von Galileo mit seinem Teleskop, stellt den Menschen in das Zentrum des Universums, zwischen Erde und Himmel. Masunagas Vorstellung ist nicht mehr so anthropozentrisch. Der Mensch befindet sich vielmehr im Universum, in dem er nur einer von einer unendlichen Zahl von interagierenden energetischen Körpern ist.
Wenn wir von Meridianen als Wellen sprechen, können wir sagen, dass sie sich in verschiedenen Schwingungsfrequenzen manifestieren. Der Referenzrahmen ist nicht mehr ein ein- oder dreidimensionaler Raum, und der Zeitfaktor ist nicht mehr nur eine einfache lineare Funktion. In diesem Modell ist es also nicht mehr sinnvoll, über ein „Davor“ und ein „Danach“ zu sprechen. Alles erscheint in gewissem Sinne so, wie es sich im gerade gegenwärtigen Augenblick manifestiert. Es ist das Universum, wie es sich vor unseren Sinnen offenbart und enthüllt. Das Konzept von Kyo und Jitsu nimmt infolgedessen eine neue Bedeutung an; es gibt kein Bevor/Bedürfnis/Ursache (Kyo) mehr, das durch ein Danach/Wirkung (Jitsu) ausgeglichen wird, stattdessen gibt es eine Manifestation Kyo/Jitsu, die eine Bewegung im Leben gerade dieses Menschen darstellt.
Einsteins berühmte Gleichung E=mc2 umfasst auf moderne Weise das Konzept von Ki und drückt es auch aus. Das chinesische Schriftzeichen für Ki enthält die Wurzel sowohl für „Dampf“ als auch für „Reis“. In seinen verfeinerten Formen bewegt sich Ki fast unsichtbar wie Dampf. In seiner dichten Form verlangsamt es sich oder nimmt die Form eines Reiskorns an.“ (Carola Beresford-Cooke, Shiatsu Theorie und Praxis)
Einsteins Gleichung besagt, dass die Energie eines jeden Gegenstandes bestimmt werden kann durch Multiplikation seiner Masse mit der quadratischen Lichtgeschwindigkeit (die ein konstanter Wert ist). Jeder endliche Gegenstand kann deshalb direkt als eine endliche Menge an Energie ausgedrückt werden. Energie und Masse sind Ausdruck ein und desselben Basisphänomens. Ki ist beides Dampf und Reis.
Dieses Phänomen, das alles in dem uns bekannten Universum umfasst, kann durch eine Wellenform dargestellt werden – Energie in dynamischem Wandel der Zeit. Wenn wir an eine Meereswelle denken, hat sie die stetige Qualität der Bewegung und des Wandels. Wir können auch an Kyo und Jitsu, Yin und Yang als Ausdruck dieser Welle denken, als Ausdruck von Bewegung im Leben.
Um noch eine andere Analogie zu benutzen: So, wie wir im Lichtspektrum nur innerhalb des sichtbaren Spektrums „sehen“ können (was nur ein Bruchteil des Lichtstrahles ist, der auf die Netzhaut unseres Auges trifft), so können wir auch beim Shiatsu nur ein begrenztes Spektrum der Energie wahrnehmen, die sich in einem Meridian ausdrückt.
Musik ist Ausdruck energetischer Schwingungen (wie auch die Malerei, die Dichtung – alle Künste streben in gewissem Sinne danach, die Schwingung zu harmonisieren. Das ist die Gemeinsamkeit zwischen einem westlich geprägten Kunstwerk und einem Zen Felsengarten). Wir erkennen alle sofort, wenn eine Gitarre verstimmt ist oder es einem Musikstück an Rhythmus und Harmonie fehlt. Wenn Ihr Euch an Pythagoras aus der Schulmathematik erinnert, mag es Euch überraschen zu hören, dass er sich vor allem als Heiler sah und Musik als Heilmittel für jede Art von Krankheit benutzte. (Dazu siehe Jamie James The Music of the Spheres).
„Der Tanz der Shiva ist der Tanz des Universums:
Der Fluss der stetigen Energie durch eine unendliche
Konstellation von Sternbildern, gegründet auf einem Fundament
der gegenseitigen Abhängigkeit.“
(Fritjof Capra, Physiker)
Auch im Shiatsu benutzen wir instinktiv Schwingung und Rhythmus als Mittel, um die Energie auf verschiedenen Ebenen zu synchronisieren (physisch, emotional, mental und spirituell). Das erklärt vielleicht, warum ein eher statischer Shiatsu-Stil effektiver auf einer eher physischen oder emotionalen Ebene ist. Es hilft uns auch zu verstehen, warum es ratsam ist, keine zu festgelegte und vorgefasste Meinung zu haben, wie mit Kyo und Jitsu umzugehen ist. Manchmal muss ein Kyo (mit vorwiegend spirituellem Ausdruck) schneller und mit stärkerem Druck bearbeitet werden als ein Jitsu, das sich vorwiegend physisch ausdrückt.
Es gibt deshalb viele Kombinationen von Meridianen und Ebenen der Arbeit, die hinsichtlich desselben symptomatischen Ausdrucks sehr unterschiedliche Bedeutung haben. Infolgedessen gibt es unterschiedliche Modelle, mit Shiatsu zu arbeiten.
Wenn ich arbeite, versuche ich, keine vorgefassten Modelle oder Ideen davon zu haben, was ich in der Begegnung mit der Person tun werde. Ich versuche offen in meiner Berührung zu sein, um ihrem Ausdruck zu lauschen. Auf diese Weise kann ich meine Reaktion anpassen, der Resonanz (echo vitale) nachspüren, die mir die Information gibt, die ich für meine Arbeit brauche. Manchmal, in nur einem Bruchteil einer Sekunde, scheint sich ein ganzes Leben vor mir aufzutun. Man kann sogar Dinge wahrnehmen, die außerhalb des gegenwärtigen Lebens liegen. Unsere Arbeit sollte respektvoll und demütig sein und dem Menschen helfen, seine inneren Schätze oder Meridianenergien zu nutzen, um sich auf bestmögliche Weise zu verwirklichen.
Ich möchte Pauline Sasaki und Clifford Andrews für ihren großartigen und erhellenden Unterricht danken.
Bibliografie:
- The Tao of Physics – Fritjof Capra
- Physics for Poets – Robert H. March
- Where does the weirdness go? – David Lindley
- The Dancing Wu Li Masters – Gary Zukav
- Zen Shiatsu – Shizuto Masunaga
- Manual of Diagnosis – Shizuto Masunaga
- Zen Imaginery Exercises – Shizuto Masunaga
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© Patrizia Stefanini machte 1982 ihren Abschluss in theoretischer Physik an der Universität Pavia und begann 1983 mit Shiatsu. Sie ist sowohl Praktikerin und Lehrerin des European Institute of Shiatsu und hat 1990 eine Schule in Mailand gegründet (veröffentlicht im Shiatsu Journal Nr. 38, Sommer 2004)