Partnerschaft auch im Gespräch (Eduard Tripp)

Sprechen wir über nicht-direktives und wertfreies Gespräch, ist die Frage von grundlegender Bedeutung, wozu es dient und was sein Ziel ist. Nur dann, wenn wir es in den Gesamtkontext der Shiatsu-Begegnung betrachten, wird sein spezifischer Zugang  verständlich, ja selbstverständlich.

Vereinfacht gesagt ist es ein zentrales Ziel der fernöstlichen Medizin, in deren Tradition Shiatsu steht, Hilfe und Unterstützung Suchende darin zu unterstützen, dass die „Wurzeln” (Ursachen) einer Erkrankung oder eines unangenehmen Zustandes „heilen“ können. Jede Erkrankung ist Ausdruck eines Ungleichgewichts, dass es zunächst einmal zu erkennen (diagnostizieren) gilt und dann wieder ins Lot zu bringen – oder für Shiatsu bei seelischen Problemen korrekter ausgedrückt: Veränderungen ermöglichen. Denn während sich der Umgang mit “toter” Materie durch klare Gesetzmäßigkeiten auszeichnet, die sich kausal chemisch und/oder physikalisch beschreiben lassen, ist es ein grundlegendes Wesensmerkmal eines Organismus, dass seine Reaktionen nicht (verlässlich) vorhersagbar sind. Wie ein lebendes Wesen auf einen Reiz, einen Input reagiert, ist nur mit Wahrscheinlichkeiten abschätzbar, nicht aber für den Einzelfall vorherzusagen. Das, was eine gute Medizin, eine gute Behandlung ausmacht, ist deshalb immer nur eine “Erhöhung der Wahrscheinlichkeiten”: Je „optimaler die Behandlung, desto größer ist die Chance, dass die Behandlung in die “richtige Richtung” geht.[1]Welche Behandlung für wen optimal ist, zeigt sich endgültig aber erst dann, wenn sie angewendet worden ist. Bis dahin gibt es nur Wahrscheinlichkeiten (Statistiken) und Intuition (eine andere Form … weiterlesen


Was aber ist die “richtige” Richtung?

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Die traditionelle chinesische Medizin, die “Urmutter” des Shiatsu, geht davon aus, dass wir als Menschen die Aufgabe und damit das Ziel in uns tragen, unser Dao, unsere Bestimmung zu verwirklichen. Wenn uns das in unserem Leben gelingt, wenn wir umsetzen, was wir unserem inneren Kern, unserer Anlage gemäß sind, dann sind wir im Einklang mit uns und der Welt. Und so wie Daoismus und Buddhismus die Unwissenheit (d.h. nicht zu verstehen, wer wir wirklich sind) als die tiefste Basis für alle Erkrankungen betrachten, schaffen wir mit der Verwirklichung unseres Dao beste Voraussetzungen für Gesundheit und Glück.

Der daoistischen Lehre folgend ist unsere Bestimmung im Shen (Geist) verankert. Ihn zu erforschen und unseren Weg zu erkennen, braucht aber Bedingungen, die das ermöglichen. Im Shiatsu zielen wir deshalb darauf ab, Ungleichgewichte zu balancieren, Blockaden zu beseitigen, Schwaches anzuregen und Übermäßiges abzuschwächen – alles mit dem Ziel, dass sich der Organismus in Einklang bringen kann. Alle Teile und Funktionen sollen sich wieder einschwingen können in eine gemeinsame Harmonie und zugleich individuelle Melodie, die jedem Menschen zu eigen ist, vergleichbar einem Musikstück, das von einem Orchester im Zusammenspiel unterschiedlicher Instrumente gespielt wird.

Energetische Integration und emotionale Balancierung wird letztlich immer nur angeregt, nie geschaffen. Die Shiatsu-PraktikerIn gibt keine Richtung vor, sie schafft nur einen Rahmen, ein Feld, in dem sich die KlientIn erfahren und entwickeln kann. Und sie gibt Anregungen, Impulse, die von der KlientIn aufgegriffen werden können – um mehr und mehr zu dem Menschen zu werden, der sie ist: Authentisch in dem Sinne, dass Innen (Bestimmung einerseits und Empfinden andererseits) und Außen (Umsetzung und Verhalten) einander entsprechen.

Vergleichbar ist dieser Prozess mit dem Erwachsen-Werden eines Kindes, das von seinen Eltern anfangs in vielen Bereichen angeleitet wird. Zunehmend aber, mit dem Älterwerden des Kindes, bieten sie nur noch einen sicheren Rahmen, der geprägt ist von Unterstützung sowie konstruktiver und damit wertschätzender Auseinandersetzung. In eben diesem Geist steht das Gespräch im Shiatsu als Aspekt der umfassenden Begegnung – auch mit dem Ziel Gefühle und Erfahrungen integrieren zu können.


Direktives Gespräch

Einer direktiven Gesprächsführung hingegen liegt die Grundhaltung des “Ich weiß (besser), was für Dich gut ist, was Du tun sollst” zugrunde.[2]Ein direktives Gespräch ist niemals wertfrei, da hinter jeder einseitigen Bevorzugung einer Sichtweise oder Entscheidung eine Bewertung steht. Und wenn die KlientIn nicht das macht, was sie sollte oder nicht so, wie sie es sollte, hat das Konsequenzen, die von Belächeln (ihrer Inkompetenz) über emotionale Distanzierung und zu Ablehnung der KlientIn bis hin zu einem Kontaktabbruch (Abbruch der Behandlungen) durch die Shiatsu-PraktikerIn reichen können.[3]In diesem Kontext sind “Hausaufgaben” (Übungen, Ernährungsrichtlinien etc.) für die KlientIn sorgfältig zu betrachten (wenn sie nicht von der KlientIn selbst als Unterstützung … weiterlesen

Direktive Gesprächsführung ist an eine hierarchisch-autoritäre Beziehungsstruktur gebunden – und autoritäre Strukturen bedeuten immer ein “Gefälle” in einer Beziehung. Es gibt keine Gleichwertigkeit, vielmehr eine Wissende / Erfahrene und eine Unwissende.[4]Selbstverständlich weiß der Shiatsu-Gebende (im Allgemeinen) mehr über bestimmte Zusammenhänge, Funktionen und Wirksamkeiten. Er ist in diesem Punkt der Shiatsu-Empfangenden … weiterlesen Geprägt ist diese Form der Shiatsu-Begegnung durch bestimmte Erfahrungen der PraktikerIn, insbesondere durch ein autoritäres Umfeld (von der Kindheit bis zur Berufsausbildung) und/oder (durchaus auch daraus resultierende) “narzisstische Defizite”.[5]Narzisstische Defizite (Mängel im Selbstwert) werden häufig kompensiert indem man sich über andere erhebt und/oder einer Ideologie anschließt, die das eigene Sein und Tun aufwertet und teilhaben … weiterlesen

Unter bestimmten Umständen, beispielsweise wenn (dringender) Handlungsbedarf besteht, kann es dennoch erforderlich sein, klare Empfehlungen zu geben. Eine solche Intervention bedarf aber immer einer besonderen Vor- und Umsicht, um die Eigenständigkeit der KlientIn nicht zu gefährden und sollte immer die Bereitschaft der Shiatsu-PraktikerIn mit einschließen, die KlientIn auch dann wertzuschätzen, wenn der Ratschlag von ihr nicht angenommen und/oder umgesetzt wird.


Wertfreiheit

Wertfreiheit bedeutet nicht, keine Werte, Meinungen und innere Haltungen zu haben. Ganz im Gegenteil ist es in der Shiatsu-Begegnung als PraktikerIn von großer Bedeutung klare innere Werte zu haben (sie geben Orientierung und Sicherheit) und diese gut zu kennen, damit sie nicht unbewusst unsere Haltungen und Handlungen beeinflussen und lenken. Wertfreiheit meint ausschließlich den Umstand, dass wir unserem Gegenüber ihre/seine eigenen Wertmaßstäbe und Prioritäten in ihrem/seinem Leben und ihrem/seinem Handeln zugestehen (diese ihre/seine Eigenständigkeit letztlich zu begrüßen und zu fördern) und dass wir ihr/ihm unsere Maßstäbe und Leitlinien nicht aufdrängen, sie vielmehr in dem Maße hintanhalten als sie unsere KlientIn irritieren und/oder ihre Wahlfreiheit einschränken würden.[6]Ich kann als Shiatsu-Praktiker meine Meinung in der Gewissheit äußern (und nur dann!), wenn meine KlientIn diese Meinung als Anregung und persönlichen Standpunkt annehmen und gegebenenfalls auch … weiterlesen

Das begleitende, non-direktive und wertfreie, partnerschaftliche[7]“Partnerschaftlich” oder auch “partnerzentriert” betont, dass unsere KlientIn unsere PartnerIn ist: gleichwertig und gleichberechtigt. Es ist wichtig dabei zu verstehen, dass … weiterlesen Gespräch unterstützt unsere KlientIn auf dem Weg zu einer umfassenderen energetischen Integration. Der Grundgedanke dabei ist, der KlientIn die Möglichkeit zu schaffen, sich offen und ohne Bedenken (also z.B. ohne der Angst abgelehnt zu werden oder sich lächerlich zu machen) auszudrücken – mit dem Ziel, das sie ihre Erlebnisse und Gefühle erforschen kann, sie näher kennen lernt und Möglichkeiten findet, sie zu akzeptieren (und damit auch sich näher kennen und als ganze Person mit sehr unterschiedlichen Anteilen annehmen lernt).

Hauptaufgabe der Shiatsu-PraktikerIn ist es, ihre KlientIn zu ermutigen und zu unterstützen, ihre Eindrücke, Gefühle und Gedanken so frei wie möglich auszudrücken und – wenn notwendig – Anregungen zu geben.[8]Wichtig ist dabei, wie schon weiter oben ausgeführt, dass die Shiatsu-PraktikerIn ihre eigenen Wertvorstellungen und Wertungen kennt und doch hintan hält. Das aber darf keine oberflächliche und … weiterlesen Entscheidend ist dabei, der KlientIn keine Interpretationen, Ratschläge oder fertige Lösungen aufzudrängen. Stattdessen wird die Auseinandersetzung mit emotionalen Prozessen und das eigenständige Finden neuer Betrachtungsweisen gefördert – auch mit dem Ziel, die KlientIn zu befähigen, mit künftigen Problemen besser fertig zu werden.[9]Obwohl sich an den Tatsachen, die unserer KlientIn zum Problem geworden sind, durch ein Gespräch in der Regel nichts ändert, kann die KlientIn aber doch (zunehmend) ihre Wahrnehmungen, Gefühle und … weiterlesen

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Welche Behandlung für wen optimal ist, zeigt sich endgültig aber erst dann, wenn sie angewendet worden ist. Bis dahin gibt es nur Wahrscheinlichkeiten (Statistiken) und Intuition (eine andere Form der Wahrscheinlichkeit).
2 Ein direktives Gespräch ist niemals wertfrei, da hinter jeder einseitigen Bevorzugung einer Sichtweise oder Entscheidung eine Bewertung steht.
3 In diesem Kontext sind “Hausaufgaben” (Übungen, Ernährungsrichtlinien etc.) für die KlientIn sorgfältig zu betrachten (wenn sie nicht von der KlientIn selbst als Unterstützung gewünscht werden), weil sie sehr schnell ein hierarchisches System erschaffen: Da die Autorität, die LehrerIn, die weiß was zu tun ist; und dort der Laie, der tun soll(te), was “gut” für ihn ist, letztlich von ihm gefordert wird, um gesund und glücklich zu werden oder sich zu “verwirklichen”. Mit diesem Verlust der gleichwertigen Partnerschaft mit unserer KlientIn tauchen wir zugleich in Strukturen ein, die wir und oft auch unsere KlientInnen mit Shiatsu hinter uns lassen wollten: das Expertentum, wie wir es so häufig in der modernen Medizin finden. Gleich den Ärzten erstellen wir dann – wenngleich inhaltlich anders – “Diagnosen” und Behandlungspläne und geben unseren KlientInnen Anweisungen, was sie zu tun haben und was nicht. Was aber nicht stattfindet, ist ein (gemeinsames, durch ein partnerschaftliches Gespräch unterstütztes) Erarbeiten der Ziele und Wege.      

Hilarion Petzold (Körpertherapeut und Gründer des “Fritz Perls Instituts für Integrative Therapie, Gestalttherapie und Kreativitätsförderung”, von 1979 bis 2004 Professor für Psychologie, klinische Bewegungstherapie und Psychomotorik an der Freien Universität Amsterdam) geht in seinem Ansatz deshalb grundsätzlich davon aus, dass man mit niemanden körpertherapeutisch arbeiten sollte, von dem man sich nicht vorstellen könnte, mit ihr/ihm auch befreundet zu sein (oder zumindest zu werden), d.h. mit dem wir uns eine Gleichwertigkeit vorstellen können.

4 Selbstverständlich weiß der Shiatsu-Gebende (im Allgemeinen) mehr über bestimmte Zusammenhänge, Funktionen und Wirksamkeiten. Er ist in diesem Punkt der Shiatsu-Empfangenden “überlegen”, doch sollte hier “Gleichheit” nicht mit “Gleichwertigkeit” verwechselt werden. Auch wenn ich als Shiatsu-PrakterIn in einem Bereich mehr weiß, mehr kann und mehr verstehe, bedeutet das nicht, dass ich daraus eine generelle Überlegenheit (ein “Besser-Sein”) ableiten könnte. Das würde zudem dem Weltbild und dem Menschenverständnis von Shiatsu widersprechen. Auch bedeutet es noch lange nicht, dass das, was ich als das Beste für meine KlientIn erachte, für sie das Beste ist.
5 Narzisstische Defizite (Mängel im Selbstwert) werden häufig kompensiert indem man sich über andere erhebt und/oder einer Ideologie anschließt, die das eigene Sein und Tun aufwertet und teilhaben lässt an ihrer Großartigkeit.
6 Ich kann als Shiatsu-Praktiker meine Meinung in der Gewissheit äußern (und nur dann!), wenn meine KlientIn diese Meinung als Anregung und persönlichen Standpunkt annehmen und gegebenenfalls auch ablehnen kann (wann aber bin ich mir dessen wirklich sicher, vor allem in den frühen Phasen einer Bekanntschaft?) – und auch ich als Shiatsu-PraktikerIn diese Freiheit der KlientIn respektieren und gutheißen kann. Andernfalls handelt es sich nur um eine scheinbare Toleranz und Wertschätzung.  
In bestimmten Situationen und Umständen (vor allem, wenn es die KlientIn nicht überfordert) erweist sich ein solches Vorgehen durchaus auch als hilfreich und klärend. Zum falschen Zeitpunkt oder unter falschen Prämissen kann der gleiche Input allerdings einschränken, blockieren und ein offenes Gespräch unmöglich machen.
7 “Partnerschaftlich” oder auch “partnerzentriert” betont, dass unsere KlientIn unsere PartnerIn ist: gleichwertig und gleichberechtigt. Es ist wichtig dabei zu verstehen, dass wir als Shiatsu Praktizierende zwar mehr von Shiatsu verstehen, unsere KlientIn aber mehr von ihrem Leben und dessen Bedingungen. Jede/r für sich ist ein/e Wissende/r auf ihrem/seinem Gebiet und (nur) gemeinsam schaffen wir den Raum, in dem die Shiatsu-Begegnung und ein partnerschaftliche Gespräch stattfinden.
8 Wichtig ist dabei, wie schon weiter oben ausgeführt, dass die Shiatsu-PraktikerIn ihre eigenen Wertvorstellungen und Wertungen kennt und doch hintan hält. Das aber darf keine oberflächliche und aufgesetzte Haltung sein, denn unsere KlientInnen spüren im Allgemeinen sehr wohl, ob wir wirklich offen und wertfrei sind.
9 Obwohl sich an den Tatsachen, die unserer KlientIn zum Problem geworden sind, durch ein Gespräch in der Regel nichts ändert, kann die KlientIn aber doch (zunehmend) ihre Wahrnehmungen, Gefühle und Empfindungen annehmen, ordnen und integrieren (d.h. mit ihnen “fertig” werden) und neue Standpunkte (und damit auch neue Lösungen) finden.   
Zugleich kann durch diese Form des Gesprächs eine (noch) tiefere Beziehung der Nähe, des Vertrauens und der Offenheit zwischen den beiden GesprächspartnerInnen entstehen.