Opfer des Reaktorunglücks von Tschernobyl
Wie viele Opfer das Reaktorunglück von Tschernobyl forderte ist schwierig seriös zu beantworten – zum einen weil das wahre Ausmaß der Katastrophe zunächst auch innerhalb der Sowjetunion verschwiegen oder verschleiert wurde und zum anderen, weil die Langzeitfolgen noch nicht wirklich abschätzbar sind. Bis heute werden die Folgen der Katastophe äußerst kontrovers diskutiert.
Im September 2005 veröffentlichte das Tschernobyl-Forum, bestehend aus mehreren Organisationen der Vereinten Nationen und an die UN assoziierten Agenturen, einen Untersuchungsbericht über die gesundheitlichen, ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen aus Sicht der Mitglieder des Forums. Zu diesen Mitgliedern zählten Vertreter des Umwelt- und des Entwicklungsprogramms der UN, des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Hilfe, des wissenschaftlichen Komitees über die Wirkung radioaktiver Strahlung der UN, dazu Vertreter der IAEO, der Weltgesundheitsorganisation WHO, der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UN (FAO), der Weltbank sowie der Regierungen von Weißrussland, Russland und der Ukraine, also der unmittelbar betroffenen Länder. Einige Wissenschafter sowie Umweltschutzorganisationen kritisierten, der Bericht sei parteiisch und spiele die Auswirkungen herunter. WHO und IAEO sprechen von 50 Toten, die das Unglück unmittelbar gefordert habe oder die an akuter Strahlenkrankheit gestorben seien, und neun an Schilddrüsenkrebs verstorbenen Kindern.
In den am stärksten betroffenen Ländern sei mit etwa 4.000 zusätzlichen Krebserkrankungen zu rechnen. Franz Kainberger, Radiologe und Strahlenschutzexperte am Wiener AKH, rechnet damit, dass die Krebssterblichkeit in den stark betroffenen Ländern aufgrund der erhöhten Strahlenbelastung durch Tschernobyl erst in den kommenden Jahren deutlich ansteigen wird.
Erst kürzlich legten Forscher des renommierten Schweizer Paul-Scherrer-Instituts (PSI) eine neue Studie mit der Bezeichnung „Secure“ vor. Darin schätzen sie die Zahl der latenten Todesfälle in einem Zeitraum von 70 Jahren nach dem Unfall auf 9.000 für die Ukraine, Russland und Weißrussland und auf 33.000 für die gesamte nördliche Hemisphäre.
Die Wissenschafter analysierten außerdem Berichte über schwere Unfälle im Energiesektor im Zeitraum zwischen 1970 und 2008. Als schwere Unfälle wurden Ereignisse mit weltweit mindestens fünf unmittelbaren Todesopfern gewertet. Die wenigsten unmittelbaren Todesopfer gab es im Bereich Kernenergie, die meisten in den Bereichen Kohle, Wasserkraft und Erdöl (31 versus 89.311). Allein im Jahr 1975 starben bei den Dammbruch-Katastrophen von Banqiao und Shimantan in China 26.000 Menschen. Teilt man die Zahl der Unfälle und die Zahl der Todesopfer nach OECD- und EU-Staaten auf der einen und Nicht-OECD-Staaten auf der anderen Seite, dann überwiegen die Zahl der Ereignisse und die Zahl der Opfer in den Nicht-OECD-Staaten um ein Vielfaches. Bezieht man die Verstrahlung, die womöglich jahrzehntelange Unbewohnbarkeit großer Landflächen sowie die Langzeitopfer in die Rechnung mit ein, dann schneidet die Kernenergie am schlechtesten ab. Setzt man hingegen die Zahl der Opfer in Relation zur produzierten Energiemenge, so die Forscher, dann sieht es für die Kernenergie besser aus.
Quelle
Profil 13, 28.3.2011,www.profil.at/articles/1112/576/292468/10-fragen-atomkraftexperten