Nacht- und Schichtarbeit aus chronobiologischer Sicht
Menschen leben normalerweise mit dem 24-Stunden-Rhythmus des Sonnenlaufs, schlafen also nachts und sind am Tag aktiv. Eine im Hypothalamus gelegene innere (Haupt-)Uhr, so weiß man nun seit einiger Zeit, gibt diesen Rhythmus im Einklang mit dem Tag-Nachtrhythmus vor. Eine Gruppe von Nervenzellen im SCN (Suprachiasmatischen Nukleus) reagiert via Netzhaut auf Licht und Dunkelheit in der Außenwelt. Vom SCN führen Nervenbahnen zur Epiphyse (Zirbeldrüse), in der abends bei zunehmender Dunkelheit das Hormon Melatonin ausgeschüttet wird: Man wird müde und schlafbereit. Umgekehrt wird bei beginnendem Tageslicht (ab etwa 2.500 Lux) die Melatoninausschüttung gestoppt. In der Folge steigen Blutdruck, Puls und Körpertemperatur an, Verdauung und Ausscheidungsvorgänge werden aktiviert und die Reaktionsfähigkeit nimmt zu. Man wird wach und aktiv.
Weitere Forschungen haben gezeigt, dass sich zudem in jeder Zelle und in jedem Gewebe innere Uhren befinden, die in einem eigenständigen Rhythmus „ticken“. Sie reagieren, anders als die innere Uhr im SCN, nicht auf Licht, sondern beispielsweise auf Nahrung (Leber) oder Bewegung (Muskeln). Damit sie nicht aus dem Takt geraten, werden sie ständig vom SCN als Hauptzeitgeber synchronisiert. Der SCN koordiniert die peripheren Uhren untereinander und bringt sie in Übereinstimmung mit dem äußeren Tag.
Desynchronisation der inneren Uhren
Durch Nahrungsaufnahme über eine längere Zeit in der Ruhephase, so zeigen Versuche an Mäusen, können beispielsweise die inneren Uhren in den Verdauungsorganen – unabhängig vom SCN, der in seinem von Licht und Dunkelheit gesteuertem Rhythmus bleibt – verstellt werden. In der Folge kommt es zu einer Desynchronisation der inneren Uhren.
Bekannt sind „Rhythmusstörungen“ durch Reisen über mehrere Zeitzonen oder Arbeit zu unphysiologischen Zeiten, die das Gleichgewicht zwischen den inneren Uhren und dem äußeren Tag aus dem Takt bringen und die Harmonie der Körperfunktionen stören. Typische Symptome eines Jetlag (als Folge von Flugreisen über mehrere Zeitzonen) sind Schlafstörungen, Magen-Darmprobleme, Stimmungsschwankungen, Konzentrationsstörungen und Leistungsbeeinträchtigungen. Nach ein paar Tagen in der neuen Zeitzone klingt der Jetlag allerdings wieder von selbst ab.
Bei Nachtarbeitern ist die Situation ein wenig anders, denn sie leben gleichzeitig in mehreren Zeitzonen („Shiftlag“). Sie können sich chronobiologisch nie ganz anpassen, weil die innere Uhr immer wieder verstellt wird. Freie Zeit wird meistens tagaktiv verbracht, um am normalen Leben teilzunehmen und der sozialen Isolation durch die Nachtarbeit entgegenzusteuern. Und auf der anderen Seite steht die sich ständig wiederholende Nachtarbeit. Gehäuft bei Nachtarbeitern auftretende Gesundheitsrisiken (Shiftlag-Symptome) sind Schlafstörungen, Müdigkeit, Herz-Kreislauferkrankungen, Magen-Darmbeschwerden, Reizbarkeit, erhöhtes Brust- und Darmkrebsrisiko und Depressionen.
Lerchen und Eulen
Ausgeprägte Morgentypen (Lerchen) und Abendtypen (Eulen) haben einen zeitlich verschobenen Tagesrhythmus (Circadian-Rhythmus). Morgentypen gehen früh ins Bett und stehen früh auf. Wenn sie später ins Bett gehen, können sie das fast gar nicht durch längeres Schlafen ausgleichen, da sie kaum in der Lage sind, ausreichend lange am Tag zu schlafen. Die Spitzen und Tiefen ihrer circadianen Rhythmen liegen bis zu drei Stunden vor denen der Abendtypen. Entsprechend hoch ist der Anteil unter den „Morgenmenschen“, die über gesundheitliche Folgen der Nachtarbeit klagen.
Abendtypen hingegen scheinen die Nachtarbeit besser bewältigen zu können, wohingegen sie Frühschichten weniger gut vertragen. Grund dafür ist ihre Schwierigkeit, die Schlafzeiten vorzuverlagern.
Mit von Bedeutung für die Auswirkungen von Nacht- und Schichtarbeit ist zudem der Schlaftyp. Menschen mit flexibler Schlaffähigkeit, die grundsätzlich wenig Schlaf (weniger als sieben Stunden) benötigen, halten Schlafdruck besser aus, haben weniger Schlafdefizite und leiden weniger unter Schichtarbeit.
Empfehlungen für Nacht- und Schichtarbeitende
- Aufmerksamkeitsintensive Arbeiten sollen bei sehr hellem Licht (über 2.000 Lux) und vor 02.00 Uhr durchgeführt werden.
- Eiweiß-, kohlenhydrat- und vitaminreiche, leicht verdauliche, warme und gekochte Mahlzeiten in mehreren Portionen über die Nacht verteilt essen.
- „Power naps“ (kurze Nickerchen) fördern die Leistungsfähigkeit, wobei sich eventuell auftretende Schlaftrunkenheit durch maximal 15 Minuten lange Nickerchen und ein anschließendes kaltes Hand- oder Fußbad (steigert die Körpertemperatur und reduziert die Melatoninproduktion) vermeiden lässt.
- Körperliche Bewegung, gelegentliches tiefes Durchatmen und frische Luft in den Arbeitsräumen unterstützt die Konzentration.
Empfehlungen, um Tagschlaf und Erholung zu fördern
- Am Heimweg eine Sonnenbrille tragen, damit der SCN morgens nicht so stark vom Tageslicht beeinflusst wird und den Körper zu stark auf Aktivität umstellt.
- Für ungestörte Schlafumgebung sorgen (Telefon und Türglocke abschalten, Nachtschichten bekannt geben, bei Umgebungslärm Fenster schließen u.ä.m.).
- Das Schlafzimmer kühl und dunkel, die Füße und Hände hingegen warm halten (eine gute periphere Durchblutung senkt die Körpertemperatur, lässt die Melatoninkonzentration ansteigen und wirkt schlaffördernd).
Empfehlungen für die aktive Umstellung von Tag auf Nacht
- Nach dem letzten Nachtdienst sollte die erste Tagschlafphase kürzer sein.
- Tageslicht als starken Zeitgeber der Re-Synchronisation ausnutzen und sich viel im Freien bewegen.
- Mahlzeiten, Kontakte und Tagesablauf wieder auf den Tagesrhythmus einstellen.
- Bei Müdigkeitsschüben kurze Nickerchen („Power naps“) halten.
Empfehlungen zur Organisation von Nacht- und Schichtarbeit
- Nachtdienste sollten freiwillig ausgewählt werden. Wer Nachtarbeit als Arbeitsform wählt, ist chronotypisch und sozial meist besser dafür geeignet und wird die Nachtarbeit im allgemeinen besser vertragen.
- Die Dienstplanung sollte langfristig erfolgen, damit sich die Mitarbeiter freiwillig einteilen und Schichten selbständig tauschen können, um ihr Privatleben besser auf die Nacht- oder Schichtarbeit einstellen zu können. Eine aktive Beteiligung der Mitarbeiter führt zudem zu höherer Arbeitszufriedenheit und Lebensqualität.
- Nachtschichten sollten nicht länger als acht Stunden dauern. Die Ruhezeit zwischen zwei Schichten sollte zumindest elf Stunden betragen, damit genügend Schlaf und Erholung möglich sind.
- Frühdienste sollten möglichst nicht vor sechs Uhr beginnen, der Spätdienst nicht nach 23 Uhr und der Nachtdienst so früh wie möglich enden.
- Vorwärts rotierende Schichten (Frühdienst -> Spätdienst -> Nachtdienst) werden besser bewältigt als rückwärts rotierende.
- Schnell rotierende Schichten sind leichter zu verkraften als langsam rotierende. Je weniger Nachtschichten hintereinander liegen, desto näher bleibt der Organismus an der physiologischen circadianen Rhythmik und desto weniger Umstellungsarbeit muss er leisten. Je mehr Schichten hingegen hintereinander gearbeitet werden, desto länger muss die arbeitsfreie Zeit danach sein.
- Am besten vertragen wird Dauernachtdienst von jungen allein stehenden Frauen und Männern, die auch an ihren freien Tagen ein nachtorientiertes Leben führen.
- Weil Nachtarbeit chronobiologische Schwerarbeit ist, sollte sie nicht durch zusätzliche (vermeidbare, weil nicht unbedingt erforderliche) Arbeiten belastet werden. Planbare Arbeiten, die viel Konzentration erfordern, sollten nicht zwischen zwei und fünf Uhr erledigt werden (Zeit eines circadian bedingten Leistungstiefs).
- „Power naps“ (z.B. auf einem bequemen Sessel) sollten gestattet werden, da sie die Wachheit und Leistungsfähigkeit am schnellsten verbessern.
- Arbeitsräume und Gänge sollten möglichst hell beleuchtet werden (über 2.000 Lux), da helles Licht die Melatoninausschüttung unterdrückt und Wachheit und Leistungsfähigkeit erhöht.
- Die Möglichkeit, eine warme, leicht verdauliche, appetitliche Mahlzeit in einer möglichst angenehmen Atmosphäre einnehmen zu können.
Quelle
Elisabeth Fischer-Doetzkies & Jürgen Georg – „Shift-Work-Manager in der Pflege“. In: Pflege Aktuell, Februar 2005, S. 72 – 75