Kyo und Jitsu (Wilfried Rappenecker)

Als ich Yoshi Ikeda (ein japanischer Akupunkteur, der auch in Deutschland Themen wie Sotai oder Moxa unterrichtet) zum Thema kyo und jitsu befragte, antwortete er mir, dies seien in der japanischen Akupunktur gängige Begriffe und sie bedeuteten einfach gute oder schlechte Abwehrkräfte. Nun glaube ich nicht, dass mit dieser Antwort kyo und jitsu erschöpfend beschrieben wären. Mich beeindruckte aber die Tatsache, dass für Yoshi die Sache einfach und klar war.

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Wir Europäer tun uns dagegen schwer mit kyo und jitsu. Dabei vermute ich, dass dieses Gegensatzpaar ganz einfach zu verstehen wäre, wären wir Japaner oder würden zumindest aus dem Fernen Osten stammen. So aber kommt es uns fremdartig vor, wir wünschen uns, zu verstehen und denken vielleicht, damit sei es so wie mit vielen anderen Weisheiten des Fernen Ostens: man muss sich ein Leben lang darum bemühen, irgendwann trifft einen dann die Erleuchtung…

Da ich vermute, dass mein eigener Werdegang zu diesem Thema nicht ganz untypisch ist, möchte ich ihn hier kurz skizzieren. Natürlich lief es nicht so klar und geradlinig ab, wie ich es in den folgenden Absätzen darstelle. Alle Irrungen und Wirrungen aber würden die Leser sicherlich langweilen und das Verständnis erschweren.


Leere und Fülle

Zu Beginn meiner Shiatsu-Zeit lernte ich, dass kyo und jitsu Leere und Fülle bedeuten. Da ich nicht gelernt hatte, energetische Muster zu sehen (und als gestandener Schulmediziner das wohl auch als Hokus Pokus abgetan hätte), verstand ich darunter körperliche Leere und Fülle.

Nachdem ich einige Zeit auf diese Weise “körperliches” Shiatsu gemacht hatte, begann ich unzufrieden zu werden. Ich erkannte, dass ich nicht wusste, was ich da eigentlich machte. Mir fehlte der unmittelbare Kontakt zu dem, was jenseits der physischen Berührung stattfand.

Ich hatte mittlerweile verstanden, dass beispielsweise bei der Hara-Diagnose kyo nicht einfach weich und jitsu nicht einfach hart bedeuten. Auf der Suche nach Alternativen begann ich mich, wenn ich eine Diagnosezone berührte, zu fragen: “Steckt hinter dieser Oberfläche Kraft, Vitalität oder fehlt sie?”

Ich bekam erstaunlich differenzierte Antworten. Zum ersten Mal bekam ich Zugang zur Hara-Diagnose, zum ersten Mal bedeutete sie mir etwas. Ich verstand: jitsu kann für Kraft und Vitalität stehen, kyo für einen Mangel daran. Ich begann zu ahnen, was energetische Leere und Fülle bedeuten und wie sie sich äußern können.


Bewegungen

Meine nächste große Entdeckung war, dass ich im Unterricht merkwürdige Reaktionen auf Berührung entdeckte. Es dauerte einige Zeit, bis ich genügend Erfahrung hatte, um diese sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen zu ordnen. Ich “sah” die merkwürdigsten Phänomene wie heftige Ausbrüche, schmerzhaftes Einsinken, kraftloses Flattern oder ein ruhiges kraftvolles Abweisen. Offensichtlich waren dies energetische Phänomene, die durch Berührung aktiviert wurden und dabei den energetischen Zustand des jeweiligen Meridians bzw. der jeweiligen Körperstelle widerspiegelten.

(Zunächst war ich sehr stolz auf meine neue Fähigkeit, bis ich entdeckte, dass die meisten Schüler unserer Abschlussklassen hierzu ebenfalls in der Lage sind. Seither ist die Wahrnehmung energetischer Reaktionen auf Berührung ein wichtiges Instrument meines Unterrichts.)

Ich verstand: energetische Leere und Fülle sind nicht alles. Sie scheinen vielmehr die Folge energetischer Aktivität zu sein. Diese energetische Aktivität wurde mir zum entscheidenden Kriterium: relativ schwache, relativ langsame, nach innen gehende, dunkle usw. Bewegungen auf Berührung erkannte ich als Ausdruck mangelnder Lebendigkeit, als kyo. Helle, spitze, rasche, spannungsgeladene, “laute” und kraftvolle, nach außen gehende usw. Bewegungen stufte ich als jitsu ein. Die Bewegungen waren überall zu beobachten: an den Harazonen, auf den Meridianen, an Körperregionen. Die eindeutigste und am besten verwertbare Aussage fand ich in der Richtung der Bewegung: geht sie nach innen oder nach außen.

Schwierig wurde die Zuordnung, wenn ich Reaktionen fand, die gleichzeitig als kyo und als jitsu interpretiert werden konnten. Etwa, wenn eine Reaktion dünn und schwach wirkte, gleichzeitig aber rasch und heftig (ohne große Kraft) war. Erstaunt beobachtete ich, dass körperliche und selbst energetische Leere nicht unbedingt auch energetische Unteraktivität bedeuten musste (das gleiche galt gelegentlich umgekehrt für energetische Fülle).

Selbst in vergleichsweise leeren und erschöpften Körperregionen oder auch Meridianenergien (häufiger z.B. im Lendenbereich (Nieren-Energie) oder in Zusammenhang mit der Perikard (Herzkreislauf)-Energie) entdeckte ich mitunter eine hohe, manchmal fast verzweifelt zu nennende Spannung und Aktivität.

Zwar kannte ich den Begriff “jitsu im kyo”. Hier aber wurde mir klar, dass es sich auch dabei nicht um einen Zustand handelt, sondern um eine lebendige Aktivität unterschiedlicher Qualität.


Es gibt unendlich viele verschiedene kyo und jitsu

Schließlich wurden mir die Eindrücke zu bunt, um sie beständig in den Rahmen von kyo und jitsu zu pressen. Ich begann in meinen Behandlungsaufzeichnungen eigene Worte zu finden für die Qualitäten, die mir entgegen kamen. So mag eine Meridian-Aktivität und damit auch die aktuelle Qualität dieser Energie, wie sie sich bei Berührung äußert, kraftvoll oder müde erscheinen, angespannt oder entspannt, schnell oder langsam, hochfahrend oder absinkend, fröhlich oder traurig usw. Mir wurde klar: es gibt mindestens so viele verschiedene kyo und jitsu wie es Menschen auf der Erde gibt.

Der große Vorteil dieses Vorgehens war, dass mir die beobachteten Qualitäten etwas bedeuteten, ich hatte einen ganz persönlichen sinnlichen Bezug zu ihnen und musste mich nicht in ein mir letzten Endes immer noch fremdes japanisches kyo-jitsu-System einordnen. Darüber hinaus konnte ich nun viel spezifischer behandlerisch auf das Wahrgenommene eingehen. Ich hatte ein viel größeres Arsenal an therapeutischen Möglichkeiten zur Verfügung. Statt jeweils nur zu sedieren oder tonisieren konnte ich nun ermutigen, stärken, beruhigen, in Bewegung bringen, dämpfen, aktivieren oder gar provozieren usw. Ich durfte (und musste) mir in jeder Situation völlig frei von theoretischen Systemen überlegen und auch experimentieren, mit welcher Herangehensweise und welchen Techniken ich das jeweilige Ziel am besten erreichen konnte.


Resonanzkörper

Kyo und jitsu sind mir nach wie vor wichtig, weil sie es mitunter erlauben, komplizierte Muster auf einen einfachen Nenner zu bringen, und weil ich sie als Shiatsu-Lehrer ja auch unterrichte. Jetzt aber habe ich meine ganz persönliche Interpretation gefunden. Vielfach sehe ich eine Kyo- oder Jitsu-Qualität heute am energetischen Ausdruck eines Körperbereiches oder eines Meridians, noch bevor ich diese berühre. Ich stelle mir einfach vor, wie diese Stelle wohl reagieren würde, wenn ich sie berühren würde. Die Antworten sind recht klar und eindrucksvoll und geben wichtige Hinweise, wie man sie wirkungsvoll berühren kann.

Die Wahrnehmung von kyo und jitsu wird um so leichter, je weniger angespannt – insbesondere im Hara – ich bin, je mehr mein Körper wie ein frei schwingender Resonanzkörper die mich erreichenden Qualitäten aufnehmen kann. Wie alle anderen “energetischen” Phänomene entziehen sie sich der bewussten Wahrnehmung, wenn Anspannung und Enge vorherrschen.

Die Erforschung von, was kyo und jitsu wirklich bedeuten, kann ein spannender Abenteuertrip sein und auch ein Training darin, weit zu werden.

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© Wilfried Rappenecker, geb. 1950 in der Nähe von Köln, ist Leiter der Schule für Shiatsu Hamburg (D-22769 Hamburg, Oelkersallee 33, http://www.schule-fuer-shiatsu.de), Mitbegründer der GSD und Autor zweier Bücher zum Thema Shiatsu. Als Arzt für Allgemeinmedizin arbeitet er dort überwiegend mit Shiatsu.