Komplexe Systeme. Grundprinzipien der Chaostheorie

Die Komplexitätsforschung (früher auch als Chaostheorie bezeichnet) geht davon aus, dass alle lebenden Systeme (unabhängig davon, ob es sich dabei um soziale, ökonomische, ökologische, biologische oder andere Systeme handelt) gleichen Grundprinzipien unterliegen. Dies gilt sowohl für den Aufbau und den Erhalt von Struktur und Funktion als auch für die unterschiedlichen Zustände von Ordnung, die innerhalb eines Systems in einem Prozess der Selbstorganisation (vgl. Der Prozess der Selbstorganisation komplexer Systeme) entstehen, bestehen und sich gleichzeitig laufend verändern können.

Chaos im Sinne der Komplexitätsforschung meint einen Ordnungszustand, der in komplexen Systemen durch Selbstorganisation entsteht. Ein chaotischer Ordnungszustand ist zwischen dem Bereich der linearen Vorhersagbarkeit und dem absolut zufälligen (stochastischen) Bereich angesiedelt. Man spricht deshalb von „deterministischem Chaos“ und meint damit die Welt der Nichtlinearität, welche in eine festgelegte deterministische Grundregel eines Sich-selbst-Organisierenden eingebunden ist, gleichzeitig aber keine Vorhersagbarkeit der Entwicklung im Detail ermöglicht.

Jedes komplexe System bildet auf seiner Funktionsebene eine Ganzheit, benötigt aber für sein Entstehen und sein Überleben immer auch die Kooperation mit anderen komplexen Systemen. Eine Leberzelle beispielsweise ist auf ihrer Ebene ein solches System. Sie interagiert und kooperiert mit anderen Leberzellen (auch) im Interesse einer gemeinsamen Aufgabe, und durch die Kooperation vieler solcher Leberzellen entsteht (und besteht) selbstorganisatorisch auf einer höheren funktionellen Ebene ein neues komplexes System, eine Leber. Aus der Kooperation vieler solcher Systeme entsteht ein Lebewesen, und die Kooperation vieler Lebewesen bildet soziale Systeme …


Grenzen und Offenheit

Komplexe Systeme haben eine Begrenzung, die entweder struktureller (wie beispielsweise beim Körper eines Menschen oder bei einer Zelle) oder funktionaler Art (z.B. bei einer Familie oder einer anderen sozialen Gruppe) sein kann. Begrenzungen schließen komplexe Systeme allerdings nicht von der Umgebung ab, sondern sind offen für den Austausch von Energie und Information, auf deren laufende Zufuhr (und Abgabe) sie angewiesen sind.


Energie- und Informationsbedarf

Jedes komplexe System benötigt für sein Entstehen und seine Existenz aus seiner Umgebung Energie und Information von entsprechender Quantität und Qualität. Ohne die ständige Zufuhr von adäquater Energie und adäquater Information, für deren Aufnahme und Verarbeitung entsprechende Wahrnehmungs-, Aufnahme- und Verarbeitungssysteme zur Verfügung stehen, kann ein komplexes System weder entstehen noch existieren.


Die Bedeutung von Information für den Prozess der Selbstorganisation

Information ist weder Energie noch Materie, jedoch immer an das Vorhandensein von Materie und Energie gebunden, die als Träger der Information dienen.

  • Beschreibbar ist Information durch eine räumliche und/oder zeitliche Struktur (Syntax), die sie auf einem der Informationsträger (Energie oder Materie) aufweist.
  • Ein weiterer wesentlicher Aspekt von Information ist ihre Bedeutung (Semantik), die ihr von einem spezifischen Empfänger gegeben wird. Dazu muss sie vom Empfänger „dekodiert“ werden, d.h. dem strukturellen Muster wird individuelle Bedeutung gegeben.
  • Ein dritter Aspekt wird als pragmatische Ebene (Pragmatik) bezeichnet und erfasst das Ausmaß der Veränderung (des Systemzustandes) durch die Information. Eine Information hat dann einen hohen Informationsgehalt, wenn sie für uns neu ist.[1]Aus dem semantischen Blickwinkel kann man sagen, dass eine strukturelle, syntaktische Information in einem Dekodierungsprozess in Semantik, d.h. Bedeutung, übergeführt wird. Aus dem pragmatischen … weiterlesen

Ein weiteres wichtiges Phänomen im Kontext von Information ist Emergenz: Information kann durch ihr Vorhandensein auf einer Systemebene eine qualitativ neue Informationsqualität auf einer funktionell höheren Ebene entstehen lassen. Der Garant dafür ist die nichtlineare Dynamik der Selbstorganisation, die dafür sorgt, dass Information (laufend) auf vielfältige Weise miteinander verknüpft wird. Die Information von Atomen verknüpft sich so zu Molekülen und diese wiederum zu Proteinen. Durch die Verbindung von Information entsteht selbstorganisatorisch auf einer höheren Funktionsebene ein qualitativ neues Informationsgefüge mit qualitativ neuer Bedeutung.[2]So wird die Entstehung des menschlichen Bewusstseins als Emergenz betrachtet (vgl. Bewusstseinsforschung nach Antonio R. Damasio).

Ein komplexes System wie unser Körper organisiert sich selbst mit Hilfe der an Materie gebundenen und dadurch kodierten genetischen Information. Sie beinhaltet den Bauplan für Struktur und Funktion des Körpers, benötigt aber zusätzliche Informationen und Energien aus dem sozialen Umfeld. Zu wahrnehmenden und reflektierenden Menschen werden wir nämlich erst durch Information, die aus unserem sozialen Umfeld über die Sinnesorgane in unser Gehirn einfließt und dort in Form von neuronalen Mustern gespeichert wird. Je nachdem, wie die Informationen aus unserem sozialen Umfeld sind, ob freundlich und lebensbejahend oder irritierend und traumatisierend, ändert sich sowohl unsere Wahrnehmung als auch unsere kognitiven und emotionalen Schlussfolgerungen, die in der Folge unser Reagieren und Handeln entsprechend verändern.

Information, die unsere Sinnesfilter passiert und unser Gehirn erreicht, wird dort kodiert, mit bereits gespeicherte Information abgeglichen und erhält eine ganz individuelle und situationsbezogene emotionelle Bedeutung. Sich selbst organisierendes Verknüpfen von neuer und bereits gespeicherter Information ist die Basis unseres Denkens, Fühlens, Planens und Tuns. Über den Austausch mit den uns umgebenden komplexen Systemen wirken unsere Haltungen und Handlungen auch wieder in unser soziales Umfeld zurück. Unser System erhält also laufend Information von anderen Systemen, gibt dieser Information Bedeutung, reagiert auf diese Information und erhält wieder Information zurück. In diesem ständigen Rückkoppelungsprozess zwischen uns und unserem Umfeld wird (durch Transfer von Information) in unserem Gehirn Information bestätigt, verändert oder neu verknüpft.[3]Information, die wesentlich unser Lebensgefüge prägt, stammt größtenteils von umgebenden menschlichen Systemen, die uns emotional sehr nahe stehen und dadurch wichtig sind.


Die sensible Abhängigkeit von Anfangsbedingungen

Sich selbst organisierende Prozesse sind extrem empfindlich gegenüber und abhängig von den Anfangsbedingungen. Selbst kleinste Veränderungen in den Anfangsbedingungen können bei komplexen Systemen unvorhersagbare Veränderungen im Ablauf verursachen.[4]Bekannt geworden ist der so genannte „Schmetterlingseffekt“: Selbst aus der geringen Menge an Luft, die ein Schmetterling durch einen Flügelschlag bewegen kann, kann – bei einer entsprechend … weiterlesen Solche Prozesse entziehen sich grundsätzlich jeglicher Berechnung und Vorhersage[5]Die Nichtvorhersagbarkeit liegt darin begründet, dass es prinzipiell unmöglich ist, wie Heisenberg mit seiner Gesetzmäßigkeit der Unschärferelation nachgewiesen hat, die Ausgangsbedingungen … weiterlesen, und das macht die nicht vorhersagbare individuelle Entwicklung des Menschen aus, gibt ihm seine Individualität.


Nichtlineare Rückkoppelung und Wechselwirkung

Um die Entstehung von Zuständen in komplexen Systemen zu verstehen, sucht man nicht nach einer Ursache (die es letztlich nicht geben kann), sondern nach den wesentlichen Parametern, die in nichtlinearer Wechselwirkung einen spezifischen Systemzustand entstehen lassen. Die Dynamik dieses Geschehens beruht auf der nichtlinearen Wechselwirkung von Systemparametern und einem sich ständig wiederholenden Rückkoppelungsprozess.

Jede nichtlineare Wechselwirkung verursacht ein Ergebnis, das nicht Folge einer einzigen Ursache ist, sondern Folge des Zusammenwirkens mehrerer Parameter. Das Ergebnis dieser in jedem Moment ablaufenden Wechselwirkungen wird immer auch rückgekoppelt. Das bedeutet, dass jede nichtlineare Wechselwirkung immer nur auf Basis der Ergebnisse der vergangenen Abläufe erfolgt. Das Ergebnis jeder Interaktion ist zugleich der Ausgangspunkt für die nächste nichtlineare Wechselwirkung – womit alles bisher Geschehene in den weiteren Prozess mit einfließt und ihn mitbestimmt.

 

Der Zeitfaktor

Prozesse der Selbstorganisation in komplexen Systemen beginnen und enden. Menschliche Systeme beginnen ihren Lebensprozess mit der Zeugung und beenden ihn mit dem Tod. Jedes dieser Systeme weist eine ganz individuelle Lebenszeit auf.

Der irreversible Zeitfaktor beschreibt den nicht umkehrbaren Entwicklungsprozess, in den alle komplexen Systeme eingebunden sind. Jede Struktur und Funktion besteht nur vorübergehend.[6]Die theoretische Grundlage der Irreversibilität ist im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik festgehalten, der besagt, dass alles einen Zustand der Entropie (Unordnung) anstrebt. Zugleich aber existiert auch eine reversible Zeit, denn stabile Systeme können nur in einem zyklischen Zeitprozess bestehen. Die in ihnen enthaltene Information muss ständig durch einen sich wiederholenden Prozess bestätigt werden.[7]Wird ein solcher Zyklus beendet, dann zerfällt dessen Struktur und Funktion und die darin enthaltene Energie und Materie (und die in beiden enthaltene Information) werden frei. Letztlich verläuft der Prozess der Selbstorganisation in komplexen Systemen im Zusammenwirken beider Zeitmodi, wobei die reversiblen Muster laufend auf- und abgebaut werden. Ein System kann nur dann stabil sein, wenn es änderungsfähig ist. Es sichert seine Stabilität über die Anpassung an den irreversiblen Entwicklungsprozess.


Das Prinzip der Resonanz

Rhythmisch schwingende Systeme treten mit anderen rhythmisch schwingenden Systemen in Resonanz. So ist beispielsweise der Atemrhythmus mit dem Herz-Kreislauf-Rhythmus in Resonanz, wobei sich die Koppelungsfrequenz ändert je nachdem, ob die Systeme in Ruhe oder unter Belastung sind (vgl. Chronobiologie und Chronomedizin).

Resonanz ist dadurch gekennzeichnet, dass Schwingungen miteinander in Wechselwirkung treten. Sie können sich in einem nichtlinearen Wechselspiel anregen oder abschwächen. Alle stabilen Systeme sind Überlagerungen von Schwingungen, die miteinander in Resonanz stehen. Durch Resonanz wird etwas bewirkt, zum Beispiel eine neue Schwingungsfrequenz, eine chemische Reaktion, eine mechanische Veränderung, eine biologische Reaktion oder auch eine psychosoziale Interaktion.


Fraktale Muster

Fraktale sind geometrische Figuren unterschiedlichster Art, in denen sich ein bestimmtes Muster im stets kleineren Maßstab wiederholt. Sie sind charakterisiert durch Selbstähnlichkeit. Fraktale Muster finden sich in allen komplexen strukturellen, biologischen wie auch psychosozialen Systemen.


Fluktuationen

Unter Fluktuationen versteht man Veränderungen, die in einem Prozess spontan und unvorhersagbar auftreten. Fluktuationen haben eine wichtige Funktion für die Aufrechterhaltung der Systemstabilität. Geringfügige Unregelmäßigkeiten oder Störungen von innerhalb oder außerhalb eines komplexen Systems ermöglichen aufgrund der ständigen nichtlinearen Verstärkung wie auch Dämpfung der laufend auftretenden Unterschiede die Herausbildung und Festigung von Sturkuren und Mustern aller Art. Fluktuation bedeutet Veränderung und ermöglicht die flexible Anpassung und damit Adaption an neue, veränderte innere oder äußere Bedingungen. Diese Fähigkeit ist für das Überleben jedes Systems von zentraler Wichtigkeit.


Autokatalyse

Durch genetisch fixierte Information stehen einem komplexen System Strategien zur Verfügung, die es ihm ermöglichen, aus bereit gestellter Energie ständig alle „Einzelteile“ seines Systems bei Bedarf zu ersetzen und zu erneuern. Mit Hilfe der Funktion der Autokatalyse ist es deshalb möglich, Struktur und Funktion des Systems (relativ) stabil zu halten.


Quelle

Karl Toifl – Lebensfluss zwischen gesund und krank. Facultas Verlag, 2004

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Aus dem semantischen Blickwinkel kann man sagen, dass eine strukturelle, syntaktische Information in einem Dekodierungsprozess in Semantik, d.h. Bedeutung, übergeführt wird. Aus dem pragmatischen Blickwinkel bedeutet Information einen Gewinn an Wissen sowie eine Verminderung von Ungewissheit (und die Übermittlung der Information verändert damit auch den Zustand des Empfängers).
2 So wird die Entstehung des menschlichen Bewusstseins als Emergenz betrachtet (vgl. Bewusstseinsforschung nach Antonio R. Damasio).
3 Information, die wesentlich unser Lebensgefüge prägt, stammt größtenteils von umgebenden menschlichen Systemen, die uns emotional sehr nahe stehen und dadurch wichtig sind.
4 Bekannt geworden ist der so genannte „Schmetterlingseffekt“: Selbst aus der geringen Menge an Luft, die ein Schmetterling durch einen Flügelschlag bewegen kann, kann – bei einer entsprechend instabilen Wetterkonstellation – in räumlich und zeitlicher Entfernung ein Wirbelsturm entstehen.             
E.N. Lorenz (1978) konnte nachweisen, dass bereits ein Satz von drei nichtlinearen Gleichungen, die gekoppelt sind, als nichtlinear aufeinander einwirken, zu chaotischen (d.h. nicht vorhersagbaren) Entwicklungslinien führt ( zitiert nach K. Toifl).
5 Die Nichtvorhersagbarkeit liegt darin begründet, dass es prinzipiell unmöglich ist, wie Heisenberg mit seiner Gesetzmäßigkeit der Unschärferelation nachgewiesen hat, die Ausgangsbedingungen unendlich genau zu bestimmen.
6 Die theoretische Grundlage der Irreversibilität ist im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik festgehalten, der besagt, dass alles einen Zustand der Entropie (Unordnung) anstrebt.
7 Wird ein solcher Zyklus beendet, dann zerfällt dessen Struktur und Funktion und die darin enthaltene Energie und Materie (und die in beiden enthaltene Information) werden frei.