Innere Techniken (Wilfried Rappenecker)

Anfänger des Shiatsu erzielen in ihren Behandlungen oft erstaunliche Wirkungen. Der Anfängergeist, der dies ermöglicht, geht während einer Shiatsu-Ausbildung zumeist verloren – das scheint ein notwendiger Schritt in der Entwicklung zu sein. Von nun an bewirken die Behandlungen oft weniger Spektakuläres. Fortschritte in der therapeutischen Wirksamkeit hängen von der zunehmenden praktischen Erfahrung und von der Fortentwicklung der Persönlichkeit des Behandlers ab – und, ob es gelingt, den Anfängergeist wiederzugewinnen.Dabei hat ein zunehmendes theoretisches Verständnis – so wichtig es auch sein mag – lediglich eine relative Bedeutung. Auch eine größere technische Gewandtheit steuert nur einen Teil zur Fortentwicklung bei. Wichtiger noch diese beiden, erscheint mir ein anderer Aspekt von Erfahrung: eine zunehmend klare und gerichtete Aufmerksamkeit auf Seiten des Behandlers. In diesem Kurs wird es darum gehen, mit einer solchen klaren Aufmerksamkeit vertraut zu werden und in dieser Aufmerksamkeit zu beginnen, den Meridian wahrzunehmen.


Der Tiefenrhythmus

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Zentrales Thema dieses Kurses wird die Entdeckung der wirklichen Tiefe sein, in der der Meridian verläuft und in der Behandlung dort zu bleiben. Wenn man ihn in dieser Tiefe berührt, verändert sich der Behandlungsrhythmus. Für Anfänger des Shiatsu ergibt sich der Behandlungsrhythmus aus dem Aufeinanderfolgen von Einsinken, Herausgehen und Weitergehen. Jede dieser Phasen hat ihre eigene Bedeutung in einer Shiatsu-Behandlung. Wird sie missachtet, wird die Behandlung Schaden leidenWerden die drei Phasen als gleich wichtig erachtet, ergibt sich ein gleichmäßiger Rhythmus, der es leicht macht, den Einsatz des eigenen Körpers im Shiatsu zu üben.

Meridianarbeit bedeutet jedoch, unzweideutig mit dem Meridian zu arbeiten. Mit dem Meridian zu arbeiten bedeutet, mit der Aufmerksamkeit wirklich dort zu sein. Werden die Phasen des Einsinkens, Heraus- und Weitergehens betont, kann man sich nicht mit der Aufmerksamkeit im Meridian befinden. Man befindet sich eben im Einsinken, Heraus- und Weitergehen.

Aus diesem Grunde führen wir die Phase des Haltens ein. Wenn ich Kontakt mit dem Meridian in der Tiefe aufgenommen habe, verweile ich dort. Dieser Augenblick ist der wichtigste im Meridian-Shiatsu. Hier finden die entscheidenden energetischen Bewegungen statt. Darum ist diese Phase des Haltens wichtiger als die anderen drei.

Ja, Einsinken, Heraus- und Weitergehen sind nur da, um das Halten des Kontaktes in der Tiefe zu ermöglichen, hieraus ziehen sie ihre Existenzberechtigung. So wichtig es sein mag, sie nicht zu vernachlässigen, haben sie doch keinerlei eigene Bedeutung. Worauf es ankommt, ist das entspannte Halten des Kontaktes in der Tiefe.

Wird diese Phase des Haltens zur wichtigsten in der Meridianarbeit, so entsteht ein grundlegend anderer Behandlungsrhythmus. Der Kontakt in der Tiefe führt. Das geht so weit, dass die behandelnde Person mit ihrer Aufmerksamkeit die Tiefe gar nicht mehr verlässt. Der Daumen muss heraus-, weitergehen und wieder einsinken, der Geist aber bleibt im Meridian.

Das ist das Thema dieser drei Tage. Anfangs mag der Tiefenrhythmus schwierig und ungewohnt erscheinen. Es mag der Eindruck entstehen, als müsse man Shiatsu völlig neu erlernen. In gewisser Weise trifft dies auch zu. Wenn Geist und Körper sich erst einmal an den neuen Rhythmus gewöhnt haben, wird es viel einfacher werden und es wird der Raum frei, den Kontakt in der Tiefe zu erforschen.

Die Bedeutung der Arbeit mit beiden Händen wird deutlicher, denn es ist die Kommunikation beider Hände miteinander, die die Verbindung der beiden berührten Stellen entstehen lässt. Durch diese Arbeit wird der Meridian deutlicher wahrnehmbar. Das wiederum ist die Voraussetzung dafür, noch konkreter, feiner und leichter mit dem Meridian in Kontakt zu treten.

Unterstützung finden wir in dieser Arbeit in drei Übungen, die es unserem Körper ermöglichen, energetischen Kontakt aufzunehmen. Die erste dieser Übungen dient dazu, den Meridian in der Tiefe zu entdecken. Die beiden anderen stellen innere Techniken dar. Wenn wir sie ausüben, verändern sie, ohne dass wir etwas besonderes dafür tun müssten, unser eigenes energetisches System in der Weise, das unsere Hände mit dem energetischen Gebilde des Meridians in Verbindung treten können.

 

Übung: Den Meridian “In der Tiefe berühren” (eine Übung, um die Tiefe zu entdecken)

Shiatsu-Lernende und auch -Praktizierende glauben nicht selten, dass ihr Shiatsu schon damit Meridian-Shiatsu ist, wenn sie mit dem Daumen den Verläufen der Meridiane folgen. Ich selbst habe das früher auch so angenommen. Das Lernen mit verschiedenen Lehrern und vor allem die Erfahrungen in der Praxis haben mir dann gezeigt, dass diese Art von Meridian-Shiatsu nur eine müde Ahnung von dem gibt, was Meridianarbeit wirklich bedeuten kann.

Mindestens ebenso wichtig wie die genaue Kenntnis der Meridianverläufe ist eine klare Aufmerksamkeit im Meridian, wenn ich ihn berühre. Diese Aufmerksamkeit entsteht aus der Wahrnehmung der Qualität des Meridians, man könnte auch sagen, sie ergibt sich daraus, dass man den Meridian in der Berührung quasi “sieht”.

Meridiane sind sehr feine energetische Gebilde, deren Präsenz in der Behandlung durch unsere Aufmerksamkeit um ein vielfaches verstärkt werden kann. Diese weite und klare Aufmerksamkeit erst macht sie klar wahrnehmbar und wirklich berührbar. Es leuchtet ein, dass Meridian-Shiatsu um so wirksamer werden kann, je deutlicher man einen Meridian wahrnimmt und ihn bewußt und gezielt zu berühren vermag.

Nun ist das mit dem “Sehen” der Meridiane so eine Sache. Je mehr man sich bemüht und je angestrengter man hinschaut, um so mehr entziehen sie sich – wie andere energetische Muster auch – dem suchenden Blick. Der ist am besten dran, der die energetische Wahrnehmung des Meridians “zufällig” entdeckt, der quasi darüber stolpert. Zwei wesentliche Voraussetzungen sind hierfür zu nennen: reichlich Praxis und ein ernsthaftes Interesse an der Sache.

Die folgende kleine Übung kann den Einstieg in die Wahrnehmung von Meridianen erleichtern. Sie macht diese Voraussetzungen dabei nicht überflüssig.

Am besten, man praktiziert sie zunächst in kleinen Gruppen von 3-5 Personen, bevor man sie in den eigenen Behandlungen ausprobiert. In Gruppen von 3-5 schauen nämlich 1-3 Personen zu. Und als Zuschauender sieht man mehr als wenn man selber behandelt. Dies scheint ein grundsätzliches Phänomen energetischer Wahrnehmung zu sein: je näher man am Geschehen dran ist, um so weniger vermag man zu “sehen”. Für unsere Übung ist ein Abstand der Zuschauenden von 1,5 bis 2,5 Metern optimal. Stehend ist es leichter zu “sehen”.

Hilfreich ist es, die Übung mit einem “lauten” Meridian zu beginnen, d.h., mit einer Meridianqualität, die auch für Ungeübte relativ leicht wahrnehmbar ist. (Jede Meridian- oder Organqualität kann “laut” oder “leise” sein, das hängt von ihrem Schwingungszustand ab.) Als unter normalen Umständen typische “laute” Qualitäten bieten sich der Magen, Gallenblasen- und der Blasenmeridian vor allem in ihren Verläufen am Bein an. Perikard oder Dünndarm am Arm sind andere Beispiele.


Etwas fühlt sich anders an

Nachdem die behandelnde Person sich für einen Meridianabschnitt entschieden hat, wählt sie eine einfache Behandlungsposition, lokalisiert den Meridian entsprechend seines theoretischen Verlaufes und sinkt dann mit dem Daumen oder den mittleren Fingern der Hand aufmerksam ein.

Die Zuschauenden werden nun in unterschiedlicher Tiefe des Einsinkens eine Veränderung wahrnehmen. Es ist schwer zu sagen, welcher Natur diese Veränderung ist. Etwas fühlt sich einfach anders an. Es ist nicht eigentlich zu sehen. Man spürt etwas in seinem Körper oder im Raum. Es ist sehr subtil, gleichzeitig gar nicht etwas besonderes. Wenn man es entdeckt, hat man nicht selten den Eindruck, es schon lange zu kennen. Und das trifft ja auch zu. Alle diese Dinge nehmen wir auch im Alltag fortwährend wahr, nur sind wir uns dessen selten bewusst. Es fühlt sich etwas anders an, weil die berührende Person dem Meridian näher kommt. Etwas salopp könnte man vielleicht sagen, sie kratzt ihn an der Oberfläche.

Der Kontakt im “Zentrum” des Meridians ist dann vielfach “leiser” als die Reaktion auf den Kontakt an der “Peripherie”. Er kann für den Betrachtenden aber auch deutlicher ausfallen, das hängt vom energetischen Zustand dieser Stelle ab. Grundsätzlich kann man sagen, dass es sich für Zuschauende wie für Behandelte (und mit mehr Erfahrung sicher auch für die Behandelnden) gut und befriedigend anfühlt, wenn das “Zentrum” eines Meridians oder eines Tsubos erreicht wird. Und es kann ausgesprochen frustrierend sein, wenn die behandelnde Person nicht dorthin kommt.

Hier gibt es jetzt ein sehr interessantes Phänomen zu beobachten: Ist die berührende Person angespannt (z.B. in Schultern und Armen), so hat man als Beobachter nicht selten das Gefühl, dass der Meridian nicht wirklich erreicht wird. Und das selbst dann, wenn die BehandlerIn tief genug eingesunken ist. Wird sie jedoch in ihren Schultern und Armen und darüber hinaus im ganzen Körper weit und ruht gleichzeitig mit ihrer entspannten Aufmerksamkeit ganz in der berührten Stelle, so wird die wahrnehmbare Reaktion zwar leiser werden. Gleichzeitig hat der Beobachter zunehmend das Gefühl, das diese Berührung ein “Treffer” ist.


Jede Berührung löst eine energetische Reaktion aus

Wie lassen sich alle diese Beobachtungen erklären? Ganz offensichtlich löst jede Berührung des Körpers eine energetische Reaktion aus, die sich ähnlich wie Schall- oder Lichtwellen im Raum ausbreitet. Diese Wellen treffen auch auf die sich in diesem Raum befindenden Personen, durchdringen sie teilweise und sind aus diesem Grunde von diesen wahrnehmbar. Meist spürt die Zuschauende Person die energetischen Reaktionen im eigenen Körper.

Die solche Reaktionen auslösende Berührung kann eine körperliche z.B. mit unseren Händen sein. Energetische Strukturen können jedoch auch mit dem Geist berührt werden, der so eine deutlich wahrnehmbare Reaktion auszulösen vermag. Im Meridianshiatsu arbeiten wir mit dem Körper und mit dem Geist. Shiatsu ist so verstanden immer auch eine Art von Stillem Qi Gong.

Nimmt die Hand des Behandlers Kontakt mit einem Meridian an dessen “Oberfläche” auf, so kommt es zunächst zu einer Art Schwellenreaktion. Sie zeigt an, dass die Berührung eine stärkere energetische Veränderung auslöst.

Mit mehr Erfahrung wird man in solchen Übungen feststellen, dass es beim Näher kommen mehrere solcher stufenweisen “Änderungen” gibt. Diese sind um so deutlicher, je klarer die Aufmerksamkeit des Behandlers Kontakt zum Meridian aufgenommen hat. Ist dieser mentale Kontakt stark, so kann eine erste “Schwellenreaktion” bereits außerhalb des physischen Körpers wahrnehmbar sein, bevor die behandelnde Hand die Körperoberfläche überhaupt berührt.

Diese “äußere” Reaktion ist vergleichsweise yang, d.h. relativ deutlich. Uns sie ist um so deutlicher, je ausgeprägter die berührte Stelle positiv (d.h. jitsu) gepolt ist. Sie kann aber auch bei einem Kyo-Zustand ausgeprägt sein. So viel wie ich bisher über die Berührung im “Zentrum des Meridians” verstehe, scheint die dadurch ausgelöste energetische Reaktion von einer anderen Natur zu sein. Im Vergleich zur Schwellenreaktion an der Oberfläche ist sie yin. Sie ist leiser, gleichzeitig aber häufig kraftvoller.

Auch wenn es sich bei der energetischen Wahrnehmung mehr um ein Spüren oder Fühlen im eigenen Körper handelt als um ein Sehen, sind doch die Augen bei dieser Wahrnehmung von großer Wichtigkeit. Schaut man mit entspanntem Blick dorthin, wo gearbeitet wird, sind die Reaktionen sehr viel leichter wahrnehmbar als bei geschlossenen Augen. Es scheint so, als seien die Augen über das optische Organ hinaus Fokussierungs-Organe unseres Geistes zu sein. Sie ermöglichen es uns, Kontakt mit energetischen Strukturen herzustellen. Um das Beschriebene mit geschlossenen Augen “sehen” zu können, braucht es allerdings mehr Übung. Blinde können das oft.


Jede Stelle zeigt ein unterschiedliches Muster auf Berührung

Die beobachteten Reaktionen können nun sehr unterschiedlich sein. Abhängig vom energetischen Zustand der berührten Stelle kann die erste “periphere” Reaktion deutlich wahrnehmbar an der Hautoberfläche bereits beim ersten leichten Berühren erfolgen (z.B. im Falle eines ausgesprochenen Jitsu-Zustandes) oder relativ schwach erst in der Tiefe (z.B. bei einem kyo-Zustand des Meridians an dieser Stelle). Die Berührung im Zentrum kann ausgesprochen still und doch sehr kraftvoll sein (z.B. in einem kyo-Tsubo) bis hin zu recht “laut” und vordergründig (z.B. in einer ausgesprochenen Jitsu-Stelle).

Wenn man noch keine Erfahrung in dieser Art der Wahrnehmung sammeln konnte, mag man zunächst den Eindruck haben, gar nichts mitzubekommen. Das wird sich jedoch rasch ändern. Diese Übung ist so einfach, dass den Zuschauenden meistens bereits beim ersten Ausprobieren erfahren, dass sie die Reaktionen spüren können.

Der nächste Schritt ist dann, nicht als Zuschauender sondern als Behandelnder selber die Reaktionen wahrzunehmen. Das ist etwas schwieriger, wird in dieser Übung nicht zuletzt mit der Unterstützung der anderen jedoch möglich. Wer interessiert daran ist, mehr zu entdecken, wird in der eigenen Praxis die Unterschiede von Stelle zu Stelle, Meridianabschnitt zu Meridianabschnitt untersuchen und schließlich lernen, in der Behandlung darauf zu reagieren.

Für das Weiterforschen in den eigenen Behandlungen bietet es sich an, 5 bis höchstens 10 Minuten während einer Behandlung diese Übung des aufmerksamen Einsinkens, des ersten Kontaktes mit dem Meridian und des Berührens in der Tiefe zu üben. Mit mehr Erfahrung kann man dann diese Aufmerksamkeit an jeder beliebigen Stelle in einer Behandlung einsetzen. Schließlich wird es so vertraut, dass man gar nicht mehr anders Shiatsu geben möchte.

Um wirklich mit der Meridianenergie zu arbeiten, braucht es zunächst das Interesse daran, den Meridian in seinem Zentrum zu berühren. Nicht nur die Hände, auch der Geist sollte bereit sein, dort zu berühren. Das kann man mit dieser Übung lernen.

Zweitens braucht es die Bereitschaft, mit energetischen Mustern in Kontakt zu treten. Das erfordert innere Weite und Leichtigkeit. Ein solcher Innerer Zustand auf Seiten des Behandlers wird erleichtert durch Innere Techniken wie dem Völlig Freien Ki-Fluss oder der Ki-Projektion.


Innere Techniken (Übungen, um Meridiane besser zu verstehen)

Eine entspannte und gerichtete Aufmerksamkeit wird vor allem durch die Shiatsu-Praxis selber gefördert. Unterstützt werden kann dieser Prozess z.B. durch regelmäßiges Praktizieren von Qi Gong, Tai Qi, durch Yoga, Atemübungen, Tanz usw. oder Meditationserfahrung. Auch kann er durch bestimmte Übungen der Aufmerksamkeit gefördert werden. Es sind dies meist recht einfache Übungen. Allerdings erfordern sie etwas Disziplin und Beharrlichkeit, will man sie in einer Shiatsu-Behandlung für länger als nur einen Atemzug einsetzen.

Für solche Übungen der gerichteten Aufmerksamkeit möchte ich den Begriff „Innere Techniken” vorschlagen. Zum einen nämlich wendet sie der Praktizierende still im Inneren an, von außen ahnt nur der geübte Beobachter, dass sich da etwas tut. „Techniken” möchte ich sie nennen, weil sie gleich wie körperliche Shiatsu-Techniken gezielt eingesetzt und präzise durchgeführt werden können und auch sollten.

Schon beim erstmaligen Anwenden ermöglichen Innere Techniken oft interessante bis verblüffende Aha-Erlebnisse. Angewandte Shiatsu-Techniken fühlen sich anders an und wirken anders. Ihr wahres Potential jedoch entfalten Innere Techniken – ähnlich beispielsweise dem Qi Gong – mit Jahren beharrlichen und interessierten Übens. Dann öffnen sich innere Grenzen im Behandler, das Verständnis von Ki und wie wir im Shiatsu damit arbeiten wird gefördert, die energetische Wahrnehmung wird entwickelt u.s.w.

Im folgenden möchte ich zwei einfache Innere Techniken beschreiben:

  • Technik des völlig freien Ki-Flusses
  • Technik des ausgerichteten Ki (Ki-Projektion)


Die Technik des völlig freien Ki-Flusses

Werden Drucktechniken im Shiatsu lediglich mechanisch ausgeführt, ist also – bewusst oder unbewusst – keine Vorstellung von Ki mit im Spiel, so wird Ki-Bewegung im Normalfall zu einem wesentlichen Teil für die Dauer des ausgeübten „Druckes” quasi festgehalten. Energetische Bewegungen finden unter diesen Umständen zu einem großen Teil erst nach Herausnahme des Gewichtes als Reaktion statt. Es ist aber auch möglich, bereits während der Berührung Ki-Bewegungen zu initiieren und zu beeinflussen. Dies kann auf verschiedene Weise geschehen. Eine dieser Möglichkeiten stellt die Technik des völlig freien Ki-Flusses dar.

Die Technik selber ist denkbar einfach: man stellt sich vor, dass Ki sich unter dem Daumen, mit dem man arbeitet (der Handfläche, dem Ellenbogen, dem Knie usw.), völlig frei bewegen kann. Die Technik des völlig freien Ki-Flusses eignet sich besonders für die Arbeit mit Meridianen. Schließlich ist es ja die Aufgabe der Meridiane, Ki zu leiten. Der Verlauf des jeweiligen Energiekanals gibt unserer Vorstellung eine klare Ausrichtung: wir geben dem Ki den Raum, sich im Verlauf des Meridians – und zwar in beide Richtungen – frei zu bewegen. Mit dieser Übung unterstützen wir also die Funktion eines Meridians.

Auch in einem nicht meridianbezogenen lokalen Shiatsu kann diese Innere Technik die Arbeit befruchten. Im Unterricht stelle ich sie gerne am Nacken vor. Der Nacken als Verbindungsglied zwischen Kopf und Rumpf lässt ihre Wirkung häufig deutlicher werden als anderswo. Dazu eignen sich alle jene Techniken, die den Nacken auf aufgestellten Fingerkuppen ruhen lassen. Zunächst lasse ich eine solche Nackentechnik mechanisch ohne besondere Vorstellungen ausführen, dann durch die Vorstellung des freien Ki-Flusses quasi aktivieren.

Beide Techniken, die „rein physische” und die durch Vorstellung aktivierte, haben unterschiedliche Wirkungen, wie die behandelten Personen immer wieder bestätigen. Häufig wird die rein physisch ausgeführte Technik im Vergleich zur aktivierten Technik als spitz, relativ schmerzhaft, lokal wirkend, drückend, einengend, eindringend o.ä. beschrieben. Aktiviert durch die beschriebene Vorstellung wird die gleiche Technik deutlich anders empfunden z.B. als weiter reichend, weicher, weniger drängend, ein Strom sei zu spüren, man fühle sich mehr verbunden, aufgehoben u.s.w.


Wirkungen auf die behandelnde Person

Man kann mit solchen Techniken quasi zaubern und sich selbst und Klienten beeindrucken, weil es sich ja ganz anders und gut anfühlt. Jedoch ist die Wirkung einer einzelnen Technik in einer Gesamtbehandlung nicht von so großer Bedeutung. Wichtiger als die Wirkung beim Klienten ist mir letzten Endes die Wirkung auf die behandelnde Person.

So berichten behandelnde Personen z.B., dass ihr Daumen warm geworden sei. Sie stellten fest, dass sie in der ersten, „mechanischen Phase” viel zu fest gedrückt hatten, dass sie ihre Position verändern mussten, um die Technik gut auszuführen oder dass sie sich ihrer Blockaden in verschiedenen Gelenksbereichen bewusst wurden u.ä.m. All diese Phänomene beruhen auf dem Umstand, dass eine lebendige Vorstellung in dieser Übung nur möglich wird, wenn die behandelnde Person zumindest einige wesentliche Blockaden in ihrem Körper aufgibt.

Faszinierenderweise lässt das Bestreben, ein klares Bild des freien Ki zu erlangen, häufig ganz von selber solche inneren Blockaden sich lösen. Es ist wie ein Geschenk, das dem Übenden als eine Belohnung in den Schoß fällt: plötzlich fühlt der eigene Körper sich leichter und freier an, man stellt z.B. fest, dass man an dieser und jener Stelle, an diesem oder jenem Gelenk immer festhält, wenn man Shiatsu macht. Er / sie beginnt plötzlich zu verstehen, dass es das Festhalten im eigenen Körper ist, welches das Ki im Klienten festhält, und dass das Ki im Klienten um so freier fließen kann, je freier es im Behandler sein darf.

Bei beharrlichem und entspanntem Üben wird sich dieser Effekt wieder und wieder einstellen und der Körper gewinnt die Fähigkeit, auch ohne diese Vorstellung die ausgeübten Techniken aus seiner Tiefe heraus frei entstehen zu lassen. Selbstkontrollierende Gedanken wie „Ich muss in meinen Schultern (Ellenbogen, Daumen, unteren Rücken, Zwerchfell etc.) loslassen” werden überflüssig!

Das Freiwerden des Körpers ist auch eine Voraussetzung für das Bewusstwerden des Haras. Man kann sich nämlich jahrelang stetig auf sein Hara konzentrieren ohne dass dieses lebendiger und stärker wird. Erst wenn Ki in unserem ganzen Körper langsam freier wird, kann uns der Zustand und die Bedeutung unseres Haras bewusst werden, kann das Hara an Kraft gewinnen, und wir können beginnen, damit zu arbeiten.


Ein paar Dinge, die zu beachten sind

Bei der Durchführung der Inneren Technik gibt es nun ein paar Dinge zu beachten. So neigt man beispielsweise dazu, mit der Aktivierung durch die beschriebene Vorstellung den physischen Kontakt zu lösen, ein wenig aus der Berührung heraus zu gehen. Das ist gut so und erwünscht, wenn es Ausdruck der Veränderungen im Inneren des Behandlers ist. Nicht selten ist es aber auch ein Ausweichen. Grundsätzlich gilt, dass die Anwendung Innerer Techniken äußere Techniken nicht ersetzt, sondern sie bereichern soll. Der physische Kontakt sollte darum in etwa aufrecht erhalten bleiben.

Shiatsu ist nämlich Körperarbeit und Energiearbeit in einem. Es ist leicht, physische Techniken mechanisch auszuführen, wie man es zu Beginn einer Shiatsu-Ausbildung lernt. Noch leichter ist es, mit energetischen Mustern in Kontakt zu kommen, wenn die Berührung leicht ist oder körperliche Berührung gar nicht stattfindet. Es ist aber nicht so leicht und erfordert Übung und Erfahrung, energetische Arbeit mit dem Einsatz des Körpergewichtes oder anderer physischer Techniken zu verbinden. Ich meine, dass dies eine der ganz großen Herausforderungen ist, die Shiatsu stellt.

Weiter mag es sein, dass sich insbesondere zu Beginn unser Geist gegen die klare Vorstellung wehrt. Es braucht dann eine gewisse Disziplin, die Übung fortzuführen und immer wieder die Vorstellung aufzubauen. Es braucht aber auch Verständnis für den eigenen Geist, der sich ganz zu Recht nicht so ohne weiteres in eine bestimmte Richtung zwingen lässt. Es sollte ein Spiel bleiben, ähnlich wie Qi Gong (im Grunde genommen ist dies ja eine Art des Stillen Qi Gong), das am besten mit leichtem, weitem Geist und einem inneren Lächeln geübt wird.

Es erfordert Beharrlichkeit und Verständnis für die eigenen „Schwächen” (die genau besehen nicht nur Schwächen sind), um auf diesem Weg fortzuschreiten. Ich empfehle unseren Schülern, diese Technik zu Anfang innerhalb einer Behandlung für nur 5 bis 10 Minuten zu üben. Zum einen ist es nicht gut, den eigenen Geist zu foltern und für lange Zeit in eine bestimmte Richtung zu zwingen. Dies ist der sicherste Weg, den Spaß an der Sache zu verlieren. Zum anderen vermag diese Technik, wenn sie zu Beginn sehr langsam ausgeführt wird (und das notwendigerweise: es dauert einfach bis die Vorstellung lebendig ist), den Fluss und den Rhythmus einer Behandlung zu zerstören. Ebenso wichtig ist, dass ein Anfänger dieser Übung die Verbindung zum Klienten zu verlieren droht, wenn sein Geist über einen längeren Zeitraum auf solche Vorstellungen konzentriert ist statt die Situation des Behandelten im Blick zu haben.

Drittens sollte der Kontakt in einem einzelnen Punkt / Bereich so lange aufrechterhalten bleiben, bis die Vorstellung des freien Ki-Flusses ganz lebendig geworden ist. Lebendig werden heißt nichts weiter, als dass sie leicht ist und sich gut und richtig anfühlt. Sobald das Bild lebendig wird, ist der Ki-Fluss befreit und der Behandler kann weiter gehen. Lebendig werden heißt auch, dass wir dieses Bild nicht erzwingen können, denn die Folge hiervon wäre nicht Lebendigkeit, sondern Starre. Starre aber würde einem Fluss entgegen stehen. Es genügt, sich den freien Fluss mit leichtem aber beharrlichem Geist vorzustellen. Diese Übung bietet die Möglichkeit, die Bedeutung von „Absichtslosigkeit” im Shiatsu zu erfahren. Absichtslosigkeit ist Ausdruck der Freiheit in unserem eigenen Körper.


Freier Ki-Fluss und Kyo- & Jitsu-Bereiche

Es wird einige (wenige) Stellen geben, an denen sich eine lebendige Vorstellung nur zögernd oder gar nicht einstellen will. Wir können das so verstehen, dass dieser Bereich eine freie Ki-Bewegung nicht möchte und sich quasi dagegen wehrt. Abgesehen von dem Fall einer mangelnden Präsenz seitens des Behandlers wird an einer solchen Stelle zumeist ein ausgeprägtes Kyo oder Jitsu vorliegen. Solche Reaktionen sind hilfreich für das Verständnis für Kyo und Jitsu. Darum will ich hier kurz darauf eingehen:

Ki hat immer die Sehnsucht, sich frei zu bewegen. Unsere Arbeit wird darum auch bei mäßig starkem Jitsu in der Regel willkommen sein – und sich für Behandler und Behandelten gut und richtig anfühlen. Bei einem sehr ausgeprägten Jitsu-Zustand ist dies aber häufig nicht so. Die beschriebene Innere Technik an einer solchen Stelle einzusetzen, ist deswegen so schwierig, weil das dort konzentrierte Ki es gewissermaßen nicht einsieht, warum es sich bewegen sollte. Schließlich ist es ja in diesem Zustand, weil es vom Körper die Aufgabe bekommen hat, an dieser Stelle reichlich vorhanden zu sein und sich nicht so viel zu bewegen. Mit unserer Vorstellung arbeiten wir dann einem körpereigenen Auftrag entgegen – und das ausgeprägte Jitsu fühlt sich stark genug, der Präsenz des Behandlers zu widerstehen.

In einem solchen Fall mag der Eindruck entstehen, als tue sich gar nichts, als würden wir an Beton arbeiten. Dann gilt die Devise: der Klügere gibt nach. Sich fest beißen könnte zu einem Ringkampf führen, und wenn der Behandler sich verkrampft, werden Blockaden noch größer. (Es gibt allerdings auch Möglichkeiten, bei einem starkem Jitsu mit dieser Technik zu arbeiten. Dies setzt größere Erfahrung und gezielte physische Techniken voraus.)

Um die Hindernisse bei einem ausgeprägtem Kyo zu verstehen, müssen wir uns klar machen, dass in einem Kyo ja ein Mangel an Ki bzw. an Lebendigkeit besteht. Mit unserer Technik würden wir quasi das Wenige, was noch da ist, auffordern, sich fortzubewegen. Starke Kyo-Bereiche setzen nun ihrer Natur entsprechend der gerichteten Aufmerksamkeit des Behandlers nicht einen so starken Widerstand entgegen wie starke Jitsu-Bereiche. Bei wacher Wahrnehmung wird es sich allerdings nicht richtig, nicht stimmig anfühlen, hier diese Technik anzuwenden. Ich selbst empfinde solche Situationen als auffallend grau und nichts sagend.

Ein ausgeprägtes Kyo benötigt keine Vorstellung von Bewegung, um zum Ausgleich zu finden. Die stille Präsenz und einfache, klare Berührung des Behandlers reichen hierzu aus.


Einige haben es immer schon so gemacht …

Im Unterricht kommt es immer wieder vor, dass einzelne Teilnehmer bei der Vorstellung dieser Inneren Technik erstaunt aufblicken und fragen, was denn das Besondere hieran sei. Das hätten sie doch immer schon so gemacht. Voraussetzung für die Arbeit mit Ki ist eben, dass seine Freiheit in der Behandlung unterstützt wird. Tatsächlich arbeiten nicht wenige von Anfang an in dieser oder ähnlicher Weise. Bei der Vorstellung dieser Technik wird es ihnen bewusst. Allerdings würden sie meistens ihre Weise der Behandlung mit ganz anderen Worten und viel einfacher beschreiben als ich es hier getan habe.

In der Tat gibt es wahrscheinlich unzählige Möglichkeiten, bewusst oder unbewusst mit freiem Ki zu arbeiten. Die hier beschriebene stellt nur einen Zugang unter vielen dar. Außerdem habe ich hier bereits viel zu viele Worte über die Technik des völlig freien Ki-Flusses verloren. Dies ist wohl die Folge des Versuches, etwas Elementares in Worte zu fassen, was man eigentlich nur unmittelbar erfahren kann.


Die Technik des ausgerichteten Ki (Ki-Projektion)

Innere Techniken stellen die Möglichkeit dar, unsere Aufmerksamkeit – und damit unser Ki – im Shiatsu gezielt einzusetzen. Sie sind eine Ergänzung für körperlich berührende Shiatsu-Techniken, die man als äußere Techniken bezeichnen könnte. Ihre Wirkungen beruhen auf dem Phänomen, dass unsere Gedanken eine Erscheinungsform von Ki sind. Mehr noch: Ki folgt dem Bewusstsein, und der bewusste Geist vermag unser Ki an beliebige Stellen zu leiten, wo es wirken kann. Innere Techniken sind – bewusst oder unbewusst eingesetzt – ebenso wichtig wie äußere.

Die Innere Technik, die ich in dieser Folge beschreibe, hat viele Gemeinsamkeiten mit der Technik des völlig freien Ki-Flusses. Wieder dreht es sich um eine recht einfache Übung der Aufmerksamkeit, die schon beim erstmaligen Ausführen viele erstaunliche Aha-Erlebnisse bereithält. Ihr wirklicher Sinn liegt jedoch auf einer anderen Ebene, die sich erst mit beharrlichem und entspanntem Üben – ähnlich wie das Üben im Qi Gong – erschließt.

Ki folgt der Aufmerksamkeit. Anders gesagt: wohin ich denke, dorthin reicht auch das Feld meiner Energie. Dieses Phänomen ist Grundlage vieler Alltagstätigkeiten, die wir erfolgreich durchführen. In den Kampfsportarten des Fernen Ostens wird es gezielt geübt und eingesetzt. Mit seiner Aufmerksamkeit ganz da zu sein, wo man arbeitet, ist eine der zentralen Grundlagen für ein gutes und wirksames Shiatsu.

Als „Ki-Projektion” ist diese Innere Technik vielen ein Begriff, vor allem jenen, die mit Pauline Sasaki und Cliff Andrews studiert haben. Der Begriff „Technik des ausgerichteten Ki” beschreibt – wenn auch umständlicher – für mein Gefühl mehr, was tatsächlich stattfindet: die Praktizierende richtet ihr Ki aus, vielleicht vergleichbar einem Laser-Strahl, der seine Kraft der parallelen Bündelung von Lichtstrahlen verdankt. Ein solcher Vergleich allerdings führt schon wieder in die Irre, handelt es sich bei dieser Inneren Technik doch eher um ein Spiel als um eine „harte” technische Übung.


Anfangsübung

Ein guter Einstieg in dieses Spiel ist die Arbeit mit dem Hara. Das ist dann gleichzeitig eine Übung der energetischen Wahrnehmung. Dazu setzt Du Dich zunächst einmal neben Deine Shiatsu-Partnerin in den Fersensitz. Wichtigste Voraussetzung für das Gelingen ist, das Du eine sichere und entspannte Haltung hast, die sich im Bauch gut anfühlt und die einen guten Kontakt zum Boden vermittelt. Lege dann zunächst Deine Hände auf das Hara Deines Partners. Lass sie dort einfach liegen und schaue mit dem Inneren Auge in das Hara hinein.

Zunächst wird es dort vielleicht nicht viel zu sehen geben. Nach einer kurzen Weile allerdings das Hara in seiner Tiefe nicht mehr überall gleich erscheinen. Es werden Unterschiede sichtbar werden, helle und dunkle Bereiche vielleicht, dichte, kraftvolle oder eher dünne, leere, Strukturen, Muster und viele andere Unterschiede mehr. Das Hara kann sich uns in der unterschiedlichsten Weise präsentieren – und es ist immer eine Überraschung.

Eines dieser Muster wählst Du nun für die weitere Arbeit aus. Es kann irgendeine der verschiedenen Strukturen sein, die Dir aufgefallen sind. Gut ist es, eines zu nehmen, das Gewicht oder Bedeutung zu haben scheint – oder einfach eines, das Dich besonders anzieht, besonders interessiert. Und dann beginnt die eigentliche Übung:

Werde Dir zunächst noch einmal Deines Haras bewusst, des ganzen Haras mit dem Schwerpunkt im Tan Den. Achte darauf, dass Du ruhig und entspannt sitzt und dass es sich gut anfühlt. Erlaube nun Deiner im Hara ruhenden Aufmerksamkeit sich langsam auszudehnen, über die Grenzen des Haras hinaus hinauf in den Brustkorb. Auf dem Weg dorthin wird die Kraft des Mittleren Wärmers (Holz und Erde) in die Bewegung aufgenommen. Im Brustkorb schwingt das Herz mit, das erst gibt der entstehenden Berührung die richtige Färbung.

Und sie dehnt sich weiter aus: durch die Schultern hindurch in die Oberarme, durch die Ellenbogen in die Unterarme, durch die Handgelenke in die Hände. Eigentlich machst Du gar nichts, sondern sitzt nur da und schaust zu, wie es geschieht. In Deinem Inneren trittst Du beiseite und machst der Aufmerksamkeit des Haras, die sich da ausdehnt, Platz.

Und dann geht die Bewegung über die Grenzen Deiner Hände hinaus in das Hara Deiner Partnerin, ins Zentrum der Struktur oder Qualität, die Du vorher ausgewählt hast. Dieses Zentrum wirst Du leicht finden, Du brauchst nur hinzuschauen. Es ist dort, wo die gewählte Qualität am intensivsten, vielleicht am brennendsten oder am deutlichsten ist. Wenn Du z.B. einen leeren Bereich ausgesucht hast, ist das Zentrum dort, wo die Leere am stärksten ist.

Was wichtig ist: Deine Hara-Aufmerksamkeit fließt nicht aus Deinem Hara in das Deines Partners hinein. Es dehnt sich dorthin aus! Das ist ein wichtiger Unterschied: im ersten Fall verlierst du etwas – vielleicht nur wenig – aber Du verlierst etwas. Im zweiten Fall hingegen stärkst Du Dein Zentrum.

Vielleicht ist auf dem Weg durch Brustkorb, Schultern und Arme die Aufmerksamkeit eingebrochen. Das ist ganz normal, da es sehr schwierig ist und einige Übung braucht, sie über einen längeren Zustand unversehrt aufrecht zu erhalten. Aber das braucht Dich nicht zu stören, du baust sie einfach wieder von Deinem Hara aus auf. Wenn sie in einer Minute 20 mal einbricht, baust Du sie eben 20 mal wieder auf, leichten Herzens mit dem Inneren Lächeln des Qi Gong.

Vielleicht entdeckst Du Stellen auf dem Weg von Deinem Hara in Deine Hände, an denen die Aufmerksamkeit immer wieder abbricht bzw. wo sie nicht so leicht hindurch kann. Du kannst davon ausgehen, dass dies Stellen sind, in denen Du in der einen oder anderen Weise den Fluss Deines Ki behinderst. Stell Dir dann einfach ganz lebhaft vor, dass die Aufmerksamkeit sich dort hindurch ausdehnen kann, tritt innerlich zur Seite und mach ihr Platz.

Möglicherweise stellst Du fest, dass etwas in Dir es schwierig macht, den Weg frei zu machen. Vielleicht ist es Deine Körperhaltung, vielleicht eine mangelnde Ruhe und Gelassenheit in Dir selber oder aber ein Gedanke, der Dich ablenkt. Was immer Du findest, trage dafür Sorge, dass die Situation sich ändert und dass Du die Übung ungestört durchführen kannst.


Ki wirkt

Wenn der Bogen von Deinem Hara zu dem Deiner Partnerin steht, ist es so, als würdest Du sie dort mit Deinem Hara berühren. Es scheint nicht nur so – Du berührst sie wirklich in dieser Weise. Die Aufmerksamkeit oder Kraft Deines Haras hat sich so weit ausgedehnt, dass Du dort zu berühren vermagst. Und nun berühre so entspannt wie möglich. Sei Dir des Zentrums dieser Struktur klar bewusst und biete ihr mit Deiner Aufmerksamkeit Weite an. Versuche nicht, etwas zu verändern, denn das ist weniger wirksam (und anstrengender) als die aufmerksame Berührung mit Weite.

Das ist eine sehr reale energetische Technik, die auch wirkt. Wenige Augenblicke des direkten und lebendigen Kontaktes zwischen beiden Orten genügen, um etwas zu verändern. Du wirst es daran sehen, dass unter dem Einfluss der Aufmerksamkeit Deines Haras sich wahrscheinlich das Muster im Hara Deiner Partnerin verändern wird. Zunächst verlagert sich vielleicht das Zentrum des Musters, das Du berührst – in dem Fall folgst Du einfach bzw. suchst ein neues Zentrum. Vielleicht verschwindet das Muster aber auch oder verändert deutlich seine energetische Qualität. Wenn sich deutlich etwas verändert hat, hat die Technik ihre Aufgabe erfüllt und Du hörst auf – es sei denn, Du hast das klare Gefühl, jetzt wird sich gleich noch etwas verändern, dass es also besser ist, noch etwas zu bleiben.

Die Technik, sein Ki auszurichten und damit zu behandeln, ist also recht einfach. Es braucht lediglich den Willen, sie durchzuführen und ein wenig Disziplin, um die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Sie lässt sich an jeder Stelle des Körpers in nahezu jeder Situation zur Unterstützung anderer Shiatsu-Techniken oder auch für sich alleine durchführen. Sie kann sehr wirksam sein und wirklich etwas verändern. Sie ist allerdings keine Wundertechnik. Auch wenn Du sie beherrschst, gilt für sie das, was für alle feineren Shiatsu-Techniken gilt: sie wirken besonders dann, wenn wir durch sie eine Bewegung, die in unserem Klienten stattfinden will, unterstützen. Sie kann zur Blockade führen, wenn wir sie dazu verwenden wollen, unseren Klienten „auf den richtigen Weg” zu zwingen.


Die Anwendung im Shiatsu

Die hier beschriebene Technik läßt sich in allen denkbaren Situationen des Shiatsu einsetzen. Sie ermöglicht uns, wirklich dort zu sein, wo wir arbeiten, sogar dort, wo unsere Hände auf der körperlichen Ebene nicht hinreichen. Sie unterstützt die physische Arbeit, wirkt aber auch für sich alleine. In der Meridianarbeit ermöglicht sie einen direkten Kontakt zum Meridian in der Tiefe unter unseren Händen.

Im Fluss einer Shiatsu-Behandlung ist die Anwendung dieser Technik allerdings etwas anderes als wie oben beschrieben am Hara. Erstens arbeiten wir hier mit zwei Händen, die meistens unterschiedliche Aufgaben haben. Es braucht etwas Übung, um die Aufmerksamkeit sich gleichermaßen in beide Arme und Hände ausdehnen zu lassen. Zweitens ist die Anwendung dieser Technik schwieriger, wenn man mit dem Daumen arbeitet statt sich auf die Arbeit mit Handflächen zu beschränken. Meist spannen wir Handgelenk und Schultern (und andere, entferntere Bereiche unseres Körpers) an, so bald wir den Daumen einsetzen. Solange man mit dem Daumen arbeitet, fällt es dann schwer, an diesen Stellen innerlich zur Seite zu treten und der Aufmerksamkeit des Haras freie Bahn zu lassen. Drittens hat man im Fluss einer Shiatsu-Behandlung nicht so viel Zeit in dem einzelnen Kontakt wie in der vorherigen Übung am Hara. Dauert das Aufbauen der Aufmerksamkeit im Punkt zu lange, so kann der Fluß der Behandlung unterbrochen werden.

Erst einmal kommt es vor allem darauf an, zu lernen, zu jeder Stelle im Verlauf eines Behandlungsabschnittes den Bogen der Aufmerksamkeit vom Hara aus aufzubauen. Dazu sinkst Du zunächst physisch ein, so wie Du es gewohnt bist. Dann kommt die Berührung mit der Aufmerksamkeit Deines Haras hinzu: sie dehnt sich aus vom Hara über Brustkorb und Arme zu dem Ort, wo Du behandelst. Später wirst Du die Aufmerksamkeit nicht mehr in jedem Ort erneut aufbauen müssen, sondern in der Lage sein, sie für eine längere Zeit über viele Kontakte aufrecht zu erhalten.

Weiter ist es am besten, Du führst die Übung zunächst nur über die Ruhende Hand aus. Gleich mit beiden Händen zu beginnen, ist nämlich etwas schwierig, und die Ruhende Hand ist die wichtigere von beiden. Wenn du damit vertraut bist, nimm die Wandernde Hand hinzu. Lass Dir Zeit, bis Du dahin kommst, es darf ruhig ein paar Wochen dauern (muss aber nicht).

Anfangs ist diese Übung häufig eine Einbahnstraße: es braucht noch ein hohes Maß an Konzentration, um die Aufmerksamkeit auszurichten. Da bleibt kein Raum mehr übrig, um noch etwas wahrzunehmen. Es scheint auch kaum Raum für all die anderen wichtigen und schönen Seiten im Shiatsu zu bleiben. Zudem kann die Behandlung träge und zäh werden, alles geht nur noch langsam voran, und der Behandlungsfluss kann unterbrochen werden. Um das zu vermeiden, ist es empfehlenswert, in einer Behandlung nicht länger als 5 – 10 Minuten zu üben. So vermeidest Du, dass Du starr wirst, dass Deine Behandlung auseinander fällt, und Du die Freude an der Sache verlierst. Wie bei allen diesen Übungen ist es hilfreich, sie mit einem leichten Geist und dem Inneren Lächeln durchzuführen.


Die Belohnung und der sinnvolle Umweg

Dann wird es bald leichter werden und die anfängliche Mühsal wird belohnt. Mit der Aufmerksamkeit Deines Haras zu berühren wird Dir rasch so vertraut werden wie die anderen Shiatsu-Techniken, die Du heute schon beherrschst. Dein Körper beginnt zu verstehen, wie er im Shiatsu als Instrument eingesetzt werden kann, ohne die Schleusen schließen zu müssen. Dieses Verstehen wird zunächst vielleicht nur in den Armen einsetzen, später auch in anderen Bereichen, wie dem Brustkorb, dem Becken oder den Beinen.

Nun zahlt es sich aus, dass Du der Aufmerksamkeit des Haras so oft den Weg durch Brustkorb und durch die schwierigen Stellen in den Schultern, Armen, Handgelenken und Daumen freigemacht hast. Wenn Du so weit bist, dass Du „stereo” mit beiden Händen in dieser Weise Shiatsu geben kannst, wird in Deiner Arbeit eine neue Weite und Leichtigkeit möglich. Einerseits ermöglicht sie Dir einen intensiveren Kontakt, andererseits Überblick und Distanz zur Stelle, die Du berührst. Die Distanz ist wichtig, sie erleichtert Dir u.a. energetische Muster zu sehen und sie gezielt zu berühren. Und sie schützt auch.

Mehr noch: Du beginnst, Dich in Deinem Körper und energetischen Raum anders zu erfahren. Wie das genau sein wird, läßt sich schwer sagen, zumal jeder es wahrscheinlich anders erlebt und beschreiben würde. Es hat zu tun mit Leichtigkeit und Weite, vielleicht auch mit Stabilität und ebnet den Weg zum Verständnis von Ki. Es kann sich früh einstellen, nach einigen Monaten, oder es kann einige Jahre dauern, und es ist nicht von Nachteil, wenn es später einsetzt.

Man mag sich nun fragen, ob es nicht möglich ist, mit der Aufmerksamkeit des Haras direkt dort zu berühren, wo man möchte, und ob denn der Umweg über Brustkorb, Schultern und Arme wirklich nötig ist. Das würde doch viel Mühe ersparen.

Die Antwort ist ja, das ist möglich. Es ist aber – besonders zu Anfang – nicht so wirksam. Vor allem aber bleibt das Herz an dieser Art von Berührung unbeteiligt. Der “Umweg” über den Brustkorb lässt den Behandler nicht nur aus dem Hara sondern ebenso aus dem Mittleren Wärmers und vor allem mit dem Herzen agieren. Die Kraft und der Kontakt kommen aus dem ganzen Menschen. Das ist eine ganz andere Begegnung, viel lebendiger – und eben auch wirksamer.

Es gibt noch aus einem anderen Grund warum es sich lohnt, diesen „Umweg” zu machen. Mit offenen Schultern und Armen zu arbeiten, stellt für viele eine der größten Herausforderungen im Shiatsu dar. „Schultern weit, Ellenbogen nicht durchgestreckt aber auch nicht zu sehr gebeugt, Handgelenke loslassen, Daumen öffnen” u.s.w. sind darum Hinweise, die Shiatsu-Lehrer zu Recht häufig geben. Mit der Technik des ausgerichteten Ki bekommt man all das frei Haus: der offene Zustand stellt sich quasi als Abfallprodukt von selber ein, wenn ich den Bogen der Aufmerksamkeit denke.

Denkt man ausschließlich vom Hara ohne den Umweg durch den Körper direkt zum Ort des Geschehens, ist es zudem möglich, dass die Technik des ausgerichteten Ki lediglich mental, nicht jedoch im Körper erzeugt wird. Der Körper und mit ihm sein Zentrum, das Hara, ist zu Anfang wahrscheinlich noch nicht so weit, um den mentalen auslösenden Impuls aufzunehmen und wirkungsvoll auszuführen. Der Umweg über Brustkorb, Schultern und Arme bindet dagegen den Körper in die Übung mit ein, gibt ihm die Möglichkeit, zu lernen, im „Offenen Zustand” zu arbeiten und verhindert, dass die Übung lediglich mental durchgeführt wird. Beruht die Technik nur auf mentaler Kontrolle, so besteht auf längere Sicht (vor allem bei denjenigen, die ohnehin dazu neigen) die Tendenz, dass das Ki der Übenden zu yang, d.h. zu schnell und zu heiß wird.

Später dann, mit mehr Erfahrung, wird es möglich werden, die Aufmerksamkeit des Körpers sich direkt in die Unterarme, Handgelenke, Hände und Daumen und von dort zum Ort der eigentlichen Berührung ausdehnen zu lassen. Und noch später, mit noch mehr Erfahrung wird es vielleicht auch einmal sinnvoll erscheinen, mit der Aufmerksamkeit des Haras und des Herzens direkt zu berühren.

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© Wilfried Rappenecker, geb. 1950 in der Nähe von Köln, ist Leiter der Schule für Shiatsu Hamburg (D-22769 Hamburg, Oelkersallee 33, http://www.schule-fuer-shiatsu.de), Mitbegründer der GSD und Autor zweier Bücher zum Thema Shiatsu. Als Arzt für Allgemeinmedizin arbeitet er dort überwiegend mit Shiatsu.