Daodejing

Das Daodejing, der “Klassiker von Dao (Weg) und De (Kraft)” wird dem legendären und schon sehr früh als Gottheit verehrten Laozi zugeschrieben. Der Überlieferung nach war Laozi – 53 Jahre älter als Konfuzius – ein Kurator der königlichen Bibliothek der Zhou-Dynastie. Als er sich im 6. Jahrhundert vor Christi Geburt im Alter von 160 Jahren von der Gesellschaft abwandte und in die Berge ging, diktierte er einem Grenzposten die später kanonisierten 5000 Zeichen des Daodejing, dem wohl bekanntesten und wichtigsten Buch des Daoismus.

Bis zum Jahre 1973 war das Daodejing allgemein in der Überlieferung des Philosophen Wang Bi bekannt. Wang Bi hatte das Buch im dritten Jahrhundert nach Christi mit einem eigenen Kommentar versehen. Durch den Lauf der Zeit und – wahrscheinlich – auch durch die Qualität seines Kommentars wurde die Niederschrift von Wang Bi späterhin zur Standardversion des Daodejing (andere, zum Teil auch wesentlich ältere Kommentare waren unvollständig und oftmals nicht zweifelsfrei zu datieren). Die textkritische Forschung legt jedoch nahe, dass dieser uns überlieferte Text aufgrund der vielfältigen Überlieferungslinien nicht wirklich mit dem von Wang Bi kommentierten Text identisch ist.

1973 fand man bei archäologischen Grabungen in Mawangdui (in der Nähe von Changsha, der Hauptstadt der heutigen Provinz Hunan) im Grab eines Adeligen aus der frühen Han-Dynastie (206 vor Christi bis 5 nach Christi Geburt), der im Jahre 168 vor Christi bestattet worden ist, neben anderen Grabbeigaben zwei Texte des Daodejing.

Diese Texte, beide auf Seide geschrieben, unterscheiden sich voneinander durch den Zeitpunkt der Niederschrift und den Schrifttyp. Der ältere der beiden Texte, geschrieben im Stil der vor der Han-Zeit benutzten “kleinen Siegelschrift”, wird vor das Jahr 206 vor Christi datiert, der jüngere Text, geschrieben in der während der Han-Zeit gebräuchlichen “Kanzleischrift”.

Damit liegen nun zwei sehr ähnliche und insgesamt gut erhaltene Fassungen des Daodejing, die das Alter des bisherigen Standardtextes um ein halbes Jahrhundert übertreffen, in der originalen Gestalt ihrer Niederschrift vor (unabhängig von weiteren Überlieferungslinien).

Bezeichnend für die beiden Texte – im Gegensatz zu den bisher bekannten späteren Versionen – ist, dass die zwei Teile des Textes, die mit “Dao” (Weg) und “De” (Kraft) bezeichnet werden, in umgekehrter Reihenfolge stehen. Und auch die Einteilung in 81 Kapitel, wie der Text bislang bekannt war, erfolgte erst später. Wenngleich an manchen Stellen gewisse Passagen fehlen, dazugekommen sind oder in einer anderen Reihenfolge stehen, findet sich doch eine vergleichbare Entsprechung für jedes Kapitel der Seidentexte zum Standardtext des Wang Bi.

Im Vergleich der Fassung von Wang Bi mit den Seidentexten zeigt sich, dass das Daodejing ursprünglich der gesprochenen Sprache verpflichtet war, weniger der geschriebenen. Gestalt und Struktur waren wichtiger als exakte Begrifflichkeit. Die Ganzheit der Gestalt dominiert in den Seidentexten von Mawangdui noch über das Detail.

In den späteren Kommentaren, zu einer Zeit, als sich die Schriftkultur immer mehr verfestigte, gewann das einzelne Wort, eine bestimmte Auslegung zunehmend an Bedeutung. Es gibt jedoch keinen “Urtext” in unserem Sinne, vielmehr beherrschte in der Frühzeit der sprachliche Duktus den Schreiber, der quasi zum Protokollanten wurde.