Himmel und Erde verbinden. Shiatsu in der Begleitung psychodynamischer Prozesse (Joachim Schrievers)
Wenn das Leben seinem Wesen nach ganz und unteilbar ist, so ist es ein natürliches Bestreben der Lebenskräfte, uns in das Erleben von Ungeteiltheit und Ganzheit hineinzuführen. In unserer Kultur ist dieser Zustand im Bild des Paradieses beschrieben, aus dem wir hervorgehen und in das wir am Ende wieder zurückfinden. Im Paradies gab es keine Unterscheidung von Gut und Böse. Erst als die Menschen den Apfel vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen hatten, sie aus dem Erleben der Einheit in das der Dualität gefallen waren, entstand Spannung, Spannung zwischen Gut und Böse, Mann und Frau, Himmel und Erde, Leben und Tod usw. In diesen Spannungsfeldern leben wir, sie machen unser Leben aus.
Spannung ist die Voraussetzung für das Fließen von Energie. Ohne dass in einer Batterie oder Steckdose eine Spannung aufgebaut wurde, fließt kein Strom, mit dem wir etwas antreiben, bewegen oder beleuchten könnten. Die Welt der Dualität, in der wir Menschen leben, ist die Welt von Ladung und Entladung, von Zurückhaltung und Fließenlassen.
Wie bedeutsam dieses Prinzip für unsere gesamte Lebensdynamik ist, zeigt der sogenannte Marshmallow-Test. Bei diesem Experiment hat man in den 60er-Jahren an der Stanford Universität in den USA Kindergartenkindern einen Marshmallow (eine bei uns als „Mäusespeck“ bekannte Süßigkeit) angeboten. Sie konnten den „Mäusespeck“ sofort essen oder 15 bis 20 Minuten warten und dann einen zweiten dazubekommen. Diesen zweiten versprach der Versuchsleiter dem Kind und verließ dann den Raum, um nach 15 Minuten wiederzukommen. Die jeweils getroffene Entscheidung hat man dokumentiert und die Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein beobachtet. Mit deutlicher Signifikanz hatten die Kinder, die 15 – 20 Minuten gewartet hatten, eine erfolgreichere Schulzeit absolviert und führten ein privat wie beruflich erfüllteres Leben. Was zeichnet die Kinder aus, die sich für das Warten entschieden haben? Sie haben die Fähigkeit, Spannungen über eine gewisse Zeit auszuhalten und haben Vertrauen, dass der Versuchsleiter sein Wort hält und mit einem zweiten Marshmallow zurückkommt.
Unsere Fähigkeit, mit Spannungen und Spannungsfeldern umzugehen, in ihnen nicht zu erstarren und zu zerbrechen, sondern es – nicht zu früh und nicht zu spät – fließen zu lassen, macht uns zum Lebenskünstler, also zu jemandem, der die Kunst zu leben versteht. Die Frage ist, inwieweit Shiatsu in der Lage ist, Menschen bei der Entwicklung einer solchen Lebenskunst zu unterstützen. Wir kennen Shiatsu als Therapie, als Element der Gesundheitsvorsorge usw., warum nicht Shiatsu als Lebenskunst?
Wir alle haben in unserem Leben Situationen erlebt, die wir nicht souverän handhaben konnten, die uns ins Stocken gebracht, seelische Narben und Blockaden in unserem Energiesystem hinterlassen haben. Haben wir dies in eklatanter Form erlebt, so sind wir traumatisiert mit den entsprechenden offensichtlichen oder versteckten Symptomen. Ein Trauma bedeutet immer eine Abspaltung, das Ich ist mit dem traumatischen Ereignis überfordert und gezwungen, es ganz oder in Teilen zu verdrängen. Aber verdrängte Erlebnisse können mit viel Energie aufgeladen sein und sind keineswegs verschwunden, nur weil unser bewusstes Ich sie aus dem Feld seiner Aufmerksamkeit verbannt hat. Sie haben Ähnlichkeit mit Blindgängern aus dem Zweiten Weltkrieg, auf die man gelegentlich bei harmlosen Bauarbeiten trifft.
Auch wenn Shiatsu keine Traumatherapie im engeren Sinne ist, kommt es doch im Rahmen der „Umbauarbeiten“, die der Shiatsu-Prozess mit sich bringt, hin und wieder zu Begegnungen mit den im Trauma gebundenen Kräften. Im Unterschied zu einer Traumatherapie, zu der Menschen gehen, die um ihr Trauma wissen und sich bewusst entschieden haben daran zu arbeiten, tritt die entsprechende Dynamik im Shiatsu oft spontan und unerwartet auf, da die Motivation, zum Shiatsu zu gehen, oft eine ganz andere ist. Viele Menschen wissen ja gar nicht, dass sie ein Trauma erfahren haben, vor allem, wenn es sich nicht um ein schwerwiegendes Ereignis handelt, sondern um eine Ansammlung kleinerer Verletzungen, an die sie sich im Laufe ihres Lebens gewöhnt haben.
Abgespaltene Energien drängen in unser Leben zurück – ohne diesen Vorgang können wir nicht ganz werden, kann Heilung nicht stattfinden. Entscheidend dafür, ob die Aktualisierung, d.h. das Wiedererleben eines Traumas, zur Heilung beiträgt oder eine neue Traumatisierung hervorruft, ist unter anderem, in welchem Zustand wir uns im Moment der Wiederbegegnung gerade befinden, ob wir zerstreut und getrieben oder zentriert und geerdet sind, ob seit dem ersten Trauma in uns ein Reifungsprozess stattgefunden hat, ob wir eine andere, weitere Sicht entwickeln konnten und ob unser Herz sich so geweitet hat, dass die Verletzung darin Platz hat und Verzeihen möglich geworden ist, und nicht zuletzt, ob wir allein oder in Begleitung eines vertrauten Menschen sind. Es gibt keine Zauberpunkte oder einzelne Meridiane, über die man ein Trauma direkt auflösen kann, aber im Shiatsu können die Voraussetzungen geschaffen werden, unter denen alte Verletzungen ausheilen und Reifungsprozesse stattfinden können. Neben dem Fachwissen des Praktikers ist es vor allem eine verlässliche Beziehung, die das Vertrauen des Klienten stärkt. Eine verlässliche Beziehung heißt im Shiatsu, dass der Praktiker bzw. Begleiter den Klienten in seinem Erleben nicht allein lässt, dass er die Energien, die freigesetzt werden, aushält und mit ihnen umzugehen weiß, dass er seine eigene Zentrierung und Erdung nicht verliert. Wir müssen nicht im Einzelnen verstehen, was da vor sich geht, aber wir sollten als Begleiter die Empathie und den inneren Raum haben, den die Integration der abgespaltenen Energien braucht. Es gibt so etwas wie ein unbewusstes Gespür bei unseren Klienten für diese Qualität. Spürt er in der Berührung, dass wir ihm verbunden sind und dass wir ihn und seine Geschichte aushalten ohne uns zu verschließen, vertraut er sich uns und unseren Händen – im Shiatsu meist nonverbal – leichter an. Dies ist meist keine bewusste Entscheidung, sondern ergibt sich aus dem gemeinsamen Erleben, in dem sich der Klient „in guten Händen“ fühlt.
Energien sind immer neutral, sie sind weder gut noch schlecht. Wenn wir sie als angenehm oder verletzend erleben, so liegt das an unserer Art, die Energien zu deuten und mit ihnen umzugehen. Nicht selten erscheint uns ein Ereignis, das wir zunächst als negativ eingeordnet und empfunden haben, im Rückblick gesehen als ein Segen. Ein Kind, das, um eine gute Note im Sportunterricht zu bekommen, von seinem Lehrer gedrängt wird, vom Dreimeterbrett ins Wasser zu springen, kann diesen Lehrer vor dem Sprung für grausam halten und ihm kurz danach, wenn es die Freude am Springen erfahren hat, für genau die gleiche Situation dankbar sein. Es hat eine Erfahrung gemacht, die es vorher nicht kannte und vor der es Angst hatte. Das schlimm erscheinende Erleben selbst hat es befreit und seine Beurteilung der Situation völlig verändert. Es gibt aber auch Kinder, die nach der gleichen Erfahrung regelrecht traumatisiert sind, nie mehr im Leben ein solches Sprungbrett betreten und es dem Lehrer auch ein Leben lang nicht verzeihen können, sie in eine solche Situation gestellt zu haben.
Was entscheidet darüber, ob wir an einer Erfahrung wachsen oder von ihr und der Erinnerung an sie eingeengt werden? Was führt dazu, dass wir unser Leben mit all seinen Ereignissen als Ganzes bejahen können oder mit ihm hadern? Offenkundig spielt die Tiefe unseres Vertrauens dabei eine bedeutende Rolle. Aber wo kommt das Vertrauen her, wie entsteht es und schließlich: wie kann man es pflegen und nähren?
Wir wissen heute, dass ungeborene Kinder zum Beispiel über die Hormone im Blut der Mutter intensiv teilhaben an den Erfahrungen und Gefühlen ihrer Mutter. Dabei geht es nicht primär um die äußeren Ereignisse, die der Mutter begegnen, sondern um die innere Reaktion der Mutter auf das Geschehen, ihre Angst und ihre Freude, also ihre Gefühle. Das Geschehen, das die Gefühle auslöst, kann das Kind nicht erfassen.
Ähnlich verhält es sich auch nach der Geburt. Ein kleines Kind kann die Gefahr und Tragweite einer Situation noch nicht selbst einschätzen, aber es kann spüren, welche Gefühle das Ereignis in der Mutter bzw. Bezugsperson auslöst. Bekommt die Bezugsperson Angst, so spürt auch das Kind, dass etwas Bedrohliches geschieht. Wir nehmen also vor und nach unserer Geburt in Ermangelung eines eigenen Urteilsvermögens die Welt durch die Augen bzw. Gefühle unserer Mütter oder Bezugspersonen wahr. In den sogenannten Spiegelneuronen hat die Hirnforschung diese angeborene Fähigkeit des Mitfühlens entdeckt, die für das (Über-) Leben der hilflosen kleinen Geschöpfe genauso notwendig ist wie für das friedliche Zusammenleben der Menschen überhaupt. Während das Mitfühlen im Mutterleib noch über die Hormonveränderungen im Blut erklärbar ist, ist die Übertragung von Gefühlen und Stimmungslagen zwar beweis-, ihre Übertragungswege sind aber nicht mehr materiell erklärbar. Es handelt sich um ein Mitschwingen, also ein Phänomen, das auftritt, wenn zwei Schwingungssysteme miteinander in Resonanz treten. Im Deutschen sprechen wir von der gleichen Wellenlänge, wenn wir zum Ausdruck bringen wollen, dass wir uns mit jemandem gut verstehen. Natürlich verstehen wir auch die Worte eines Menschen, der nicht die gleiche Wellenlänge hat wie wir, aber eben oft nur die Worte, während sich bei einem Menschen mit gleicher Wellenlänge jenseits der Worte eben vieles von selbst versteht.
Dieser Austausch von Informationen prägt maßgeblich die Atmosphäre, in der wir leben und die wir verbreiten. So können wir als Kind Vertrauen und Geborgenheit (mit-) erfahren oder Angst und Verzweiflung und selbstverständlich auch alle Schattierungen dazwischen. Unser Selbstverständnis und unsere Identität wachsen auf der Grundlage dieses inneren Erlebens. Natürlich prägen uns mit zunehmendem Alter auch unsere eigenen Erfahrungen, aber die Art, wie wir etwas erleben und damit intuitiv beurteilen, ist bereits geprägt durch das frühkindliche Mit-erleben. Wer ganz früh Zuwendung, Liebe, Vertrauen und Geborgenheit erfahren und in sich das Gefühl des Aufgehobenseins entwickelt hat, kann mit Verletzungen und Herausforderungen anders umgehen als jemand, in dem Angst und Misstrauen gewachsen sind. Er wird vielleicht sogar einen Vorgang, durch den sich andere Menschen sehr verletzt fühlen, gar nicht als Verletzung wahrnehmen.
All diese Vorgänge haben nichts oder nur sehr wenig mit unserem intellektuellen Verständnis zu tun, eben weil sie entstehen, bevor sich unser bewusstes Denken entwickelt. Zwar können wir später mit einem guten Verständnis Zusammenhänge erkennen und dadurch einen anderen Umgang mit unseren inneren Lebensbedingungen finden, es wird jedoch über den Verstand kaum gelingen, die Defizite aufzufüllen.
Eine Shiatsu-Behandlung findet überwiegend in der Stille statt. Durch den in die Tiefe gerichteten Druck wird der Körper stimuliert und vom Klienten auf eine oft neue Art erfahren. Er beginnt sich zu spüren und dies umso deutlicher, je mehr er lernt, seine Aufmerksamkeit auf die körperinneren Vorgänge zu richten. Die Stille, die Qualität der Berührung und die nach innen gerichtete Aufmerksamkeit führen den Klienten in den sogenannten Behandlungszustand. Der Behandlungszustand, der in Tiefe und Qualität variieren kann, zeichnet sich durch verschiedene Eigenarten aus. Das normale Tagesbewusstsein, das üblicherweise nach außen gerichtet ist, wird, unterstützt durch das Schließen der Augen, gedämpft; gleichzeitig wird das Innenbewusstsein, der innere Blick verstärkt. Unter innerem Blick verstehen wir hier ein Fokussieren der Aufmerksamkeit auf Zustände und Vorgänge im eigenen Inneren. Unter dem Inneren verstehen wir hier zunächst einmal alles, was innerhalb unserer Haut liegt. Die Haut ist die Grenze zwischen innen und außen.
Die erste Ebene, die dem Klienten zugänglich wird, ist die Körperebene. Er nimmt das Gewicht seines Körpers, seine Atembewegung, Muskeln und Gelenke von innen wahr, das heißt er erlebt seinen Körper oder noch besser ausgedrückt, er erlebt sich in seinem Körper. Nicht selten kommt es dabei zu so erstaunlichen Aussagen wie: „Ich habe ja Füße.“ Schon hier wird der Unterschied zwischen intellektuellem Wissen und innerer Erfahrung deutlich. Natürlich weiß jeder Mensch, dass er Füße hat, aber nicht jeder spürt sich in seinen Füßen. Und wer sich nicht in seinen Füßen spürt, spürt auch nicht den Boden unter seinen Füßen, vielleicht weil er etwas erlebt hat, das ihm „den Boden unter den Füßen weggerissen“ hat. Sich in seinem Körper bis in die Füße hinein zu spüren, heißt sich zu erden. Diese einfache, ja fast banale Erfahrung kann schon große Auswirkungen auf die Gesamtverfassung des Klienten haben. Das Erleben seines Körpers verbindet ihn gleichsam mit der äußeren materiellen Welt und bildet ein Gegengewicht zur Fülle seiner Gedanken und Gefühle, die ihren Ursprung nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit haben.
Die Gründe, die zu einer Abschwächung des Körpergefühls führen, sind vielfältig. Wenn wir von Durchblutungstörungen und physischen Schädigungen des Nervensystems einmal absehen, sind es unter anderem traumatische Erlebnisse, die der Entfremdung vom eigenen Körper zu Grunde liegen. Wenn ein Geschehen zu stark ist, um verarbeitet zu werden, entsteht eine Dissoziation (Trennung), in der sich die Betroffenen getrennt von ihrem Körper, Schmerzen und leidvollen Gefühlen erleben. Man kann eine Dissoziation als eine uns von der Natur mitgegebene Überlebenshilfe verstehen, als eine Art Gnade, die uns vom unerträglichen Schmerz befreit. Manche Dissoziationen bleiben zeitlich auf das traumatisierende Geschehen begrenzt. Kommt der Mensch dann wieder zu sich, werden Schmerzen wieder als Schmerzen erfahren und das gewohnte Selbsterleben kehrt zurück – die Verarbeitung des Erlebten beginnt.
In vielen Fällen aber bleibt die Dissoziation zumindest teilweise bestehen und wird dann, so hilfreich sie im ersten Moment auch war, zu einem Problem. Menschen, die in einer Dissoziation „hängen geblieben“ sind, haben Schwierigkeiten sich zu spüren. Sie haben den Zugang zu ihren Gefühlen verloren, erleben sich als von sich selbst entfremdet. Dies kann ganz gravierend und offensichtlich sein oder subtil und unbewusst. Zwischen ihnen und ihrem Körper ist so etwas wie eine Glasscheibe, durch die sie das Leben zwar sehen, es aber nicht spüren können. Wenn das traumatische Geschehen nicht vollständig verdrängt ist, können sie die Ereignisse auch beschreiben, bleiben aber von den dazugehörigen Gefühlen abgeschnitten. Solange dies so ist, findet auch keine oder nur eine schleppende Verarbeitung statt. Die Bilder vom Geschehen kreisen unverändert im Kopf – tagsüber wie auch in sich wiederholenden Alpträumen. Ist ein Trauma vollständig verdrängt oder hat sich in frühester Kindheit, also noch früher als unser Erinnerungsvermögen reicht, ereignet, so bleibt zwar die Entfremdung, aber der Grund dafür fehlt im Bewusstsein. Viele Menschen sind sich ihrer Entfremdung gar nicht bewusst, weil sie es ja gar nicht anders kennen und auch nicht ahnen, wie sich das Leben anfühlen könnte, wenn sie in einem lebendigen Kontakt mit sich wären.
Dieser spürende Kontakt ergibt sich oft wie von selbst in der stillen, tiefen Shiatsu-Berührung und er macht nicht beim Erleben des Körpers Halt. Die meisten Behandlungstechniken im Shiatsu bewegen sich entlang der Meridiane, den energetischen Leitbahnen, in denen nach der traditionellen chinesischen Medizin die Lebensenergie, das Qi (jap. Ki) fließt. Richtet der Klient, durch die Berührungen und Worte des Behandlers geleitet, seine Aufmerksamkeit auf diese Leitbahnen bzw. das Fließen der Energien, so gelingt es den meisten Menschen im Laufe der Zeit, dieses Fließen in sich wahrzunehmen. Dies ist ein entscheidender Schritt vom Oberflächenbewusstsein ins Tiefenbewusstsein. Er eröffnet die Möglichkeit, unabhängig davon, was für kreisende Gedanken unser Oberflächen- oder Alltagsbewusstsein beschäftigen, sich an nährende, ordnende und entspannende Kräfte im eigenen Inneren anzuschließen. Spätestens hier kommt der Klient in Kontakt mit seinem spürenden Bewusstsein. Ich spreche hier ganz bewusst vom spürenden Bewusstsein, weil es im Körpererleben zu einem tiefen Begreifen kommen kann, ohne dass ein bewusstes Nachdenken notwendig wäre. Unser denkendes Bewusstsein ist wichtig, um die Erfahrungen zu ordnen und in einen Zusammenhang zu stellen, aber manchmal geschieht selbst das ohne bewusstes Reflektieren.
Der Körper wurde in unserer abendländischen Kultur nie wirklich geschätzt. Die Kirche sah ihn als den niederen Aspekt des Menschen an, der ihn durch seine Bedürfnisse daran hinderte, dem Geistigen näher zu kommen. Man versuchte ihn durch Askese und Enthaltsamkeit zum Schweigen zu bringen. Das Ziel war der Himmel, in den die Seele nach dem Tode gelangt. Der Blick war auf´s Jenseits gerichtet, das zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort angenommen wurde. Das Bestreben ging weg vom Körper, der mit dem Diesseits assoziiert wurde, und damit weg vom Hier und Jetzt.
In der Aufklärung, in der dann die Vernunft ihren Siegeszug antrat, schaute man wieder auf den Körper herab. Man begann ihn wie eine Maschine zu betrachten, die vom Geist gesteuert wird, und der Geist saß selbstverständlich im Gehirn. Die subjektiven Erfahrungen, in denen sich uns unser Körper mitteilt, hatten keine Chance gegen die Wissenschaft, die ihre Autorität mit immer raffinierteren Messgeräten untermauerte.
Schließlich tat noch die technische Entwicklung das Ihre dazu, dass unser Körper entlastet wurde, am Ende aber auch verkümmert ist. Maschinen, Autos, Flugzeuge und Computer führen dazu, dass für eine wachsende Zahl von Menschen das Bedienen der Maus am PC über viele Stunden die Hauptbewegung ist. Wir sind von geistigen Impulsen überschwemmt und verkümmern im Körper. Diese ganze Entwicklung betrifft leider nicht nur den Aspekt der Körperbeherrschung, sondern auch den Empfang von Signalen, die der Körper sendet. Auf die Bedeutung dieser meist unbewussten Körpersignale für unsere Grundgestimmtheit wie auch für das Funktionieren der sich selbst regulierenden Prozesse in unserem Körper-Geist-System wurde oben schon ausführlich eingegangen.
Während in den östlichen Kulturen Körper und Geist grundsätzlich nicht getrennt angesehen werden, hat sich in den westlichen Kulturen bis zum heutigen Tag die Ansicht festgesetzt, dass der Körper (Materie) und der Geist (Nicht-Materie) zwei grundsätzlich getrennt zu betrachtende Aspekte des Menschen sind. Erst in neuerer Zeit führen uns die Physik, die Hirnforschung sowie die Forschung zu Nahtoderfahrungen zu neuen Perspektiven.
Eine Nahtoderfahrung könnte man als die tiefste Dissoziation auffassen, die ein Mensch erleben kann. Bruce Greyson, eine anerkannte Persönlichkeit in der Nahtodforschung, definiert eine Nahtoderfahrung folgendermaßen:
Nahtoderfahrungen sind tief gehende psychische Ereignisse mit transzendenten und mystischen Elementen, die vor allem bei Menschen auftreten, die dem Tode nahe sind oder sich in einer Situation ernster körperlicher oder emotionaler Gefährdung befinden.
Neben ganz individuellen Erlebnisanteilen beschreiben die Betroffenen über kulturelle Grenzen hinweg ähnliche Erlebnisse, die als ein kollektives Erfahrungsfeld angesehen werden können. Dazu gehört, dass sie sich als über dem Körper im Raum schwebend erleben und – wie aus einer großen Distanz – fast unbeteiligt wahrnehmen, was mit ihrem Körper geschieht. Eine Klientin, die mir von einem solchen Erleben berichtete, sprach von ihrem Körper als „dem Zeug da“. Wie bei einer Dissoziation im Zusammenhang mit einem traumatischen Erlebnis werden körperlicher und seelischer Schmerz nicht mehr empfunden. Das Verwunderliche jedoch ist, dass die Betroffenen sich keineswegs als von sich selbst entfremdet erfahren. Stattdessen beschreiben sie diesen außergewöhnlichen Zustand oft als das schönste Erleben, das ihnen je zuteil geworden ist.
Sammlungen solcher Berichte gibt es bereits seit den siebziger Jahren. Sie wurden in Interviews erstellt und von verschiedenen Autoren veröffentlicht. Allerdings lagen die beschriebenen Ereignisse oft viele Jahre zurück, so dass die Beschreibung der jeweiligen Situation nicht mehr nachprüfbar war. Entsprechend groß war der Raum für die Skeptiker, die solche Erfahrungen als Halluzinationen ansahen, verursacht durch Restströme im Gehirn. Der Kardiologe Pim van Lommel hat in seinem 2009 erschienenen Buch „Endloses Bewusstsein“ nun die neuesten wissenschaftlichen Studien zu diesem Thema beschrieben und diese Annahme widerlegt. Er konnte nachweisen, dass die Betroffenen aus ihrer Perspektive außerhalb des Körpers das Geschehen im Raum, oft war es der Operationssaal, fehlerfrei beschreiben konnten, was eine überdurchschnittliche Hirnleistung darstellt. Die bahnbrechende Erkenntnis dieser Studie war, dass dies auch nachweislich zu einer Zeit geschah, in der im Gehirn der betroffenen Menschen keine Ströme mehr messbar waren, also der Hirntod bereits eingetreten war. Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergibt, ist: Es gibt ein Bewusstsein unabhängig vom Gehirn. Und dieses Bewusstsein ist offenkundig in der Lage, neben der gewohnten Realität in einem Zustand erhöhter Wachheit und Transzendenz eine Lebenswirklichkeit zu erfahren, die die meisten als überaus heilsam und beglückend erlebten. Fast alle verloren nach einem solchen Erleben die Angst vor dem Tod.
Bei einer Nahtoderfahrung handelt es sich offensichtlich auf der einen Seite um eine extreme Dissoziation, auf der anderen Seite aber gleichzeitig um eine Assoziation (Verbindung) mit einer Lebenswirklichkeit, die wir in unserer Kultur Seele nennen. Im Unterschied zu vielen traumatischen Erlebnissen stand hier nicht das Erleben von Getrenntsein und Entfremdung, sondern von Verbundenheit, Glück und Liebe im Mittelpunkt. Wenn man die Augen vor diesen Forschungsergebnissen nicht verschließt, müssen sie zu einem Paradigmenwechsel unseres westlichen Denkens führen.
Die meisten der in dieser Studie befragten Menschen wurden mit Hilfe moderner Reanimationstechniken ins Leben zurückgeholt. Wir wissen nicht, wie es für sie in der Dissoziation von ihrem Körper weitergegangen wäre, aber wir erfahren aus der Studie, dass eine Nahtoderfahrung das Leben der in ihren Körper zurückgekehrten Menschen stark verändert. Abgesehen von einer immensen Horizonterweiterung führte die Erfahrung bedingungsloser Liebe während der Losgelöstheit vom Körper vielfach im späteren Leben zu mehr Liebe, Mitgefühl und Anteilnahme gegenüber den Mitmenschen. Im Nahtoderleben offenbart sich anscheinend der Sinn des Lebens und der scheint etwas mit Liebe, Glück und Frieden zu tun zu haben. Wie kurz dieses Erleben auch gewesen sein mag, in unserer Zeit gemessen höchstens wenige Minuten, manchmal nur Sekunden, es entfaltet eine nachhaltige Wirkung. Die Wertordnung verändert sich: das Gespür, mit dem wir Wesentlich und Unwesentlich unterscheiden, wird klarer. Was vor der Nahtoderfahrung als wichtig erachtet wurde, wird oft als unwichtig erkannt und umgekehrt werden Dinge wichtig, die vorher als unwesentlich abgetan wurden. So wuchs z.B. bei den meisten das Interesse an Spiritualität und an den tiefen Fragen des Menschseins. Kurz: Eine Nahtoderfahrung leitet einen Prozess der Neuorientierung ein.
Ich finde es nicht primär wichtig, ob wir das, was losgelöst war und dann in den Körper zurückgekehrt ist, Seele, Schwingungskörper, Energiekörper oder Energiefeld nennen, denn der Name ändert ja nichts am Erleben. Auf jeden Fall ist dieses Etwas für die anderen Menschen im Raum unsichtbar, also nicht Materie, sondern Energie. Und es ist etwas, mit dem der Betroffene sich automatisch identifiziert. Niemand sah das Geschehen vom Körper aus und beschreibt etwas, das über ihm schwebte; alle erlebten sich als das, was den Körper verlassen hatte und sahen den Körper wie eine verlassene Hülle, ähnlich wie ein Kokon, auf den der Schmetterling zurückschaut. Dieser Energiekörper scheint also etwas mit unserer wahren Identität zu tun zu haben.
Nun endet ein solches Nahtoderleben bei den Überlebenden immer damit, dass sie aus dem Zustand der Losgelöstheit wieder in ihren Körper zurückkehren. Das heißt, wenn wir zu der von den Nahtoderfahrenen beschriebenen Erfahrungsebene vorstoßen wollen, bleibt uns nur der Weg, unsere Wahrnehmung zu verfeinern und tief in unser Körperfeld hinein zu lauschen, vorausgesetzt, wir wollen dies nicht über die Ekstase erreichen. Leider ist dieses Lauschen in unserer Gesellschaft nicht kultiviert und fast ausgestorben. Meine Großmutter hat vermutlich nicht bewusst meditiert, aber sie hatte noch keinen Fernseher, kein Handy und keinen PC. Ihr Leben war noch voller natürlicher Ruhezeiten, in denen ihr Energiekörper ihr Signale und Informationen senden konnte. Der Kontakt zu unserem energetischen Feld scheint unsere tiefste Kraftquelle zu sein, auch wenn uns dies nicht im Geringsten bewusst ist. Wen kann es da noch wundern, dass es in einer Welt, in der der Geist von morgens bis abends mit Hilfe von MP3-Playern, Handy, Fernsehen und PC beschäftigt wird, immer mehr entwurzelte Menschen gibt, die den Bezug zu ihrer tieferen Identität verloren haben?
An diesem Punkt möchte ich zurückkehren zum Shiatsu. Im Shiatsu verbringen wir mit unserem Klienten viel Zeit in der Stille, dabei hat er ausführlich Gelegenheit in sich hinein zu lauschen und seine Wahrnehmung zu verfeinern. Die Zuwendung des Behandlers und die Selbstzuwendung des Klienten verstärken sich gegenseitig und sind in einem tiefen Behandlungszustand in der Lage, ein Defizit an mangelnder Zuwendung in früher Kindheit in kleinen Schritten aufzufüllen. Die Verfeinerung der Aufmerksamkeit, in der sich Klient und Behandler dem inneren Geschehen zuwenden, führt am Ende in die von den Nahtoderfahrenen erlebte Seelenebene. So kann mit Hilfe von Shiatsu-Behandlungen ein tiefes Vertrauen, vielleicht sogar Urvertrauen wachsen.
Shiatsu ist eine Zeit der Selbstvertiefung. Dabei begegnet sich der Klient auf verschiedenen Ebenen, der körperlichen Ebene, der Meridianebene und am Ende der Seelenebene. Die Begleitung des Shiatsu-Behandlers besteht darin, ihn in die Kunst des Lauschens einzuführen und ihm in der Welt, die er damit betritt, Orientierung zu geben. Für das Ich des Klienten sind manche Erfahrungen zunächst fremd und vielleicht auch ohne Bedeutung. Manches im Inneren Erspürte mag auch auf Widerstände stoßen, weil es den bisherigen Lebenserfahrungen und der unbewussten Werteordnung widerspricht. Während unser Ich in einer Nahtoderfahrung durch die Getrenntheit vom Körper die Dinge und Lebensprozesse quasi in Reinform so sieht, wie sie sind, ist die langsame Annäherung durch das meditative Lauschen in den Körper hinein von viel mehr Unsicherheit und Zweifeln begleitet. Dies ist natürlich von Mensch zu Mensch verschieden und von daher auch nicht voraussehbar. Aufgabe des Begleiters ist, bei der Integration der Erfahrungen ins Leben – soweit notwendig – zu helfen. Dies möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen.
Eine Klientin berichtet von Spannungsfeldern in ihrem Leben, die ihr unter anderem Schlafstörungen, Kopfschmerzen und gehäufte Migräneanfälle verursachen. Sie kommt zum Shiatsu, weil sie da erfahrungsgemäß „abschalten“ kann. Das tut ihr gut und die Wirkung hält – je nach Stresspegel – länger oder kürzer vor. Nach ausführlicher Behandlung eines Beines bitte ich sie, mit geschlossenen Augen in ihre beiden Beine hineinzuspüren und mit ein paar Worten den Unterschied zu beschreiben. Sie beschreibt das behandelte Bein als lebendiger, wärmer, länger, entspannter und tiefer liegend als das unbehandelte Bein, das sie als eher fest und unlebendig erlebt. Ihre Beschreibung ist typisch für die subjektive Wirkung, die nach der Behandlung eines Beines an allen Meridianen eintritt. Die Frage nach ihrem Erleben und ihre Suche nach Worten machen ihr die Veränderung bewusst, aber damit weiß sie noch nicht automatisch, welche Relevanz das für ihr Leben haben könnte. Und genau danach frage ich sie als Nächstes. „Was wäre in Ihrem Leben oder in bestimmten Situationen Ihres Lebens anders, wenn Sie das Gefühl, das Sie jetzt in Ihrem behandelten Bein haben, als Gesamtkörper- bzw. Lebensgefühl hätten?“ Sie denkt kurz nach und antwortet dann: „Dann hätte ich mehr Gelassenheit, alles würde mich nicht mehr so treffen und ich würde auch wieder mehr Humor haben.“ Sie begreift die Relevanz eines veränderten Körpererlebens, das, wenn es tief genug geht, zu einem veränderten Selbsterleben wird. Am Ende der Ganzbehandlung (Behandlung aller Meridiane in allen Positionen) frage ich sie noch einmal nach ihrem inneren Erleben. Was sie vorher an einem Bein gespürt hat, hat sich tatsächlich im ganzen Körper ausgebreitet. Zusätzlich hat sich ein angenehmes Strömen eingestellt. Nach der Wirkung dieses Strömens gefragt sagt sie, dass es sie gleichzeitig beruhigt und vitalisiert, nährt und ordnet. Sie begreift, dass der Behandlungszustand des Shiatsu mit seiner nach innen, das heißt in den Körper hinein gerichteten Aufmerksamkeit ihr beim Umgang mit ihren Spannungs- und Problemfeldern helfen kann. Meinen Hinweis, sich vor der nächsten problematischen Situation an dieses Erleben, dass ihr während unseres Gesprächs noch präsent ist, zu erinnern, nimmt sie gerne mit nach Hause.
Hier wird deutlich, dass das Ziel von Shiatsu nicht nur eine vom Behandler initiierte verbesserte Gesamtverfassung ist, sondern auch eine wachsende Selbstkompetenz, die den Klienten Schritt für Schritt freier und unabhängiger macht. Neben dem Behandlungsgeschehen selbst hilft dabei die Anleitung zu Achtsamkeitsübungen in liebevoller Selbstzuwendung. Regelmäßig für eine Zeit sich selbst spürend zugewandt zu sein, in Kontakt zu kommen mit den eigenen inneren Ressourcen, regt die Lebenskräfte an. Diese unsichtbaren Lebenskräfte (chin. Qi, jap. Ki) sind der Motor für die Selbstregulation in Körper und Psyche, d. h. sie nähren, ordnen, stärken, vitalisieren, stabilisieren und verändern gerade so, wie es der nächste Entwicklungsschritt des Menschen braucht. Hier liegt vielleicht auch einer der größten Unterschiede zwischen einem ausgebildeten Psychotherapeuten und einem Shiatsu-Begleiter: der Psychotherapeut weiß um die Schritte, die anstehen, der Shiatsu-Begleiter vertraut auf die Lebenskräfte selbst. Seine Kunst besteht darin, sie zu wecken und den Klienten mit ihnen vertraut zu machen. Wenn wir das Dao als eine dem Leben innewohnende Ordnung verstehen und das Qi als die Kraft, die diese Ordnung aufrechterhält bzw. wiederherstellt, so tun am Ende das Dao und das Qi die „Arbeit“ und sie tragen auch das zur Heilung nötige Wissen in sich. Es ist das Wissen, das jeder Knochen in sich trägt. Wenn er gebrochen ist, wissen die Knochenzellen an der Bruchstelle sofort, was sie zu tun haben, nämlich wieder zusammenzuwachsen. Der Arzt hat nur die Aufgabe, durch einen Gips für die nötige Ruhe zu sorgen, die zur Heilung nötig ist. Die „Arbeit“ tut der Knochen selbst bzw. das Qi (Ki), das ja die Grundlage aller Bewegungen im Körper ist.
Ähnlich wie dem Körper wohnt auch der Seele eine solche Selbstregulations- oder Selbstorganisationskraft inne. Und ähnlich wie bei körperlichen Heilungsprozessen spielt auch beim Heilen seelischer Wunden die Ruhe eine zentrale Rolle. Tiefe Ruhe öffnet das Tor zu den heilenden Kräften, das erleben wir jede Nacht. Während wir aber nachts in einen unbewussten Zustand fallen, baut ein tiefer Behandlungszustand eine Brücke zwischen dem Tiefenbewusstsein und dem Wachbewusstsein. Damit erreichen die Impulse aus der Tiefe auch das Wach-Ich, das damit die Chance bekommt sich zu „synchronisieren“, der „Seelenschwingung“ anzupassen. Je besser Unbewusstes und Bewusstes zusammenarbeiten, desto größer sind die Chancen für eine nachhaltige Heilung. Wenn wir wachen Geistes erfahren, was uns heilt, laufen wir weniger Gefahr, Dinge zu tun, die diesen Prozess wieder zerstören.
Wenn hier von Heilung die Rede ist, dann schließt sie Gesundung ein, geht aber weit darüber hinaus. Die in der oben beschriebenen Studie zur Nahtodforschung befragten Personen waren fast alle so krank, dass sie operiert werden mussten. Am Ende waren sie sogar so krank, dass sie gestorben sind und doch fühlten sie sich so heil und ganz wie noch nie in ihrem Leben. Dies ist, davon bin ich fest überzeugt, unser aller Natur, auch wenn sie im Alltagsleben von Ablenkungen aller Art verschüttet ist. Im Shiatsu können wir wie in einer tiefen Meditation Zugang zu unserem transpersonalen Erfahrungsfeld bekommen. Das gibt uns die Chance, uns inmitten unserer Gebrechlichkeiten und Einschränkungen heil und ganz zu fühlen, ein Trost, auf den viele Kranke nicht mehr zu hoffen gewagt haben. Ich habe es schon erlebt, dass eine krebskranke Frau wenige Wochen vor ihrem Tod nach einer Shiatsu-Behandlung einen Traum hatte, in dem sie in kräftigen Zügen und voller Freude und Zuversicht in das unendliche Meer hinaus schwamm. Noch als sie mir den Traum erzählte, fühlte sie sich von der Kraft, die ihr im Traum begegnet war, durchströmt, obwohl die Krankheit ihrem Körper diese Kraft im Alltag schon längst genommen hatte.
In Kontakt mit unserem inneren Heilsein zu kommen ermöglicht es uns, aus einem Frieden heraus auf unsere Leiden und Unzulänglichkeiten zu schauen – es versöhnt. Manchmal ist in einem Prozess gar nichts anderes nötig, alle möglichen Beschwerden und Symptome gehen nach und nach zurück – interessanterweise auch solche, über die der Klient seinem Behandler nie berichtet hat. Dann scheint der innere Unfrieden und das Hadern mit sich selbst die Ursache für das Leid gewesen zu sein. Manchmal bleiben aber auch Beschwerden, die einer medizinischen Behandlung bedürfen. In solchen Fällen sagen die Klienten oft: „Meine Beschwerden sind eigentlich noch dieselben, aber sie machen mir nicht mehr so viel aus.“
Hier werden die verschiedenen Ebenen, auf denen Shiatsu wirkt, deutlich. Je tiefer der meditative Zustand während der Behandlung ist, desto mehr kommt eine spirituelle Erfahrungsebene ins Spiel; gleichzeitig bietet Shiatsu als ein Werkzeug der TCM (traditionelle chinesische Medizin) Möglichkeiten zur Linderung von Beschwerden. Je nach Ausrichtung des Behandlers verlagert sich der Schwerpunkt der Behandlung in die eine oder andere Richtung. Auf jeden Fall aber lässt sich Shiatsu nicht klar definieren und eingrenzen, da es den Kontakt mit dem Unbegrenzten einschließt. Wirklich zu fassen bekommt unser Verstand das Wirken des Qi (Ki) ohnehin nicht, auch wenn es so deutlich erfahrbar ist, dass es in China nicht als Energie, sondern als Substanz bezeichnet wird. Die Arbeit mit dem Qi (Ki) basiert nicht primär auf dem Wissen über die Lebenskräfte, sondern auf der Erfahrung der Lebenskräfte. Qigong („beharrliches Üben der Lebenskraft“) bietet den Raum für diese Erfahrungen und damit die Grundlage der Behandler-Kompetenz. „Tiefes Nachdenken“ stellt die Zusammenhänge her und erschließt die Gesetzmäßigkeiten. Aber die Lebenskraft ist immer mehr, als wir zu verstehen in der Lage sind. Deshalb sind auch die wundersamen Wege, auf denen sich Heilung vollzieht, nur sehr begrenzt zu verstehen – sie sind irgendwie selbstverständlich.
Zusammenfassung und Ausblick
Im Shiatsu erschließen sich dem Klienten innere Erfahrungsebenen, die ihm vorher noch nicht oder nicht in dieser Weise zugänglich waren. Je mehr die Aufmerksamkeit darauf gerichtet ist, desto größer wird die Bedeutung dieses Selbsterlebens, das sich im Laufe einer einzelnen Behandlung wie auch einer Behandlungsserie stark verändern kann. Die Kunst der Begleitung besteht darin, nonverbal mit Hilfe von Berührungen in unterschiedlichen Qualitäten und verbal die Aufmerksamkeit des Klienten auf feine innere Bewegungen und Prozesse zu lenken. Damit tritt der Klient mit sich selbst in eine erlebte Beziehung, also weniger in eine Auseinandersetzung als in eine Zusammensetzung mit sich selbst. Aus der Selbstzuwendung entwickelt sich eine verfeinerte und vertiefte Selbstwahrnehmung und mit der verbesserten Selbstwahrnehmung beginnt automatisch ein psychodynamischer Prozess; denn sowohl der Wahrnehmende als auch das Wahrgenommene verändern sich im Wahr-nehmungs-prozess, in dem wir zu uns nehmen, was wahr ist. Da es sich dabei um subjektive, also innere Wahrheiten handelt, weichen sie ihrer Natur nach oft von den „äußeren Wahrheiten“ ab. Im Körper verbinden sich das innere, seelische bzw. energetische Erleben und die äußere Welt. Deswegen ist das Einbeziehen des Körpers in die Seelen- bzw. Energiearbeit von größtem Wert. Seinen Körper zu spüren erdet und verbessert die Beziehung zur äußeren Realität – besonders wichtig bei sprunghaften psychischen Dynamiken, in denen der Klient sich als Opfer seiner wechselnden Stimmungen und Gedankenbewegungen erlebt. Das Erleben der Seelenkräfte und –schwingungen im Körper schafft neben der Erdung aber auch eine lebendige Verbindung zum transpersonalen Erfahrungsfeld. Im Shiatsu als einer Form energetischer Körperarbeit verbinden sich also, wenn man so will, Himmel und Erde, die beiden Pole des Menschseins.
Durch Beschreibung und Reflexion des im Inneren Wahrgenommenen entsteht Selbstbewusstsein, das gespeist wird aus einem klaren und tragfähigen Selbsterleben und einem Begreifen, dass sich aus diesem Erleben entwickelt. Selbstbewusstsein ist die Basis eines verbesserten Selbstverständnisses und dies wiederum, wenn es sich im Lebensalltag bewährt, lässt Selbstvertrauen wachsen, ein Vertrauen, das dem eigenen Selbst entspringt.
Aus dem bewussten (nicht notwendigerweise gedanklich bewussten!) Kontakt mit sich selbst entwickelt sich Selbstkompetenz, denn wenn wir beginnen, etwas wahrzunehmen und zu verstehen, eröffnen sich auch Einflussmöglichkeiten (Selbstwirksamkeit). Erst das Bewusstwerden einer Fehlhaltung macht ja bekanntlich ihre Korrektur möglich. Auf der Basis einer wachsenden Selbstkompetenz fällt es leichter, auch die Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Dies alles hilft uns, uns in der Welt zu behaupten und unseren Platz im sozialen Gefüge zu finden. Da der ganze Prozess mehr auf einem sich verändernden Selbsterleben basiert und nicht vornehmlich auf gedanklicher Reflexion, vollzieht er sich irgendwie selbstverständlich und ganz natürlich. Der chinesische bzw. japanische Begriff für natürlich heißt wörtlich übersetzt „aus sich selbst heraus seiend“. Dies ist für mich der faszinierendste Punkt an der energetischen Körperarbeit, dass sie sich ganz natürlich, wie von alleine, Schritt für Schritt der dem Leben innewohnenden Ordnung folgend entwickelt.
Selbstzuwendung
→ Selbstwahrnehmung
→ Selbsterleben
→ Selbstbewusstsein
→ Selbstverständnis
→ Selbstvertrauen
→ Selbstkompetenz
→ Selbstverantwortung
→ Selbstbehauptung
→ Selbstverständlichkeit
Verstehen wir Shiatsu auf diese Weise, so ist es eine klientenzentrierte Arbeit, deren Ziel wachsende Selbstkompetenz und Lebenskunst ist. Das Spektrum der Veränderungen reicht dabei von den kleinen und großen Herausforderungen des Alltags bis zu den tiefsten Fragen des Menschseins.
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© Joachim Schrievers (EK@schrievers.net), geb. 1955, Studium der Sportwissenschaften, von 1979 -1981 Studienaufenthalt in Japan: Zen-Shiatsu bei Shizuto Masunaga und Taijiquan bei Yang Ming Shi. Ausbildung in Qigong Yangsheng bei Prof. Jiao Guorui. Autor des 2004 erschienenen Buches „Durch Berührung wachsen“ (Huber Verlag).