Focusing als Bereicherung für die Shiatsu Praxis 4 (Ute Ursula Burkhardt)
In den letzten Artikeln über das Focusing als mögliche Bereicherung für die Shiatsu Praxis ging es um die erste Bewegung des Focusing, das Freiraum Schaffen. Es wurde aufgezeigt, wie diese so in die Shiatsu Begegnung einfließen kann, dass sich die KlientIn mit ihrer Aufmerksamkeit auf die Lebendigkeit ihres Körpers und den freien Fluss ihrer Energie beziehen kann. Ferner, wie zu dieser Verbindung mit dem Lebendigen zurückgefunden werden kann, wenn sie verloren geht.
Die KlientIn lernte beim „Freiraum Schaffen“ ihre so genannte „innere BeobachterIn“ kennen, die die Aufmerksamkeit lenkt und mit der die BehandlerIn in Kommunikation treten kann, wenn der Prozess es erfordert. Das Beziehen auf den Lebensstrom wird so zu einem Gemeinsamen von KlientIn und BehandlerIn. Shiatsu wird noch spürbarer als Weg erlebt, auf dem man sich nicht schwerpunktmäßig auf Symptome ausrichtet, sondern sich bewusst am Fluss der Lebensenergie orientiert.
Ich möchte Dich dazu einladen, den Zustand „Freiraum“ als Grundlage für die darauf folgenden nächsten Focusing Bewegungen aus dem Jetzt dieses Augenblicks noch einmal in Dir entstehen zu lassen:
Lenke Deine Aufmerksamkeit auf Dein gegenwärtiges körper-geist-seelisches Befinden.
Stelle Dir vor, dass Du völlig zufrieden und glücklich über den Gang Deines Lebens bist…
Achte darauf, was jetzt in Dir auftaucht…
Wahrscheinlich ist es irgendein Unbehagen über irgendetwas in Deinem Leben.
Versuche, dieses wahrzunehmen und es mit einer Überschrift zu betiteln:
„Ja, im Moment taucht dieses aus meinem Leben auf…“
Das Benennen unterstützt Dich darin, zwischen Dir und jenem einen kleinen Raum entstehen zu lassen, in dem Du atmen kannst.
Frage Dich: Wie würde ich mich fühlen, wenn dieses gelöst wäre?
Und warte ab, was in Dir geschieht…
Frage Dich: Fühle ich mich, davon abgesehen, völlig glücklich und zufrieden mit meinem Lebe?…
Und gehe mit dem, was als nächstes kommt, wie oben vor…
Verfahre weiter so…
Allmählich taucht vielleicht ein Hintergrundempfinden auf, das Dir irgendwie vertraut erscheint; das Dir bekannt vorkommt…
Frage Dich: Welches Empfinden ist oft da, auch jetzt, das sich zwischen mich und mein Wohlbefinden drängt?…
Nimm dieses wahr und benenne es, so dass ein wenig Distanz entstehen kann…
Frage Dich erneut: Wie würde ich mich jetzt fühlen, wenn auch dieses verschwände?
Auf diese Weise wirst Du schließlich zu einer Öffnung, zu einem Gefühl eines weiten und offenen Raumes in Dir gelangen.
Erlaube Dir, Dich hier eine Weile aufzuhalten.
(Frei nach Gendlin[1]Eugene T. Gendlin: Focusing – Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme – Otto Müller Verlag Salzburg 1981, S. 78)
„Diesen Raum kann man ganz körperlich spüren: Immer mehr Empfindungen werden freigesetzt, bis sich das Gefühl von körperlicher Verfestigung auflöst. Im Herzen kann man es als offenes, mitfühlendes Akzeptieren wahrnehmen und im Geist als einen klaren Raum des Gewahrseins, der alles in sich aufzunehmen vermag. In diesem unverkrampften Zustand sind Körper und Geist mit Qualitäten erfüllt, die ihre Ganzheit spiegeln. Wir erleben Wohlbefinden, Freude, Klarheit, Weisheit und Vertrauen – die Schätze des klaren Bewusstseins.“ (Jack Kornfield[2]Jack Kornfield – Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens – Econ Taschenbuch – Econ Ullstein List Verlag GmbH, München, 2002, S. 143)
Einen Felt Sense entstehen lassen
Das, was während des „Freiraum Schaffens“ wahrgenommen, benannt und „herausgestellt“ wurde, kann als etwas betrachtet werden, das nicht mehr mit dem Lebensstrom verbunden ist. Es ist ins Stocken geraten, hat sich verfestigt, oder dreht sich in Wirbeln, während der Fluss weiterströmt. Dieses, ursprünglich Teil des Flusses, möchte sich lösen, in Bewegung kommen und wieder Fließen sein. Hierfür benötigt es einen Raum, der von Annehmen, Achtsamkeit und Absichtslosigkeit geprägt ist. Es hilft ihm nicht, wenn wir uns mit seinen Wirbeln im Kreise drehen. Noch nützt es ihm, wenn es vom Verstand auseinander genommen, analysiert und gedeutet wird.
Im Vertrauen darauf, dass der Organismus selbst die Richtung kennt, wollen wir dem zuvor Herausgestellten so begegnen, dass sich die in ihm verfestigte Lebensenergie in den Lebensfluss integrieren kann:
Gib Dir ein wenig Zeit, um zu Deinem Empfinden eines weiten und offenen Raumes in Dir zurückzukehren…
Nimm diesen Raum bewusst wahr … und versuche, ihn innerlich etwas zu beschreiben, so dass er sich in Dir noch etwas ausdehnen kann…
Während Du mit diesem in Kontakt bleibst, wende deinen Blick noch einmal auf das, was Du zuvor herausgestellt hast…
Lass dies auf Dich wirken und überlasse es Deinem Inneren, auszuwählen…
Während Du mit Deiner Aufmerksamkeit bei Deinem weiten und offenen Raum verweilst, stelle Dir folgende Frage: Was entsteht in mir, körperlich, wenn ich dieses (Gewählte) auf mich wirken lasse?
Nehme einen kleinen Hauch davon…
Lass Dich davon berühren, wie von einer vom Himmel fallenden Feder…
Und lass Dir hierfür sehr viel Zeit…
Was entsteht in Dir?…
Und vielleicht taucht etwas in Dir auf…(Felt Sense)
Eine Art Aura…etwas Vages… wie ein scheues Reh, das vorsichtig auf eine Lichtung tritt…
Nimm einfach wahr: da ist etwas in mir… und vielleicht möchtest Du es mit einem „hallo“ begrüßen…
Versuche so allmählich, eine erste Beschreibung dafür zu finden…
„Es ist wie…“ (Einen „Griff“ finden)
Gendlin nennt diese erste Beschreibung des Felt Sense einen „Griff“ in Analogie zu einem Koffergriff, der Teil des Koffers ist und dazu dient, diesen zu tragen. Der Griff des Felt Sense ermöglicht es, zum Felt Sense zurückzukehren, wenn dieser im Moment verloren ging.
Der Felt Sense
Der Felt Sense ist die körperliche Empfindung zu einer Situation, einem Gefühl, einem Problem, einem Körpersymptom oder einem Lebensaspekt. Er ist das komplexe Ganze dieser Situation, und enthält in sich alles, was diese zu bedeuten hat. Er ist nicht die Wut (als Beispiel eines Gefühls), sondern „er kommt sozusagen ‚um’ die Wut ‚herum’ oder ‚unter’ ihr ‚hervor’ oder ‚zusammen mit’“ ihr.[3]Eugene T. Gendlin: Focusing –orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. Leben lernen 119. J. Pfeiffer Verlag, München, 1998, S. 38 Er ist das Unbekannte am Rand der Wut, das wir innerlich aufspüren und spüren, jedoch kognitiv noch nicht erfassen können. Er befindet sich in der „Grenzzone zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten”.[4]Eugene T. Gendlin: Focusing –orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. Leben lernen 119. J. Pfeiffer Verlag, München, 1998, S. 33
Er ist keine feste Gegebenheit, die immer an einer bestimmten körperlichen Stelle lokalisierbar wäre, sondern taucht auf, wenn wir ihn erfragen: „Was entsteht in mir, wenn ich das Ganze … auf mich wirken lasse?“
Das Erscheinen des Felt Sense wird körperlich oft als Erleichterung erlebt. Es ist wie ein inneres Aufatmen. Das, was als Stagnation und Beeinträchtigung erlebt wurde, erhält den Raum in dem es sich öffnen und entfalten kann, um die in ihm enthaltene Bedeutung zu offenbaren.
Im Kontakt mit dem Felt Sense
Ich lade Dich dazu ein, in Deiner Focusing Bewegung fortzufahren:
Finde zurück zu Deinem Felt Sense, indem Du Deine erste Beschreibung (den Griff) noch einmal in Dir wachrufst…
Nimm wahr, wie der Felt Sense erneut in Dir entsteht…
Vielleicht möchtest Du ihn mit einem „hallo“ begrüßen…
Lass Dir Zeit, bei ihm zu verweilen…
Wie zeigt er sich jetzt? Ist er gleich oder hat er sich verändert?
Versuche, es zu beschreiben…“es ist wie…“
Nimm diese Beschreibung zu Deinem Felt Sense und überprüfe, ob sie passt…
Vielleicht zeigt sich Dir eine noch stimmigere Beschreibung…
Überprüfe auch diese bei Deinem Felt Sense…
Du wirst einige Male zu Beschreibungen finden, die sich Dir in allen Modalitäten, wie Bildern, Sätzen, Gesten, Körperempfindungen zeigen werden…
Lausche nach innen und spüre bei Deinem Felt Sense, ob diese passen…
Lass dieses Hin- und Herwandern zu…
Nimm besonders wahr, was geschieht, wenn Deine Beschreibung passt und der Felt Sense sich verstanden fühlt…
Bleibe dort und genieße dies.
Frage Deinen Felt Sense: „Was macht Dich so…?“ „Was brauchst du als nächstes…?“
Lass die Antwort aus Deinem Felt Sense entstehen…
Erlebst Du eine Erleichterung, eine Bewegung, eine Öffnung oder etwas wie frische Luft in Dir?
Empfange alles, was zusammen mit dieser Erleichterung kommt…
Lass dieses für eine Weile auf Dich wirken und genieße es…
Worte, Bilder, Empfindungen, Erkenntnisse,… sind aus dem Felt Sense entstanden und haben eine körperlich spürbare Veränderung, im Focusing als „Shift“ bezeichnet, bewirkt.
Dort, wo es vorher unbeweglich und taub war, fängt etwas an, sich zu regen. Ein „Schritt“ in eine lebensbejahende Richtung ereignet sich.
„Halten Sie dieses Gefühl aufrecht, das Sie auf die richtige Spur weist, und kümmern Sie sich noch nicht um die Form, die es schlußendlich annehmen wird.“[5]Eugene T. Gendlin: Focusing – Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme – Otto Müller Verlag Salzburg 1981, S. .64
„Was auch immer im Focusing zu Ihnen kommt, heißen Sie es willkommen. Seien Sie froh darüber, dass Ihr Körper zu Ihnen gesprochen hat, was er auch immer gesagt hat. Was Sie jetzt erlebt haben, ist nur einer von vielen „shifts“, er bedeutet nicht das letzte Wort. Wenn Sie bereit sind, diese Botschaft auf freundliche Weise zu empfangen, werden weitere kommen. Nach diesem einen Schritt der Veränderung wird es weitere Veränderungen geben, was auch immer geschieht.””[6]Eugene T. Gendlin: Focusing – Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme – Otto Müller Verlag Salzburg 1981, S. .64
Der Lebensstrom hat seine Richtung eingeschlagen
Es ist die Vorwärtsbewegung, die uns im Focusing hauptsächlich interessiert:
Etwas entfaltet sich, blüht auf, ist spürbar reicher an Energie und tut einen ersten Schritt in die in ihm enthaltene Wachstumsrichtung. Dies ereignet sich, indem wir unser Körperwissen erfragen, mit unserer Aufmerksamkeit bei diesem verweilen und wahrnehmend geschehen lassen, wie das darin Enthaltene in all seinen Facetten erscheint und sich in Richtung Wachstum bewegt.
Shiatsu und Focusing
Die Ausrichtung auf den Lebensstrom und seine Entfaltungsprozesse ist das Gemeinsame von Shiatsu und Focusing.
In den ersten Schritten des Focusing gewinnen wir hierfür die „innere BeobachterIn“, die mit ihrer Aufmerksamkeit aktiv am Entfaltungsprozess beteiligt ist. Sie ist es, die diesen initiiert, bei ihm verweilt und seine Schritte in die lebensbejahende Richtung erkennt und empfängt. Die „innere BeobachterIn“ wird es auch in einer Shiatsu Begegnung vereinfachen, den Entfaltungsprozess in das gemeinsame Aufmerksamkeitsfeld zu rücken, um bewusster wahrzunehmen, wohin „Es“ sich gerade entfalten möchte, was der Entfaltungsprozess der momentanen Behandlung sein könnte, was dieser gerade benötigt und wann er in Gang kommt.
Als Shiatsu Praktikerin beschäftigte ich mich immer wieder damit, wie ich die von Klienten mitgebrachten Anliegen im geistig-seelischen Bereich im Rahmen einer Shiatsubehandlung beantworten kann. Auf der Suche nach der für mich stimmigen Form habe ich einige Therapierichtungen kennen gelernt, deren Ansatz mich jedoch zu weit vom Shiatsu hinwegzuführen schien. Im Focusing kann ich immer wieder von neuem die Erfahrung machen, dass das Verweilen mit der Aufmerksamkeit zu nie geahnten Schritten des Wachstums führt.
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Mein Dank gilt meinen Lehrern Klaus Renn, Johannes Wiltschko und Ann Weiser Cornell. Vor allem aber meinen Freundinnen Helga Hoenen und Teresa Plate, die mir Begleiterinnen in diesen Wachstumsprozessen sind und die ganz wesentlich zum Entstehen dieser Artikel beitrugen.
Literaturhinweise
- Ann Weiser Cornell: Focusing – Der Stimme des Körpers folgen; Anleitungen und Übungen zur Selbsterfahrung. ISBN 3 499 60353 5
- Klaus Renn: Dein Körper sagt dir, wer du werden kannst. ISBN 3-451-05616-X
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© Ute Ursula Burkhardt (http://www.uub-heilpraxis.de) ist Shiatsu-Lehrerin und Focusingtherapeutin in D-72762 Reutlngen (veröffentlicht in Shiatsu Journal 48, Frühjahr 2007)
Anmerkungen
↑1 | Eugene T. Gendlin: Focusing – Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme – Otto Müller Verlag Salzburg 1981, S. 78 |
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↑2 | Jack Kornfield – Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens – Econ Taschenbuch – Econ Ullstein List Verlag GmbH, München, 2002, S. 143 |
↑3 | Eugene T. Gendlin: Focusing –orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. Leben lernen 119. J. Pfeiffer Verlag, München, 1998, S. 38 |
↑4 | Eugene T. Gendlin: Focusing –orientierte Psychotherapie. Ein Handbuch der erlebensbezogenen Methode. Leben lernen 119. J. Pfeiffer Verlag, München, 1998, S. 33 |
↑5, ↑6 | Eugene T. Gendlin: Focusing – Technik der Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme – Otto Müller Verlag Salzburg 1981, S. .64 |