Focusing als Bereicherung für die Shiatsu Praxis 2. Einen äußeren und inneren Freiraum entstehen lassen (Ute Ursula Burkhardt)
In dieser Fortsetzung des Artikels über das Focusing und darüber, wie es die Shiatsu Praxis bereichern könnte, geht es um den ersten Schritt eines Focusing Prozesses, der im Focusing als „FreiRaum schaffen“ bezeichnet wird. Da es mir ein Anliegen ist, Focusing lebendig und erfahrbar zu vermitteln, habe ich Anleitungen (kursiv) mit aufgenommen, die sich an Euch als LeserInnen direkt wenden:
Ich möchte Dich zu Beginn dazu einladen, Deine Aufmerksamkeit für einen kleinen Moment auf Deine momentane Situation zu lenken:
Wo befinde ich mich gerade… Wie ist der Ort, an dem ich bin… Sind Menschen in meiner Nähe… Wie ist mein Verhältnis zu diesen… Wie viel Zeit- und Aufmerksamkeitsraum habe ich für mich und für das, was ich lese…Und lass Dir hierfür wirklich Zeit…
Dann bitte ich Dich, Deine Aufmerksamkeit mehr zu Dir selbst zu lenken:
Wie bin ich denn gerade da… Wie sitze, gehe, stehe ich… Ist es mir bequem… Kann ich meinen Körper und Atem spüren… Wie ist heute meine Stimmung…Was nehme ich jetzt gerade in mir wahr…
Und vielleicht magst Du das, was sich in Dir an Gedanken, Stimmungen, Emotionen oder Bildern zeigt, mit einem inneren „hallo“ begrüßen… und es mit einem „Etwas in mir ist heute…“ benennen…
Vielleicht kannst Du erleben, wie sich zwischen Dir und dem, was Du wahrnimmst, eine Art Raum eröffnet… Wie etwas frische Luft… Und lass Dir Zeit, dies zu genießen… bevor Du in Deinem eigenen Tempo zum Lesen zurückkommen möchtest…
FreiRaum schaffen meint, einen freien Raum entstehen zu lassen, in dem achtsames und wertfreies Wahrnehmen möglich wird und in dem etwas Neues stattfinden kann. Es ist wie eine Bewegung der Aufmerksamkeit, vom Alltagsbewusstsein zu einem Ankommen im Jetzt (äußerer FreiRaum) und zu dem, was sich im Inneren ereignet. Eine „Innere BeobachterIn“ stellt sich ein, die die innere Stimmung, Emotionen, Gedanken, Bilder… wahrnimmt. Wertfreies und absichtsloses Verweilen bei dem, was sich zeigt, öffnet einen Raum (innerer FreiRaum), in dem eine Beziehung zum Wahrgenommenen entstehen kann. Ein Zitat von Thich Nhat Hanh drückt dies wie folgt aus:
„Wenn es dir gelingt, ganz da zu sein, und du mit deiner Präsenz und Achtsamkeit das berührst, was ist, und tief schaust, wird sich dir die wahre Natur dessen, was du betrachtest, erschließen. Du wirst verstehen.“ (Thich Nhat Hanh: Schritte der Achtsamkeit[1]Thich Nhat Hanh, (1998) Schritte der Achtsamkeit. Eine Reise an den Ursprung des Buddhismus, Herder Spektrum, Seite 105.)
Das Erleben von FreiRaum und den Bewusstseinszustand FreiRaum beschreibe ich im Folgenden in Bezug zu einem Behandlungsrahmen.
Äußerer FreiRaum
Zu Beginn einer Praxistätigkeit beginnt das „Raum gestalten“ mit der Klärung des Settings:
Wir eröffnen einen „Raum“, in den wir Menschen einladen, um sie mit Focusing bzw. Shiatsu zu begleiten. Nachdem wir unsere Methode erlernt haben, lohnt es sich, heraus zu finden, wie diese zu unserem ganz Eigenen werden kann. In der Focusing Ausbildung nannte mein Lehrer J. Wiltschko dies: „Dein Focusing Haus bauen“.
Vielleicht hast Du gerade Lust dazu, Dein Shiatsu Haus zu bauen, oder anfallenden Renovierungsplanungen in Deinem bestehenden Haus ein bisschen Raum zu geben:
Dann lade ich Dich dazu ein, mit der Frage: “Wie könnte mein persönliches Arbeiten mit Shiatsu denn aussehen… etwas in Dir entstehen zu lassen… Deine Idee, wie Du mit Shiatsu arbeiten möchtest… angestellt oder selbständig… in einer Gemeinschaft oder alleine…Deine Behandlungsräume… Dein Da Sein als Shiatsu PraktikerIn… Deine Begegnungen mit den Menschen, die zum Shiatsu kommen…
Worin liegt für Dich die besondere Qualität des Shiatsu… Was ist denn Deine eigene Stärke im Shiatsu geben… Was möchtest Du persönlich durch Shiatsu erreichen… Wie würde es sich für Dich rund anfühlen wenn Du Shiatsu gegeben hast…Lass Dir für diesen Prozess Zeit…
Der „Shiatsu Hausbau“ eignet sich hervorragend als Thema bei der Supervision.
In einem klaren Setting ist es leicht, im Hier und Jetzt und in der gemeinsamen Begegnung anzukommen
Im Focusing wird der KlientIn viel Zeit gelassen, im Behandlungsraum, bei sich selbst und in der Beziehung mit der BehandlerIn anzukommen. Da Focusing im Sitzen oder Liegen und an jedem beliebigen Ort im Raum stattfinden kann, wird sie dazu eingeladen, das heute für sie Stimmige zu erspüren, wozu auch der räumliche Bezug zur BehandlerIn gehört. “Wo möchten Sie denn mich, Ihre Begleiterin heute haben und welcher Abstand zwischen uns fühlt sich gerade gut an?“
Ohne dass dies explizit benannt, und daraus eine „Übung“ gemacht wird, kann die KlientIn die Erfahrung machen: „Es geht hier um mich.“ „Ich habe alle Zeit der Welt“ „Ich werde ernst genommen“ „Ich selbst bin für mich verantwortlich“ „Es gibt hier Raum, Zeit und Begleitung für mich.“ „Ich bin jetzt hier!“ Ein Gefühl von Ermächtigung stellt sich ein und findet seinen Ausdruck auch in der Begegnung mit der BehandlerIn. Die Behandlung bzw. Begleitung wird zu einem gemeinsamen Projekt.
Auch im Shiatsu kann der KlientIn Raum gegeben werden, um bewusst im Behandlungsraum, in Kontakt mit sich selbst und in der Beziehung zur BehandlerIn anzukommen. Kleinere Anregungen wie: „Lassen Sie sich Zeit, hier anzukommen“… „Wie ist es, jetzt da zu sein“… „Möchten Sie zuerst einmal ein bisschen Luft holen, bevor Sie mir erzählen, was Sie heute mitbringen“… und das aufmerksame, achtsame und wertfreie Zuhören von Seiten der BehandlerIn geben hilfreiche Unterstützung hierfür. So entsteht Raum, um mit der Aufmerksamkeit nach innen zu lauschen.
Die Bewegung in einen Inneren FreiRaum
Die KlientIn wird dazu angeregt, über das Spüren des Körpers und des Atems nach innen zu lauschen… Was in mir möchte jetzt gerade meine Aufmerksamkeit… was für Körperempfindungen tauchen auf…welches Gefühl…Welche Gedanken… Sie wird dazu eingeladen, das, was sich zeigt, in einer inneren Haltung von „willkommen heißen“ wahrzunehmen und bei diesem für einen Moment zu verweilen. Wertschätzendes und absichtsloses Spiegeln und Zurücksagen durch die BegleiterIn unterstützen sie darin.
Vielleicht möchtest Du auch hier eine kleine Kostprobe nehmen:
Du könntest mit einem tiefen Atemzug in Deine Innenräume reisen… und Dich fragen…was ist denn im Moment so in mir da… und lass Dir hierfür Zeit…magst Du das, was sich zeigt, mit einem „Hallo“ begrüßen…und nimm wahr, wie es auf DeineBegrüßung reagiert…es ist gut, mit Diesem ein bisschen zu verweilen…und vielleicht zeigt es sich noch etwas deutlicher… Du findest allmählich zu einer Überschrift, die zu ihm passt…“das ist ja, wie…“…und spüre nach, wie es sich jetzt körperlich in Dir anfühlt…ist ein bisschen Raum in Dir entstanden…dann lade ich Dich dazu ein, wahrzunehmen, ob sich noch etwas zeigen möchte…und mit diesem ebenso zu verfahren…
Themen tauchen auf, die „unter“ den spontan genannten liegen. Diese sind oft von größerer Bedeutung und weisen auf die eigentliche Motivation, eine Begleitung zu suchen, hin.
Die besondere Art und Weise, nach innen zu lauschen öffnet meist den freien Raum wie von selbst: Es findet eine Bewegung statt, die dazu führt, das, was wahrgenommen wird, mit einem „Etwas in mir ist gerade …“ zu beschreiben. Zwischen Ich und Diesem entsteht eine Art frische Luft. Der Innere FreiRaum tut sich auf.
Innerer FreiRaum als Bewusstseinszustand
Die Bewegung vom Zustand des „Ich bin traurig“ zu der Erfahrung „Ich bin Ich und ich habe etwas Trauriges in mir dabei“ (als Beispiel) lässt einen freien Raum im Inneren entstehen und führt gleichzeitig zu der Erkenntnis des „Ich bin mehr als meine Themen“. Ein wahrnehmendes Ich, ein freier Raum und ein Thema sind entstanden.
Die KlientIn erlebt sich selbst als körperlich anwesendes, lebendiges und atmendes Wesen, das auch schwierige Themen mit dabei hat. Dies gibt ihr die Möglichkeit, sich auf ihr Heilsein, die Lebendigkeit ihres Körpers und den freien Fluss ihrer Energie zu beziehen. Sie stellt den herausgestellten Problemen die Selbstheilungskräfte ihres Organismus gegenüber. Gendlin schreibt dazu:
„Focusing beginnt damit, seinem Körper, seinem Sein, eine Pause zu gönnen, in der es sich selbst wieder als Ganzes finden kann…Darf Ihr Körper, Ihr Sein erst einmal es selbst sein, ohne Verkrampfung, weiß es schon alleine mit Ihren Problemen umzugehen.“ (Gendlin[2]Gendlin; E.T., Focusing, Reinbek, Rowohlt.Übernommen aus: Stumm, G., Wiltschko, J., Keil, W.(2003) Grundbegriffe der Personzentrierten und Focusing orientierten Psychotherapie und Beratung. Leben … weiterlesen)
Mit Hilfe konkreter Anleitungen zum FreiRaum finden
Manchmal kann es hilfreich sein, konkrete Anleitungen in Richtung FreiRaum zu erhalten:
Gendlin leitet den Prozess des FreiRaums gerne mit einer Sonde ein: „Was zeigt sich in Dir, wenn Du Dir sagst: Ich bin mit meinem Leben voll und ganz zufrieden….“
Eine andere Möglichkeit ist es, aufgetauchte Themen mit einer Überschrift zu betiteln und diese auf ein Blatt Papier zu schreiben. Oder: Im Raum gefundene Gegenstände als Symbolisierungen der einzelnen Themen zu verwenden. Zettel oder Gegenstände werden dann von der KlientIn in einem für sie sicheren Abstand so im Raum verteilt, dass sich in ihr ein Gefühl von FreiRaum auftut.
Auch die „Übung des Guten Ortes“ ist oft hilfreich:
Zwei Beispiele aus meiner Shiatsu Praxis
Eine meiner Shiatsu KlientInnen kam nach längerer Zeit wieder zum Shiatsu. In der Zwischenzeit war Folgendes passiert: Bei 2 ihrer Nichten und bei ihrer Mutter wurde innerhalb kurzer Zeit Brustkrebs diagnostiziert und ihr wurde geraten, einen Gentest vornehmen zu lassen. Dieser war leider positiv und der beratende Arzt riet ihr, so bald als möglich ihre Brüste und Eierstöcke entfernen zu lassen, um dem bis zu 85 % hohen Risiko, an Krebs zu erkranken, zu entgehen. Sie war verzweifelt und in der Angst vor Erkrankung, im Stress eine Entscheidung für oder gegen eine Operation zu finden und in der Angst um ihre eigenen Töchter gefangen. Die Sorge, ihr jetziger Zustand könnte das Erkrankungsrisiko erhöhen, ließ die Frage aufkommen, wie sie sich auf ihre Energie und ihr körperliches Wohlbefinden beziehen könnte.
Ich bot ihr an, mit Hilfe einer Anleitung einen FreiRaum zu suchen. Da sich das Körperspüren zunächst als sehr schwierig erwies, fragte ich sie, ob es irgendwo im Körper einen Ort gab, an dem ein wenig Wohlbefinden wahrnehmbar war…Eine Art Höhle im Bauch erschien. Ich ermutigte sie, mit ihrer Aufmerksamkeit dort zu verweilen. Im wertschätzenden und absichtslosen Raum des Wahrnehmens breitete sich eine warme, wohlige Empfindung im Bauchraum aus. In der Vorstellung gelang es ihr, sich selbst dort sozusagen niederzulassen. Hier erlebte sie sich geborgen und geschützt; ihr Körper entspannte sich; sie atmete auf. Das Körperwissen von Lebendigkeit und Fluss stellte sich wieder ein.
Eine an Fibromyalgie erkrankte Klientin kam mit starken Schmerzen zum Shiatsu. Im Gespräch über ihre Schmerzen und wie diese ihr Leben beeinträchtigten, fragte ich sie, ob es etwas in ihrem Leben gebe, das trotz alledem Spaß machte. Sie fing an, mir begeistert vom Malen zu erzählen. Ihr Gesicht begann zu strahlen; sie atmete auf. Ich spiegelte ihr dies, was den Zustand noch etwas verstärkte. Die Frage danach, wie sie sich denn beim Malen fühle, ließ sie die Arme öffnen. Sie beschrieb mir, wie sich ihr Herz öffnete, sie mehr Luft bekam und ihre Schultern leichter wurden. Ich lud sie dazu ein, diesen Zustand mit all ihren Sinnen zu erkunden, um ihn sich im Körper ausbreiten zu lassen. Entspannung das Gefühl von „frei sein“ und ein Wohlbefinden machten sich in ihr breit.
Meinen Vorschlag, von diesem guten Körpergefühl aus, ein „hallo“ zu ihren Schmerzen zu schicken, griff sie auf. Dies gelang und die schmerzhaften Zonen begannen, sich zu entkrampfen. Die Möglichkeit, ihre Aufmerksamkeit dorthin zu lenken, wo es fließt und sich gut anfühlt, um von dort in Kontakt mit den Schmerzen zu treten, verändert sie zunehmend.
Lebendiger Fluss
Im Focusing wie auch im Shiatsu suchen wir das Fließende und Lebendige. Wir wollen mit unserer Energie und dem eigenen inneren Heilsein in Kontakt kommen und diesem Raum geben, sich zu entfalten. Ich möchte hier gerne meinen Focusing Lehrer Johannes Wiltschko zitieren:
„Ein Archipel: Da gibt es Klippen, Sandbänke und Atolle (starres, strukturgebundenes Erleben) und dazwischen ist das Meer (freies, wandlungsfähiges Erleben). Wasser, das strömt und in seiner Tiefe voll verborgenen Lebens ist. Wir fahren mit unserem Focusing – Schiffchen auf diesem Wasser und schwimmen mit dem lebendigen Strom des Meeres mit, zwischen den Klippen hindurch, um die Atolle herum, betrachten sie, untersuchen sie und suchen uns vielleicht ein sicheres Landeplätzchen. Auf jeden Fall wollen wir nicht schnurstracks auf den harten Fels zusteuern und Schiffbruch erleiden. Wir fließen immer mit dem Wasser und vermeiden sinnlose Anstrengung und Gewalt. Natürlich sind die Inseln verlockend in ihrer vertrauten, scheinbaren Sicherheit. Aber sie sind starr und unbeweglich und wenn wir Veränderung wollen, suchen wir das Fließende, das in Bewegung ist.
Und: Stetes Wasser höhlt den Stein.“[3]Focusing Ausbildungsmaterialien DAF, Freiraum und strukturgebundenes Erleben von Johannes Wiltschko. Aus: Focusing: Das Überschreiten der Beschränkungen in der Gsprächspsychotherapie. … weiterlesen
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© Ute Ursula Burkhardt (http://www.uub-heilpraxis.de) ist Shiatsu-Lehrerin und Focusingtherapeutin in D-72762 Reutlngen (veröffentlicht in Shiatsu Journal 48, Frühjahr 2007)
Anmerkungen
↑1 | Thich Nhat Hanh, (1998) Schritte der Achtsamkeit. Eine Reise an den Ursprung des Buddhismus, Herder Spektrum, Seite 105. |
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↑2 | Gendlin; E.T., Focusing, Reinbek, Rowohlt.Übernommen aus: Stumm, G., Wiltschko, J., Keil, W.(2003) Grundbegriffe der Personzentrierten und Focusing orientierten Psychotherapie und Beratung. Leben lernen 155, Pfeiffer bei Klett – Cotta, S.131. |
↑3 | Focusing Ausbildungsmaterialien DAF, Freiraum und strukturgebundenes Erleben von Johannes Wiltschko.
Aus: Focusing: Das Überschreiten der Beschränkungen in der Gsprächspsychotherapie. Personzentriert. Linz 1988 und GwG-zeitschrift 68, Köln 1988 und in Wiltschko, J. Von der Sprache zum Körper. Hinführungen zur Focusing Therapie, Focusing Bibliothek, Band 2 |