Ernährungstrends im Wandel
Während es in Österreich und Deutschland in der Nachkriegszeit das vorrangigste Ziel war, die Mangelernährung zu überwinden, erlaubte der seit Mitte der 50er-Jahre steigende und zunehmend größere Bevölkerungsschichten umfassende materielle Wohlstand eine nachhaltige Umgestaltung der täglichen Ernährung: Kartoffeln, Getreide- (insbesondere Roggen-)Produkte gingen im Verbrauch zurück und parallel dazu stieg der Konsum an Fleisch, Zucker, Milchprodukten, Obst und Gemüse.
Der nächste Wandel in der Esskultur vollzog sich dann Ende der 80er-Jahre. Der Kartoffel-, Milch- und Brotkonsum stabilisierte sich, und der Verbrauch an Fleisch und Zucker ging zurück. Parallel dazu stieg der Konsum an Gemüse, Fisch, Pflanzenfett, Nudeln und Reis.
Diese – generellen und damit oberflächlichen – Daten, die vielfach eine gewisse Kontinuität in den Ernährungstrends suggerieren, haben jedoch, was die Ernährungsgewohnheiten im Detail betrifft, nur eine geringe Aussagekraft, denn beispielsweise ist der Anteil an Frischkartoffel stetig gesunken, wohingegen der Anteil an verarbeiteten Produkten („Veredelungsgemüse“) gleichermaßen stieg. Dennoch spricht man weiterhin von Kartoffeln und Kartoffelkonsum. Ähnliche Veränderungen hat es auch in anderen Bereichen gegeben, z.B. bei Milchprodukten oder alkoholfreien Getränken. Fruchtjoghurts und Energydrinks unserer Zeit sind aber mit Sicherheit nicht mehr dieselben Produkte wie vor fünfzig Jahren.
Zugenommen hat im Wandel der Zeit auch die Außerhausverpflegung: Wurde 1962/63 in Deutschland lediglich jede zehnte Mark für Lebensmittel in Gaststätten und Gemeinschaftsverpflegung ausgegeben, so war es 1978 schon jede fünfte und 1993 jede viereinhalbte Mark. Parallel dazu haben sich auch die häuslichen Ernährungsgewohnheiten verändert: Tiefkühlpizzas oder Pommes frites werden heute bereits häufiger zu Hause als in Gaststätten gegessen.
Mit einem weiteren Anstieg der Außerhausverpflegung wird gerechnet – nicht zuletzt auch wegen dem allgemeinen Rückgang der Kochfertigkeiten und der für das Essen aufgewendeten Zeit. Etwa vierzig Minuten dauern gegenwärtig – die Zahlen beziehen sich auf Deutschland – noch die drei Kernmahlzeiten, und die Zeit für die Zubereitung des Essens liegt durchschnittlich noch darunter. Nur noch in einem Drittel der deutschen Haushalte wird täglich, in einem weiteren Drittel fast täglich gekocht. Je jünger die Personen und je kleiner die Haushalte sind, desto seltener wird gekocht und desto geringer sind die Kochkenntnisse. Fast 80 Prozent der Männer können nur unzureichend kochen (eine Ausnahme bilden homosexuelle Männer, von denen zwei Drittel gerne kochen), und auch die Zahl der jungen Frauen, die nicht mehr kochen können, nimmt zu.
Essen zu Hause bedeutet zunehmend kalte Küche und schnell zubereitete Fertiggerichte. Verarbeitete und schnell zu nutzende Produkte gewinnen an Bedeutung: Feinkost, Babynahrung, Fertiggerichte, Konserven, Snacks und Tiefkühlprodukte.
Die Notwendigkeit und die Fähigkeit, Speisen zuzubereiten, nehmen ab. Ein Großteil der heutigen Lebensmittel und Speisen ist bereits bearbeitet, muss teils nur noch erwärmt oder überhaupt nur gegessen werden. Damit entfallen Alltagspraktiken zunehmend und werden durch käufliche Dienstleistungen ersetzt. Essen ist nicht mehr der umfassende Prozess von Einkaufen, Zubereiten, Servieren, Verzehren und Verdauen – vielmehr konzentriert sich Essen mehr und mehr auf die bloße Nahrungsaufnahme. Essen entgleitet so immer mehr unseren Sinnen, was mit besonderen Angeboten begegnet wird, in denen das Essen selbst zum Erlebnis gemacht wird (z.B. Ritteressen).
Männer sind in Sachen Ernährungsstil, so Dr. Uwe Spiekermann (wissenschaftlicher Assistent im Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Göttingen) in Psychologie Heute (November 2002), „Trendsetter aus Inkompetenz“. Sie konsumieren weit überdurchschnittlich Fertiggerichte, essen weit häufiger außer Haus und wissen wenig über Ernährung und Nahrung.
Auch verändert sich unsere Nahrung zunehmend – abgesehen von vielfach in Nahrungsmitteln enthaltenen Zusatz- und Giftstoffen durch Umweltbelastungen und Herstellungsmethoden – qualitativ. Sie ist immer weniger über ihr Aussehen, ihre Zusammensetzung, ihren Geruch, ihren Geschmack und ihre Konsistenz zu identifizieren. Stattdessen ist sie verarbeitet, verpackt, wird kommerziell präsentiert und ist Teil einer künstlichen Gesamterscheinung, denn Essen hat weit mehr Aufgaben, als uns zu ernähren. Essen dient auch als Projektionsfläche unserer Wünsche. Wir essen vielfach keine Lebensmittel mehr, sondern materialisieren gleichsam Gesundheit und Wohlbehagen, Genuss und Prestige. Unser Essen soll zeigen, wer wir sind und wer wir sein wollen.
Eine (Rück-)Besinnung, so Dr. Spiekermann, auf die „Kulturtechnik Essen“, die zentral auf der Fähigkeit gründet, Speisen eigenhändig zubereiten zu können, scheint sinnvoll und notwendig. Nur die Fähigkeit, Speisen selbst zuzubereiten, kann dazu führen, dass wir ein wirkliches Wissen vom „rechten Essen“ (zurück-)erwerben. Und nur dieses Wissen erlaubt einen selbstbewussten Umgang mit möglicher Gefährdung und öffnet zugleich den Blick auf die Freuden des Essens – auf die Erfüllung, die in einem gelungenen Mahl steckt, das physiologischen Bedarf und psychologische Bedürfnisse gleichermaßen miteinander verbindet.