Eine „Buchrückendiagnose“ (Ulrike Schmidt)
Bücher sind toll. Bücher sind aus Hochglanzpapier, haben bunte Bilder und riechen gut. Ich liebe die Buchstabenschwünge, die Halbmonde und die scharfen Zacken, die sich wie von Zauberhand auf unsichtbarer Linie dahinziehen. All die I-Punkte, die Tüttelchen und die Schwänzchen vom großen Q. Bücher liegen prima in der Hand. Aber noch mehr und viel öfter stehen sie in trauter Nachbarschaft im Regal. Stauben, gilben, altern. Faktisch nutzlos. Auch Shiatsu-Bücher. Warum kaufen wir immer mehr Bücher, immer neuere, immer bessere? Steckt mehr dahinter, als das “Haben, Haben” wollen einer ins Ungleichgewicht geratenen Magenenergie?
Sicher, es gibt den Menschenschlag der Autodidakten, die ich nie habe verstehen können. kaufen, lesen, lernen. Als Lernmöglichkeit unabhängig von einem Lehrer zu lernen, haben Bücher ihre Berechtigung. Es kann aber auch ein Zeichen für eine Metallstörung sein: wer sich nur mit Büchern umgibt “braucht” keine Menschen, Lehrer, Meister mehr. Er vereinsamt und isoliert sich hinter Buchstaben und Eselsohren.
Die Frankfurter Buchmesse spukt jedes Jahr immer größere Mengen auf den Markt. Die Autoren nehmen zu. Die Übersetzungen nehmen zu. Und wir meinen, wir würden etwas verpassen, falls wir nicht auch mitkaufen. Bestimmte Bücher sind ,,in” und ein ,,muss” in der Shiatsu-Szene. Ich selbst besitze viel Fachliteratur zu diesem Themenkreis. Ich verkaufe Shiatsu-Bücher. Aber habe ich deshalb auch alle gelesen und durchgearbeitet? Hand aufs Herz. Keineswegs. Schuldig des Nichtlesens.
Ein Buch hat schließlich den alleinigen Anspruch, gelesen zu werden. Aber ich könnte es ja, wenn ich nur wollte, jederzeit, jawohl, ich habe es ja schon so gut wie gelesen. Nachschlagen, wiederholen, sofort abrufbares Wissen, an dem es mir in meinem Hirn mangelt (meine schwache Milzenergie lässt grüßen!).
Bücher sind mir Trost, Stütze, Gefährte. Es ist so verdammt beruhigend, sie zu haben. Ich brauche niemanden mehr zu fragen, die Meister stehen im Regal. Eine Versicherung für den Ernstfall: die nächste Wissenslücke kommt bestimmt.
Vor der Schrift hat es die Bilderschrift gegeben. Vor der Bilderschrift die Bilder. Kunstwerke und Felsmalereien sind überliefert aus einer Zeit von vor über 25.000 Jahren. Die Knotenschrift (Quipu) der Inkas ist bis heute nicht entschlüsselt. Sicher ist, dass sie u.a. den Hirten diente, um ihre Tiere zu zählen. Zeichen und Schrift als Helfer, als Hilfestellung. Steinmännchen als Wegweiser sind auch heute noch in bestimmten Regionen weit verbreitet (mal angenommen, es gebe keine Straßenschilder und Wegweiser…) Das nachweislich älteste bekannte Schriftsystem stammt aus den Hochkulturen Mesopotamiens 3500 bis 3000 v.Chr. ): die Keilschrift. Eine geregelte Staatsführung erforderte scheinbar ein solches System. Tempelbeamte, die mit der Betreuung des Gemeinwesens beauftragt waren, haben vermutlich die Schrift entwickelt. Die Schrift erleichterte den Handel, die Registrierung, die Kontrolle.
Die Schrift diente also als Mitteilung von (im weitesten Sinne) Bewusstseinsinhalten. Zurück zum Shiatsu. Ein wichtiger Aspekt – wenn nicht sogar der wichtigste – im Shiatsu ist die Intuition. Intuition auf der Basis von einem festen Stammwissen (Meridianverläufe, Diagnoseformen, Energiezustände etc.). Intuition, das ist das unmittelbare Erfassen oder Begreifen ohne verstandesgemäße Überlegung. Intuition, das ist vielleicht sogar die wichtigste Quelle der Erkenntnis.
Im alten China war Nachfragen im Meister-Schüler-Verhältnis verpönt. Es war eine Kultur des Lernens durch Nachahmung, durch Schauen und Zuhören. Oft die gleiche Art, wie Kinder viele Dinge lernen.
Fragen aktiviert unsere linke Gehirnhälfte. Die ist u.a. zuständig für Rationalität. Die rechte Gehirnhälfte ist verantwortlich für Kreativität, Spiritualität, Intuition. Solange wir denken “wo genau läuft der Meridian”, sind wir in der linken Hirnhälfte konzentriert. Erst, wenn wir “gelernt” haben, dass auch unsere Daumen “denken” können, lassen wir der rechten Hirnhälfte eine Chance ihre grandiosen Fähigkeiten einzusetzen: plötzlich – und meist unerwartet – spüren wir die berühmten “Sieben Schichten” eines Tsubos; vielleicht fühlen wir uns im Kontakt mit dem Qi-Fluss eines Meridians, verweilen in genau der ,,richtigen” Dauer in einem Bereich. Jedes schematische dreimal 5 bis 7 Sekunden ,”rücken”, killt schon im Ansatz die Förderung der Intuition (und wird nebenbei bemerkt sicher auch der Sache nicht gerecht). Mitzählen, Zählen tut schon wieder die linke Gehirnhälfte!
Einen Lehrer nehmen und annehmen. In einem Vertrauensverhältnis üben, lernen, wach sein, auf sich selbst hören. Das tut unserer rechten Gehirnhälfte gut. Meditation, Tai Chi, Qi Gong machen, das sind Möglichkeiten, die unserem Geist helfen können ruhig und froh zu werden. Mit anderen Worten: Hat schon je irgendwer durch eine Buchlektüre Fahrradfahren gelernt?
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© Ulrike Schmidt, Jahrgang 1960, Diplomierte Finanzwirtin, Lehrerin für Shiatsu und Qi Gong. Mitbegründerin der Berliner Schule für Zen Shiatsu. Goltzstr. 23, D-10781 Berlin. Tel.: +49 (030) 216 11 05, Fax: +43 (030) 217 569 47, http://www.zenshiatsu.de