Ein Meridian – Was ist das? (Wilfried Rappenecker)
Unterhalb seiner Oberfläche findet sich an jeder Stelle des Körpers eine Berührungsebene, die leichter als andere Körpertiefen eine direkte Kommunikation mit anderen Bereichen des Körpers und mit dem ganzen Menschen möglich macht. Ich möchte diese Ebene die Kommunizierende Ebene nennen. An verschiedenen Bereichen des Körpers kommt die Hand des Körperarbeiters in unterschiedlicher Tiefe mit ihr in Kontakt. So liegt sie beispielsweise auf der Innenseite des Handgelenkes meist in der Haut oder sehr dicht darunter. Im Bereich von Konzeptionsgefäß 17 meist im Brustbein oder im Bindegewebe dicht davor, so dass eine leichte Berührung den Kontakt bereits herstellt. An anderer Stelle wie z.B. an der Rückseite des Oberschenkels taucht diese Ebene recht tief ab. Hier muss man meist mehrere Zentimeter tief einsinken, um sie zu berühren.
Die Kommunizierende Ebene ist sowohl ein physisches als auch ein energetisches Phänomen. Zum einen braucht es einen sehr konkreten physischen Kontakt, das bewusste Berühren einer wahrnehmbaren körperlichen Struktur, z.B. eines Muskels oder einer Faszienschicht, um anzukommen. Andererseits handelt es sich bei dieser Ebene wie bei allen energetischen Phänomenen um einen Raum, der nur betreten werden kann, wenn die behandelnde Person über den konkreten physischen Kontakt hinaus „in Weite” berührt, bzw. selber einen solchen Raum in sich entstehen lässt.
Die Hauptmeridiane des Shiatsu sind Teil dieser kommunizierenden Ebene. Wie die Adern eines Blattes stellen sie besondere Übertragungs- und Verbindungswege in dieser Ebene dar. Mit zunehmender Erfahrung (entsprechende Anleitung durch eine/n Lehrerln ist sehr hilfreich) kann die Shiatsu-BehandlerIn diese „dicken” Meridianäste in der Ebene, in der sie liegen, an vielen Stellen genau lokalisieren.
Dabei hilft zum einen die Wahrnehmung von Unterschieden im jeweiligen Körpergewebe, das die Kommunizierende Ebene an dieser Stelle durchdringt. Dies können z.B. Dichte oder Spannungszustand von Muskeln, Knochen oder Bindegewebe sein. Solche Unterschiede werden durch den energetischen Aktivitätszustand des Meridians hervorgerufen. Der Meridian selber scheint allerdings ein rein energetisches Gebilde zu sein. In wirklichen Kontakt mit ihm kommt man nur über die Berührung in Weite.
In Weite zu berühren bedeutet, sich in der Berührung leicht und weit zu fühlen. Dies ist ein Prozess, der mit zunehmender Praxis nahezu von selber einsetzt. Durch spezielle Übungen kann er gezielt gefördert werden. Er geht mit einer Entspannung der Schultern und zumindest teilweisem Loslassen von Blockaden in verschiedenen Körperbereichen einher.
Eine solche Berührung lässt periphere Anstrengungen, mentale und physische Anspannungen unwichtig werden. Die Berührung selber kommt dann aus dem ganzen Körper, vor allem aus dem Inneren des Körpers, aus dem Hara und aus dem Herzen. Ein Ort im Hara scheint dabei von besonderer Bedeutung zu sein, die Region des Solarplexus, der Ort der Begegnung im Menschen.
Von einer physischen Warte aus erscheint eine Berührung in Weite als relativ unscharf. Bemerkenswerterweise liegt jedoch gerade in dieser relativen Unschärfe die Möglichkeit, klar zu sehen. Was hier wahrgenommen und berührt werden kann sind die Hauptäste der Meridiane. Nach den Vorstellungen der Fernöstlichen Medizin sind Meridiane Manifestationen jeweils eines energetischen Organs. Von den Hauptmeridianen ausgehend breiten sie sich immer stärker verzweigend im ganzen Körper aus und erreichen mit ihren feinsten Verästelungen letztlich jede Zelle des Körpers.
Um Meridiane verstehen zu können, ist es wichtig, das Konzept der (energetischen) Organe zu verstehen. Man unterscheidet 12 verschiedene energetische Organe. Von einer Ausnahme abgesehen (dem „3-fachen Wärmer”) tragen diese die Namen anatomisch-physiologischer Organe, mit denen sie in einer besonderen Beziehung stehen wie z.B. Magen, Herz oder Niere. Ihre Bedeutung jedoch geht weit über die Funktion der körperlichen Organe hinaus. Letztlich stellen sie so etwas wie verschiedene Schwingungsebenen dar. Sie durchdringen, verbinden und steuern alle Manifestationsebenen des Lebens wie z.B. die körperlichen, seelischen, geistigen und spirituellen „Körper” des Menschen.
Meridiane sind nicht identisch mit dem energetischen Organ, dessen Information sie tragen. Sie sind lediglich Bereiche, in denen deren Schwingungsqualität und -information sich im Körper verstärkt aufbaut, weshalb sie hier auch leichter wahrgenommen und berührt werden kann. Wir müssen davon ausgehen, dass letztlich jede Körperzelle die Informationen aller 12 Schwingungsebenen in sich trägt, ebenso jeder noch so kleine Bereich im seelischen, geistigen oder spirituellen Körper des Menschen.
Die Hauptmeridiane sind Hauptstrassen der Informationsübermittlung vom Ganzen zu einzelnen Bereichen des lebendigen Menschen wie auch vom Einzelnen zum Ganzen. Für den Shiatsu-Behandler stellen sie quasi Informationsschnittstellen dar, an denen er sich mittels entspannter Berührung „einklinken” kann und auf unterschiedliche Weise die Informationswege selber und auch die Schwingungsqualität des jeweiligen energetischen Organs zu beeinflussen vermag.
Es ist möglich, das energetische Organ an anderer Stelle im Körper über andere energetische Muster als die des Meridians zu erreichen, sogar auf anderen Ebenen, die sich nicht in erster Linie im Körper des Menschen finden. Hier spielt das Wissen um andere Manifestationsorte eines energetischen Organs im Menschen eine wichtige Rolle und vor allem die feine Wahrnehmung von Stimmungsqualitäten „im Raum”. Dies soll hier nicht weiter besprochen werden.
Auf der körperlichen Ebene sind die Organe in den 3 Brennkammern zu Hause. Das heißt, am deutlichsten drücken sie sich im Rumpf aus und sind dort am einfachsten wahrnehmbar. Obwohl die Organe auch auf den anderen Ebenen der menschlichen Existenz präsent sind, ist ihr Ausdruck im Körper im Shiatsu besonders wichtig, weil Shiatsu unmittelbar mit dem Körper arbeitet. Shiatsu ist eine Körperarbeit.
Meridian-Shiatsu ist für mich in erster Linie eine Arbeit mit dem energetischen Organ, eine Arbeit mit Schwingungsebenen. Satter Körperkontakt und ein klarer Geist stellen die Verbindung zu diesen her. Die Arbeit mit dem Meridian stellt eine technische Herangehensweise dar, die uns den Kontakt zur jeweiligen Schwingungsebene erleichtert. Im Shiatsu ist die Meridianarbeit ein technisches Hilfsmittel neben mehreren anderen, allerdings ein wichtiges.
Die Arbeit mit Meridianen kann deshalb zu einem wesentlichen Instrument werden, weil die Informationen des energetischen Organes auch in den Meridianen transportiert werden.
Das schließt Blockaden und Deformationen mit ein. Was wir in der Arbeit mit einem Menschen nämlich als Blockaden und Deformationen wahrnehmen, sind essentielle Informationen des Ganzen an die Teilbereiche mit dem Ziel, die Homöostase des Ganzen zu erhalten.
Modifizierungen und Unterbrechungen im Fluss eines Meridianabschnittes sind Ausdruck solcher essentiellen Informationen. Sie werden im Auftrag des Ganzen eingerichtet, das im Augenblick keine ökonomischere Lösung für ein bestehendes Problem kennt als diese (energieaufwendigen) Einschränkungen des Ki-Flusses.
Umgekehrt können nun dem Ganzen über eine Verbesserung des Flusses in einzelnen Meridianabschnitten und eine Beeinflussung der Schwingungsqualität andere, evtl. bessere Lösungsmöglichkeiten angeboten werden.
Darin liegt die Bedeutung von Meridian-Shiatsu, die Bedeutung von therapeutischem Shiatsu generell. Grundsätzlich ist dies nämlich auch in einem meridianfreien Shiatsu möglich. Meridian-Shiatsu bietet allerdings eine einfache und elegante Möglichkeit, kontinuierlich mit einer Schwingungsqualität zu arbeiten und auch weit von einander entfernte Bereiche des Körpers auf dieser Ebene miteinander zu verbinden.
Tiefe und Weite des Meridians
Die kontinuierliche Arbeit „auf` einem Meridian (eigentlich müsste es „in” einem Meridian heißen) stellt eine Möglichkeit dar, die Schwingungsebene eines energetischen Organs zu erreichen und zu beeinflussen. Die Beeinflussung geschieht dabei durch einfache Präsenz im Meridian. Eine einfache Berührung reicht aus, spezielle Manipulationen sind nicht erforderlich, sie können die Wirkungen im Gegenteil sogar beeinträchtigen.
Dazu genügt es allerdings nicht, physisch an der Körperoberfläche am Ort eines theoretischen Meridianverlaufes zu sein – wenn auch die Kenntnis der theoretischen Verläufe naturgemäß eine wesentliche Voraussetzung für diese Arbeit ist. Es ist wichtig, quasi in den Meridian einzutauchen, was über eine rein körperliche Berührung hinausgeht. Es beinhaltet physische Tiefe und energetische Weite.
Physische Tiefe bedeutet, dass die Behandlerin die Tiefe im Körper des Klienten erreicht, in der sie auf Kommunizierende Ebene und Meridian trifft. Wie anfangs beschrieben kann dies an verschiedenen Stellen des Körpers in sehr unterschiedlicher Tiefe sein. Wenn wir im Unterricht diese Tiefe in einer speziellen Übung bewusst aufsuchen, sind die Schüler nicht selten überrascht, wie tief das sein kann! Shiatsu ist immer auch Körperarbeit und die physische Tiefe ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit.
Energetische Weite bedeutet, in wirklichen Kontakt mit dem Meridian als einem energetischen Gebilde zu kommen. Wie oben bereits beschrieben setzt dies das Gefühl von Ausdehnung und Weite im Behandler voraus. Wenn man in dieser Weise in einen Meridian eintritt, kann man erfahren, dass Meridiane wirkliche dreidimensionale Gebilde sind.
Obwohl eine äußere Begrenzung letztlich nicht existiert, gibt es beim Eintritt in den Meridian einen Punkt, wo man seine spezielle Schwingung zum ersten Mal wahrnimmt – über eine erste deutliche Reaktion auf diese Berührung. Diese Eintrittsstelle scheint von der Aufmerksamkeit des Berührenden abhängig zu sein und es ist möglich, dass sie bei unterschiedlichen Behandlern in unterschiedlicher Tiefe liegt. Für eine zuschauende Person ist sie jedoch deutlich wahrnehmbar. Man könnte sie als die Peripherie des Meridians bezeichnen.
Die Peripherie ist Yang und die energetische Reaktion auf Berührung an dieser Stelle ist relativ„laut”, d. h. recht gut wahrnehmbar. Sinkt man nun ein wenig tiefer ein, so kommt man auf diese Weise dem Zentrum zumeist näher. Bleibt der Kontakt rein körperlich, so wird man das Zentrum trotzdem verfehlen. Man wird körperlich am richtigen Ort sein und trotzdem nicht da sein. Dies hängt mit der energetischen Natur eines Meridians zusammen. Der energetische Raum kann nur betreten werden, wenn Ausdehnung und Weite in der Berührenden Person quasi als Schlüssel zur Verfügung stehen. Das Zentrum des Raumes ist Yin und die energetische Reaktion auf eine Berührung im Zentrum ist nicht selten auffallend ruhig.
Kyo und Jitsu – Landschaft eines Meridians
Wenn man in einer solchen Aufmerksamkeit dem Verlauf eines Meridians folgt kann man feststellen, dass sowohl der erste Kontakt, die Peripherie, als auch das Zentrum eines Meridians an verschiedenen Stellen sich in sehr unterschiedlicher Tiefe finden und die Reaktionen auf Berührung von sehr unterschiedlicher Art sein können. Der erste Kontakt kann mit der ersten leichten Berührung der Haut oder bereits davor zustande kommen. An anderer Stelle muss man vielleicht tief einsinken, evtl. mehrere Zentimeter tief, bis man eine erste Reaktion wahrnimmt.
Zwischen der ersten Reaktion bis zum Zentrum des Meridians kann ein deutlicher Raum liegen, den die behandelnde Person durchschreiten muss. Beide können aber auch so dicht beieinander liegen, dass sie beinahe identisch zu sein scheinen. Die Reaktion auf Berührung kann klar und deutlich sein oder kaum wahrnehmbar bzw. verwaschen. All dies scheint von der energetischen Qualität des Meridians an dieser Stelle (wie auch der des zugrunde liegenden energetischen Organs) abhängig zu sein.
Ordnet man die unterschiedlichen Phänomene, so kann man sagen, dass Stellen der (teilweisen) Unterbrechung des Ki-Flusses in Hinsicht auf diese Phänomene in besonderer Weise auffällig sind. Orte, wo die Meridianenergie bis dicht an die Oberfläche kommt und wo die Reaktion auf Berührung deutlich („laut”) und eher „spitz” und „hell” ist, können als Jitsu bezeichnet werden. Hingegen befinden sich solche Orte, wo der erste Kontakt erst in größerer Tiefe erfolgt und die Reaktion eher „dunkel”, ruhig oder „breit” (sie kann trotzdem heftig sein) erfolgt, in einem Kyo-Zustand.
In einem tiefen Kyo fallen Erster Kontakt und Zentrum nahezu zusammen. Je stärker sich eine Stelle im Jitsu befindet, desto weiter driften Erster Kontakt und Zentrum auseinander – und in einem ausgeprägten Jitsu kann es wegen der großen Gewebespannung u.U. unmöglich werden, bis in das Zentrum des Meridians zu sinken. Reiht man die Erfahrungen in den aufeinander folgenden Stellen eines Meridians aneinander, so ergibt sich eine Landschaft von Tälern und Hügeln. Grundsätzlich kann man sagen, dass die für die Behandlung wichtigen Punkte im Verlauf eines Meridians sich in aller Regel an den Stellen des stärksten Kyo bzw. Jitsu befinden. Das sind die Stellen, wo die Unterbrechung im Meridianfluss am stärksten ausgeprägt ist.
Wenn man diese Beobachtungen liest, denkt manch einer vielleicht, all diese Wahrnehmungen setzten eine besondere vielleicht übernatürliche Begabung voraus.
Das ist jedoch nicht so. Insbesondere die energetische Wahrnehmung ist in unserem Kulturkreis seit Jahrhunderten einfach nicht als wichtig erachtet worden und kann entsprechend mit der Erziehung nicht vermittelt werden. Sie lässt sich jedoch erlernen, wenn wirkliches Interesse dazu vorhanden ist (und das ist beinahe die einzige Voraussetzung). Beharrliche Praxis im Shiatsu wird die energetische Wahrnehmung sich kontinuierlich entfalten lassen.
Übungen um die Weite zu fördern
In der Shiatsu-Ausbildung an unserer Schule für Shiatsu Hamburg versuchen wir diese Entwicklung mit besonderen Übungen zu unterstützen. Insbesondere die so genannten Inneren Techniken fördern die Bereitschaft des Körpers, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Aus diesem Grund sind im Folgenden vier solcher Inneren Techniken beschrieben:
Den ganzen Körper berühren
Diese Übung ist ganz einfach – wie alle Inneren Techniken. Das Prinzip ist immer, dass man zunächst einfach einsinkt und berührt, wie man es sonst auch gewohnt ist. Die eigentliche Übung besteht dann darin, die Berührung mit einer bestimmten Vorstellung zu verbinden, die diese spezielle Übung kennzeichnet. Meist ist es leichter, die Vorstellung bei Berührung in Kyo-Stellen einzusetzen, an Jitsu-Stellen ist es etwas schwieriger. So ist es auch in dieser Übung, jedoch kann man sie bei Berührung an jeder Stelle des Körpers durchführen, und man sollte das auch tun. Man stellt sich dann einfach vor, dass diese Berührung nicht nur auf die Stelle wirkt, wo jetzt gerade der Daumen, die Hand oder ein anderes Körperteil anliegen, sondern dass sie weit darüber hinaus bis in den ganzen Körper des anderen Menschen hinein wirkt.
Zu Beginn wird es vielleicht nicht so einfach sein, diese Vorstellung entstehen zu lassen. Wenn es dann aber geht, wird sich irgend etwas im Körper des Übenden verändert haben. So, als diese Vorstellung, der ganze Körper werde erreicht, nur möglich, wenn sich im Körper des Behandelnden etwas anders anfühlt. Und genau darum geht es. So kann es z.B. sein, dass die Schultern der behandelnden Person weiter werden, dass die Behandlerin sich innerlich weiter und weicher anfühlt, der Rücken wird vielleicht ein klein wenig gerader, das Becken verändert seine Position leicht oder der Behandlerin fallen just in diesem Augenblick etliche Stellen in ihrem eigenen Körper auf, wo sie festhält und nun das Bedürfnis hat, Ioszulassen. Das ist genau das, worauf es ankommt: Die entspannte und klare Absicht, durch eine lokale Berührung den ganzen Körper des Klienten zu erreichen erzeugt im Körper der Behandlerin des Bedürfnis, die Voraussetzung für eine solche Berührung zu schaffen. Nämlich weit und weicher zu werden, an einigen wesentlichen Stellen Ioszulassen und so Raum in sich entstehen zu lassen. Eine Berührung, die den ganzen Körper berührt, ist mehr als ein physischer Kontakt. In der körperlichen Berührung entsteht eine „energetische” Komponente, und diese ist nur möglich, wenn im Körper der Behandlerin „Raum” entsteht. Wenn man regelmäßig in den Shiatsu-Behandlungen mit dieser Vorstellung arbeitet, erkennt der Körper den Zustand, der sich einstellen möchte, mit jedem Mal ein wenig rascher. Schließlich ist er so gewohnt, dass der Behandler den Zustand in sich quasi auf Knopfdruck erzeugen kann.
Zweite Übung: Den Meridian in der Tiefe berühren. Eine Übung, um die Tiefe zu entdecken
Shiatsu-Lernende und auch -Praktizierende glauben nicht selten, dass ihr Shiatsu schon damit Meridian-Shiatsu ist, wenn sie mit dem Daumen den Verläufen der Meridiane folgen. Ich selbst habe das früher auch so angenommen. Das Lernen mit verschiedenen Lehrern und vor allem die Erfahrungen in der Praxis haben mir dann gezeigt, dass diese Art von Meridian-Shiatsu nur eine müde Ahnung von dem gibt, was Meridianarbeit wirklich bedeuten kann. Mindestens ebenso wichtig wie die genaue Kenntnis der Meridianverläufe ist eine klare Aufmerksamkeit im Meridian, wenn ich ihn berühre. Diese Aufmerksamkeit entsteht aus der Wahrnehmung der Qualität des Meridians, man könnte auch sagen, sie ergibt sich daraus, dass man den Meridian in der Berührung quasi „sieht”.
Meridiane sind sehr feine energetische Gebilde, deren Präsenz in der Behandlung durch unsere Aufmerksamkeit um ein vielfaches verstärkt werden kann. Diese weite und klare Aufmerksamkeit erst macht sie klar wahrnehmbar und wirklich berührbar. Es leuchtet ein, dass Meridian-Shiatsu um so wirksamer werden kann, je deutlicher man einen Meridian wahrnimmt und ihn bewusst und gezielt zu berühren vermag.
Nun ist das mit dem „Sehen” der Meridiane so eine Sache. Je mehr man sich bemüht und je angestrengter man hinschaut, um so mehr entziehen sie sich – wie andere energetische Muster auch – dem suchenden Blick. Der ist am besten dran, der die energetische Wahrnehmung des Meridians „zufällig” entdeckt, der quasi darüber stolpert. Zwei wesentliche Voraussetzungen sind hierfür zu nennen: reichlich Praxis und ein ernsthaftes Interesse an der Sache.
Die folgende kleine Übung kann den Einstieg in die Wahrnehmung von Meridianen erleichtern. Sie macht diese Voraussetzungen dabei nicht überflüssig. Am besten, man praktiziert sie zunächst in kleinen Gruppen von 3-5 Personen, bevor man sie in den eigenen Behandlungen ausprobiert. In Gruppen von 3-5 schauen nämlich 1-3 Personen zu. Und als Zuschauender sieht man mehr, als wenn man selber behandelt. Dies scheint ein grundsätzliches Phänomen energetischer Wahrnehmung zu sein: je näher man am Geschehen dran ist, umso weniger vermag man zu „sehen”. Für unsere Übung ist ein Abstand der Zuschauenden von 1,5 bis 2,5 Metern optimal. Stehend ist es leichter zu „sehen”.
Hilfreich ist es, die Übung mit einem „lauten” Meridian zu beginnen, d.h., mit einer Meridianqualität, die auch für Ungeübte relativ leicht wahrnehmbar ist. (Jede Meridian- oder Organqualität kann „laut” oder „leise” sein, das hängt von ihrem Schwingungszustand ab.) Als unter normalen Umständen typische „laute” Qualitäten bieten sich der Magen, Gallenblasen- und der Blasenmeridian vor allem in ihren Verläufen am Bein an. Perikard oder Dünndarm am Arm sind andere Beispiele.
Etwas fühlt sich anders an
Nachdem die behandelnde Person sich für einen Meridianabschnitt entschieden hat, wählt sie eine einfache Behandlungsposition, lokalisiert den Meridian entsprechend seines theoretischen Verlaufes und sinkt dann mit dem Daumen oder den mittleren Fingern der Hand aufmerksam ein. Die Zuschauenden werden nun in unterschiedlicher Tiefe des Einsinkens eine Veränderung wahrnehmen. Es ist schwer zu sagen, welcher Natur diese Veränderung ist. Etwas fühlt sich einfach anders an. Es ist nicht eigentlich zu sehen. Man spürt etwas in seinem Körper oder im Raum. Es ist sehr subtil, gleichzeitig gar nicht etwas Besonderes. Wenn man es entdeckt, hat man nicht selten den Eindruck, es schon lange zu kennen. Und das trifft ja auch zu. Alle diese Dinge nehmen wir auch im Alltag fortwährend wahr, nur sind wir uns dessen selten bewusst.
Es fühlt sich etwas anders an, weil die berührende Person dem Meridian näher kommt. Etwas salopp könnte man vielleicht sagen, sie kratzt ihn an der Oberfläche. Der Kontakt im „Zentrum” des Meridians ist dann vielfach „leiser” als die Reaktion auf den Kontakt an der „Peripherie”. Er kann für den Betrachtenden aber auch deutlicher ausfallen, das hängt vom energetischen Zustand dieser Stelle ab. Grundsätzlich kann man sagen, dass es sich für Zuschauende wie für Behandelte (und mit mehr Erfahrung sicher auch für die Behandelnden) gut und befriedigend anfühlt, wenn das „Zentrum` eines Meridians oder eines Tsubos erreicht wird. Und es kann ausgesprochen frustrierend sein, wenn die behandelnde Person nicht dorthin kommt.
Hier gibt es jetzt ein sehr interessantes Phänomen zu beobachten: Ist die berührende Person angespannt (z.B. in Schultern und Armen), so hat man als Beobachter nicht selten das Gefühl, dass der Meridian nicht wirklich erreicht wird. Und das selbst dann, wenn die Behandlerin tief genug eingesunken ist. Wird sie jedoch in ihren Schultern und Armen und darüber hinaus im ganzen Körper weit und ruht gleichzeitig mit ihrer entspannten Aufmerksamkeit ganz in der berührten Stelle, so wird die wahrnehmbare Reaktion zwar leiser werden. Gleichzeitig hat der Beobachter zunehmend das Gefühl, dass diese Berührung ein „Treffer” ist.
Jede Berührung löst eine energetische Reaktion aus
Wie lassen sich alle diese Beobachtungen erklären? Ganz offensichtlich löst jede Berührung des Körpers eine energetische Reaktion aus, die sich ähnlich wie Schall- oder Lichtwellen im Raum ausbreitet. Diese Wellen treffen auch auf die sich in diesem Raum befindenden Personen, durchdringen sie teilweise und sind aus diesem Grunde von diesen wahrnehmbar. Meist spürt die zuschauende Person die energetischen Reaktionen im eigenen Körper. Die solche Reaktionen auslösende Berührung kann eine körperliche z.B. mit unseren Händen sein. Energetische Strukturen können jedoch auch mit dem Geist berührt werden, der so eine deutlich wahrnehmbare Reaktion auszulösen vermag. Im Meridian-Shiatsu arbeiten wir mit dem Körper und mit dem Geist. Shiatsu ist so verstanden immer auch eine Art von Stillem Qi Gong.
Nimmt die Hand des Behandlers Kontakt mit einem Meridian an dessen „Oberfläche” auf, so kommt es zunächst zu einer Art Schwellenreaktion. Sie zeigt an, dass die Berührung eine stärkere energetische Veränderung auslöst. Mit mehr Erfahrung wird man in solchen Übungen feststellen, dass es beim Näher kommen mehrere solcher stufenweisen „Änderungen” gibt. Diese sind umso deutlicher, je klarer die Aufmerksamkeit des Behandlers Kontakt zum Meridian aufgenommen hat. Ist dieser mentale Kontakt stark, so kann eine erste „Schwellenreaktion” bereits außerhalb des physischen Körpers wahrnehmbar sein, bevor die behandelnde Hand die Körperoberfläche überhaupt berührt. Diese „äußere” Reaktion ist vergleichsweise yang, d.h. relativ deutlich. Und sie ist umso deutlicher, je ausgeprägter die berührte Stelle positiv (d.h. jitsu) gepolt ist. Sie kann aber auch bei einem Kyo-Zustand ausgeprägt sein. So viel wie ich bisher über die Berührung im „Zentrum des Meridians” verstehe, scheint die dadurch ausgelöste energetische Reaktion von einer anderen Natur zu sein. Im Vergleich zur Schwellenreaktion an der Oberfläche ist sie yin. Sie ist leiser, gleichzeitig aber häufig kraftvoller.
Auch wenn es sich bei der energetischen Wahrnehmung mehr um ein Spüren oder Fühlen im eigenen Körper handelt als um ein Sehen, sind doch die Augen bei dieser Wahrnehmung von großer Wichtigkeit. Schaut man mit entspanntem Blick dorthin, wo gearbeitet wird, sind die Reaktionen sehr viel leichter wahrnehmbar als bei geschlossenen Augen. Es scheint so, als seien die Augen über das optische Organ hinaus Fokussierungs-Organe unseres Geistes. Sie ermöglichen es uns, Kontakt mit energetischen Strukturen herzustellen. Um das Beschriebene mit geschlossenen Augen „sehen` zu können, braucht es allerdings mehr Übung. Blinde können das oft.
Jede Stelle zeigt ein unterschiedliches Muster auf Berührung
Die beobachteten Reaktionen können nun sehr unterschiedlich sein. Abhängig vom energetischen Zustand der berührten Stelle kann die erste „periphere” Reaktion deutlich wahrnehmbar an der Hautoberfläche bereits beim ersten leichten Berühren erfolgen (z.B. im Falle eines ausgesprochenen Jitsu-Zustandes) oder relativ schwach erst in der Tiefe (z.B. bei einem Kyo-Zustand des Meridians an dieser Stelle). Die Berührung im Zentrum kann ausgesprochen still und doch sehr kraftvoll sein (z.B. in einem Kyo-Tsubo) bis hin zu recht „laut` und vordergründig (z.B. in einer ausgesprochenen Jitsu-Stelle).
Wenn man noch keine Erfahrung in dieser Art der Wahrnehmung sammeln konnte, mag man zunächst den Eindruck haben, gar nichts mitzubekommen. Das wird sich jedoch rasch ändern. Diese Übung ist so einfach, dass die Zuschauenden meistens bereits beim ersten Ausprobieren erfahren, dass sie die Reaktionen spüren können.
Der nächste Schritt ist dann, nicht als Zuschauender sondern als Behandelnder selber die Reaktionen wahrzunehmen. Das ist etwas schwieriger, wird in dieser Übung nicht zuletzt mit der Unterstützung der anderen jedoch möglich. Wer interessiert daran ist, mehr zu entdecken, wird in der eigenen Praxis die Unterschiede von Stelle zu Stelle, Meridianabschnitt zu Meridianabschnitt untersuchen und schließlich lernen, in der Behandlung darauf zu reagieren. Für das Weiterforschen in den eigenen Behandlungen bietet es sich an, 5 bis höchstens 10 Minuten während einer Behandlung diese Übung des aufmerksamen Einsinkens, des ersten Kontaktes mit dem Meridian und des Berührens in der Tiefe zu üben. Mit mehr Erfahrung kann man dann diese Aufmerksamkeit an jeder beliebigen Stelle in einer Behandlung einsetzen. Schließlich wird es so vertraut, dass man gar nicht mehr anders Shiatsu geben möchte.
Um wirklich mit der Meridianenergie zu arbeiten, braucht es zunächst das Interesse daran, den Meridian in seinem Zentrum zu berühren. Nicht nur die Hände, auch der Geist sollte bereit sein, dort zu berühren. Das kann man mit dieser Übung lernen. Zweitens braucht es die Bereitschaft, mit energetischen Mustern in Kontakt zu treten. Das erfordert innere Weite und Leichtigkeit. Ein solcher innerer Zustand auf Seiten des Behandlers wird erleichtert durch Innere Techniken wie dem Völlig Freien Ki-Fluss oder der Ki-Projektion.
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© Wilfried Rappenecker, geb. 1950 in der Nähe von Köln, ist Leiter der Schule für Shiatsu Hamburg (D-22769 Hamburg, Oelkersallee 33, http://www.schule-fuer-shiatsu.de), Mitbegründer der GSD und Autor zweier Bücher zum Thema Shiatsu. Als Arzt für Allgemeinmedizin arbeitet er dort überwiegend mit Shiatsu.
Dieser Artikel ist einem Buchmanuskript von Wilfried Rappenecker und Meike Kockrick entnommen. Das Buch beschreibt die Verläufe der „Masunaga – Meridiane” und erschien 2003 im ML-Verlag.