Du bist – nicht allein (Alena Maria Schneider)
Von Körpergrenzen und von Seelentiefe ist die Rede, wenn wir von Berührung sprechen. Im Shiatsu ist Berührung von Respekt getragen, von Bewusstsein erfüllt und in Klarheit gestaltet. Sie findet statt in einem ritualisierten Rahmen, der sie aus dem alltäglichen heraushebt.
Dieser ritualisierte Rahmen legt schützende Grenzen um eine Situation, in der sich Menschen ungewöhnlich nahe kommen. Er schafft eine gewisse Distanz, die ich den atmenden Raum zwischen Ich und Du nenne, und grenzt ab zur persönlichen Welt der zehntausend Verwicklungen, die Menschen sich in ihren Begegnungen schaffen. Es ist ein in konzentrierter Stille gestalteter Raum, in dem beide Beteiligten bei sich bleiben. Die Zuwendung, die gegeben wird, geschieht aus einer zentrierten und in der Achse zwischen Himmel und Erde verankerten Haltung heraus. Sie bleibt klar. Das Ritual gestaltet sich äußerlich durch das Vereinbaren eines Termins, durch eine gewisse Wiederholung und Regelmäßigkeit, man trifft sich an einem ganz für die Situation gestalteten Platz, die Fragen von Geschenk, Übung oder Bezahlung sind geregelt, man trägt die zur Situation passende Kleidung und folgt vermutlich bei jeder Begegnung einer ähnlichen Abfolge von Begrüßung, Gespräch, Behandlung, Nachgespräch und Abschied. Das bisher angeführte gehört für mich zu den unverzichtbaren Konturen einer Shiatsu-Begegnung.
Darüber hinaus herrscht große Freiheit, sofern sie in Achtsamkeit gestaltet ist und sich nicht verlustig eines jeden Bewusstseins den zehntausend Verwicklungen hingibt. Shiatsu geben können sich Freunde, Familienmitglieder, Liebende, wie auch Menschen, die sich ausschließlich zum Shiatsu treffen. Wichtig ist, dass die Situation stimmig ist – und zwar für beide Seiten.
Menschen, die sich in privatem Zusammenhang Shiatsu geben, können damit ihre Beziehung zueinander sehr bereichern, sie finden eine neue Ebene des Verstehens, „sehen sich wieder ganz und vor einem weiten Himmel” (frei nach Rilke), können sich sein lassen wer sie sind, finden Vertrauen … Eine Kommunikation über bewusste Berührung kann weiterhelfen, wo sich Worte festgefahren haben oder nicht fruchten. Sie kann das Herz öffnen und helfen wieder zu Liebe und Freundlichkeit zu finden. Sie kann etwas Wesentliches geben, wo Worte allzu dünn wären. Es gehört zu den beglückenden Entdeckungen von Shiatsu-Lernenden, dass sie mit bewusster Berührung ein einfaches, liebevolles Handwerkszeug in ihrem Alltag zur Verfügung haben, das sie tröstend, verbindend und nährend einsetzen können.
Wer sich herausgelöst aus seinen sonstigen zwischenmenschlichen Bindungen und in größter Offenheit und Freiheit seiner Heilung und Entwicklung widmen möchte, tut gut daran, sich einen professionell Shiatsu praktizierenden Menschen zu suchen. Eine Chance, die darin liegt sich an einen (zunächst) fremden Menschen zu wenden, ist, dass man es hier leichter hat, sich „rücksichtslos” und ohne Kompromisse den eigenen Anliegen zuzuwenden und sich ganz neu und aus von keiner Gewohnheit verstelltem Blickwinkel zu sehen. Abgesehen davon können sich Profis natürlich in ihrer Kunst ganz besonders ausbilden und vervollkommnen, da sie diese in die Mitte ihres Lebens rücken, stetig damit arbeiten und einen großen Fundus von Erfahrungen aufweisen. Darüber hinaus übernehmen sie besondere Verantwortung, sich aus den persönlichen Verwicklungen herauszuhalten und im Dienste der freien Entwicklung ihrer Anvertrauten für sich selbst zu sorgen. Damit möchte ich aber auf keinen Fall den Wert einfachen zwischenmenschlichen Shiatsu schmälern. Wir leben ja in einer komischen Welt, in der manchmal nur geachtet wird, was teuer ist oder im Fernsehen kommt. Dem will ich mich gewiss nicht anschließen. Ganz im Gegenteil! dass Shiatsu bezahlt wird, bleibt mir wohl immer leicht befremdlich und ist einfach ein Zugeständnis an Notwendigkeiten. Es wird dadurch kein bisschen wertvoller als Shiatsu unter Freunden. Wer professionell Shiatsu gibt und sich seinem Weg wirklich verpflichtet, hat allerdings die große Chance einen Raum zu schaffen, in dem sich das heilende Potential von Berührung in immer weiteren Dimensionen entfalten kann.
Was ist an Berührung heilend? Und was macht die Besonderheit einer Berührung im Shiatsu aus?
dingfest
auf einem Stuhl
liegt ein Hut
beide wissen von einander nichts
beide sind so dingfest
(Ernst Jandl)
Ein „dingfest” gemachter Mensch, ist in unserem Sprachgebrauch ein Gefangener. Jemand ist eingeschlossen in feste Grenzen, jemand ist abgeschnitten vom freien Weg in die Welt. Menschen leben oftmals gewohnheitsmäßig in einer relativen Abgeschnittenheit und begegnen einander und dem Leben wie Hut und Stuhl.
Nehmen wir ein einfaches Beispiel: unsere Füße stehen auf der Erde. Wie fühlt sich diese Berührung zwischen mir und dem Boden an? Wenn man nun seine Füße in die bewusste Aufmerksamkeit nimmt und ihnen eine Akupressurbehandlung auf Tennisbällen gibt, spürt man danach, dass aus dem „dingfesten Fuß steht auf Boden” ein lebendiger, fließender Kontakt geworden ist. Es liegen Welten zwischen vorher und nachher. Ein recht äußerliches Zusammenkommen von Fuß und Boden hat eine lebenserfüllte und erfühlte Qualität von Berührung bekommen. In „Qi Gong-Sprache” ausgedrückt: Der Qi-Fluss zwischen dem Menschen und der tragenden Erde ist belebt und aktiviert worden.
Dieser Effekt ist in dem Masse durch ein geistig abwesendes Kneten des Fußes nicht zu erreichen. Die innere geistige Anwesenheit, das Bewusstsein, spielt eine zentrale Rolle. In allen KI-Künsten besteht ein elementarer Aspekt des Übens darin, in dem, was man tut, anwesend zu sein. Das ist sehr einfach und erstmal schrecklich ungewohnt. Wir lernen in unserer westlichen Kultur unser Leben mit „Denken, Kontrollieren, Machen” zu hantieren. Damit bewegt man sich in einer „dingfesten” Erlebniswelt. Leicht führt die Sehnsucht nach dem Erleben von Berührtsein in einer solchen Welt zu einer Gier nach heftigen, lauten, oft sogar tendenziell Gewalt geprägten Sensationen. Irgend etwas wird doch diese dingfeste, fühllose Abgetrenntheit durchbrechen können! „Dasein, geschehen lassen, wahrnehmen und mit dem Fluss gehen” sind die Qualitäten, die wir in den Ki-Künsten üben.
Der Weg von der Welt des Machens und Tuns in die fließende Welt des Seins ist geprägt von Langsamkeit. Es ist ein Weg des Hineinwachsens, ein Weg, der sich eröffnet durch Hingabe, Geduld und Zulassen. Man kann versuchen Shiatsu aus der Welt des Verstandes und des Machens heraus unter Kontrolle zu bekommen. Es gibt Wissen und Theorien, die man lernen kann. Es gibt Techniken, die man trainieren, also aktiv erobern kann. Das ist gut so, denn wie der alte Chuang Tse schon sagte: „auch der weiteste Weg beginnt genau hier vor deinen Füssen.” Wir können nur da losgehen, wo wir sind. Wir bringen unsere angelernte „Kopflastigkeit” mit, und die Vorstellung eines Lernens durch die Kunst, etwas von innen heraus wachsen zu lassen ist erst einmal eher fremd.
Dass Shiatsu heute als schulisch strukturierte Ausbildung angeboten wird und Strukturen eines darüber wachenden Berufsverbandes entstanden sind, das sind Zugeständnisse an eine Welt des Machens und Kontrollierens. Diese Zugeständnisse schaffen Verbindung, sie holen Shiatsu hinein in unsere momentan bestimmenden gesellschaftlichen Verhältnisse. Dabei ist größte Achtsamkeit gefragt, damit Shiatsu nicht missverstandener Weise etwas wird, was seine unvergleichliche Essenz an eine „dingfeste” Welt des Äußerlichen und Kaufbaren verliert, an eine Welt, in der Machen zählt und nicht Sein.
Der Weg aus der Welt des Machens in die Welt des Seins, der Weg aus der dingfesten Welt in die des Mitgehens im Fluss wird beim Shiatsu-Lernen in vielen Aspekten nachvollzogen. So lernt man z. B. „Rotationstechniken”. Man lernt wie man seinen eigenen Körper einsetzt und z.B. den Arm der Shiatsu-Partnerin im Schultergelenk bewegt. Man übt und erobert sich die Technik, bis man sie hantieren kann. Nun ist aber genialer Weise in die Technik schon die Brücke vom Machen zum Sein und Mit-dem-Fluss-Gehen eingebaut: denn man setzt sein Gewicht ein statt Muskelkraft, man entspannt und nutzt die Schwerkraft, man übt, sich wie im Taiji fließend und aus der Mitte heraus zu bewegen. Damit öffnet sich eine Tür. Wer Rotationstechniken macht, ohne über die Brücke des Loslassens zu gehen, verweilt in dingfesten Bezügen. Er manipuliert an der Shiatsu-Partnerin. „Beide wissen voneinander nichts.”
Das Loslassen jedoch öffnet eine erste Tür, in die Welt des Einfach-da-Seins und Geschehenlassens – es öffnet eine Tür in die Welt der Achtsamkeit. Es öffnet eine Tür in die Welt des Ki. Sind Shiatsu-Techniken vom Aspekt des Wissens und des Machbaren her eingeführt, so durchschreiten die Praktizierenden Tür um Tür in eine sich zunehmend weitende Welt. So lauschen sie jetzt hinein in eine Rotation. Ihre Aufmerksamkeit ist offen und präsent, sie lassen sich vom Flusse der Bewegung etwas erzählen und gehen in kaum beschreibbaren Nuancen auf die feinsten kleinen Hemmungen im Bewegungsfluss des Gelenkes ein. Eine fließende Welt des Austausches jenseits dessen, was der Kopf zu begreifen imstande ist, eröffnet sich. Eine von Wissen und Kunstfertigkeit begleitete und von Hingabe getragene intuitive Kommunikation findet statt.
Zwischen Hantieren und Berühren ist ein himmelweiter Unterschied. Hantieren ist eine Art Manipulation. Berührung geht nahe. Berührung ist wesentlich. Berührung gedeiht in der Welt des Seins. Berührung ist Kommunikation. Sie eröffnet Erfahrungswelten.
Wer sich Shiatsu praktizierend der Kunst des Berührens hingibt, potenziert sie mit den Jahren. Die Berührung hält sich immer weniger auf mit Hantieren und Anfassen. Sie ist sofort da. Nicht nur die Hand ist da, die Hand die sich z.B. auf den Bauch der Partnerin legt: der ganze Mensch ist da, mit einem anderen Menschen, so gegenwärtig, dass sich der umgebende Raum mit stiller Anwesenheit erfüllt. Eine solchermaßen potenzierte Berührung kann sogar erschrecken. Unvergessen ist mir der Ausspruch einer Shiatsu-Partnerin nach ihrer ersten Behandlung: „Jetzt bin ich 50 Jahre alt und noch nie hat mich jemand so berührt”.
Berührung kann bestürzen und beglücken. Der Zauber verstehender Berührung ist immens. Es ist tief beeindruckend, wenn beide Shiatsu-Partner zulassend und still Shiatsu geschehen lassen. Der empfangende Partner führt auf ganz unbewussten feinen Ebenen, der behandelnde Partner begleitet und geht ein, auf das, was sich ihm zeigt. Ein Verstehen wird möglich, über das man aus der Entfernung nur staunend oder ungläubig den Kopf schütteln kann.
So. Nach einem Besuch in diesen höchsten Dimensionen werfen wir jetzt erst noch einmal Schritt für Schritt einen Blick auf einfache, wesentliche Aspekte der Berührung. Berührung unterstützt Körpergefühl und Selbstwahrnehmung eines Menschen. Sie bezeugt: Du bist da von Kopf bis Fuß. Sie lässt die Kontur der Körpergrenzen und den Körperraum in seiner lebendigen Ausdehnung spürbar werden. Damit kann sich die Selbstwahrnehmung eines Menschen konkretisieren und mit (Er)Leben füllen.
Babys brauchen buchstäblich lebensnotwendigerweise Berührung, um zu gedeihen. Ein Säugling kann selbst, wenn er ernährt würde, ohne ausreichenden Körperkontakt nicht überleben (Untersuchungen von Rene Spitz). Darüber hinaus hilft ihm die Berührung sein „ich bin” zu entwickeln. Liebevolle Berührung empfängt einen Menschen in der Welt und lässt ihn sein Dasein als einzigartiges Wesen begreifen. Berührung ist für die psychische Entwicklung eines Menschen von zentraler Bedeutung. Ich würde formulieren „Berührung lässt die Seele im Körper ein Zuhause finden”.
Zur Erfahrung, die uns sagen lässt „ich bin”, gehören (Körper)Grenzen. „Hier fange ich an, hier höre ich auf, ich bin”, das ist etwas, was jeder kleine Mensch, was jede Mensch gewordene Seele zu begreifen sucht. Berührung und zuverlässige Wärme helfen ihm dabei. Sie begleitet den Menschen in die Erfahrung seiner Existenz als menschliches Individuum. Das Wesen der Berührung ist aber auch Kontakt und Miteinandersein. Sie bezeugt nicht nur das Sein eines Menschen, sie begegnet ihm, umgibt ihn, umhüllt ihn und antwortet. Sie geht auf den Menschen ein. Damit erfährt er, „ich bin – nicht allein”. Berührung, die den Entwicklungsweg eines Menschen in diesem Sinne respektvoll und liebend begleitet, ist ein durch nichts zu ersetzender Segen, ein tragender Boden für die Seele. Berührung, die nicht antwortet, sondern verletzt und missbraucht, fügt hingegen dem Sein eines Menschen tiefe Risse zu.
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© Alena Maria Schneider leitet in Hamburg den Frühlingsgarten (22763 Hamburg, Bei der Rolandsmühle 6, Tel. +49 40 881 32 09, www.fruehlingsgarten.org), ein Studio für Taichi, Qigong und Shiatsu. Sie ist von der GSD zur Ausübung von Shiatsu Praxis und Lehre anerkannt und Autorin des Buches “Wenn Lachen und Weinen einander freundlich grüßen – Shiatsu-Wege der Entfaltung” (veröffentlicht im Shiatsu Journal Nr. 30, Spätsommer 2002 und in “Wenn Lachen und Weinen einander freundlich grüßen – Shiatsu-Wege der Entfaltung”, Verlag Ganzheitlich Leben, 2005)