Die spirituelle Dimension von Shiatsu (Melanie Lanner)
Die spirituelle Dimension von Shiatsu fragt nicht nach einem Leben nach dem Tod, nach einer unsterblichen Seele, nach Reinkarnation, Karma oder anderen spirituellen Konzepten. Spiritualität im Shiatsu geht nicht über unser Leben auf dieser Erde, sondern über das vereinzelte, getrennte Ich hinaus. Die spirituelle Dimension im Shiatsu ist Verbundenheit und das Eingebundensein in die Rhythmen der Natur.
Eingebunden in die natürlichen Rhythmen
Wir Menschen sind Teil der Natur – wie Tiere und Pflanzen – und in die natürlichen Zyklen eingebettet. Alles fließt, alles ändert sich beständig im Rhythmus des Lebens: Einatmen und Ausatmen. Tag und Nacht. Verschiedene Lebensphasen mit ihren je verschiedenen Herausforderungen. Beziehungen beginnen, wachsen und verändern sich oder vergehen. Die Welt im Shiatsu ist keine Welt des Seins, sondern des Werdens. Geburt-Wachstum-Fülle-Altern-Sterben-Tod-Geburt, das zeichnet das Leben aus, betrachten wir es einmal aus der Perspektive des Lebens selbst, d.h. ohne Sorge um unser sterbliches, individuelles, oftmals verängstigtes Ich.
Diese spirituelle Komponente wird im Shiatsu durch die Fünf Wandlungsphasen oder Fünf Elemente dargestellt: Die Elemente Holz, Feuer, Erde, Metall, Wasser und wieder Holz sind keine statischen Gegebenheiten, sondern von einem stetigen Wandlungsprozess begriffen. Holz nähert das Feuer, damit es brennen kann. Feuer bereitet den Boden der Erde, denken wir an den nahrhaften Boden, der durch einen Brand (und eine Winterruhe) entsteht. Die Erde trägt die edlen Metalle in sich. Metall und dessen Spurenelemente bereichern das Wasser. Wasser brauchen die Pflanzen, also das Holz, zum Wachsen.
Wie in der Natur besteht auch unser Körper – ja, unser ganzes Sein – aus den Fünf Elementen im stetigen Wandel. Gesund sind und bleiben wir, wenn wir dem natürlichen Rhythmus – in uns und der Natur – entsprechend leben, das heißt, „menschliches Leben als einen integralen Bestandteil des ganzen Weltprozesses zu sehen, nicht als etwas Fremdes, ihm Entgegengesetztes“ (Watts 1983: S. 39). Wir sind auch von unserer „Umwelt“ – oder sagen wir lieber „Mitwelt“ – nicht getrennt. Deshalb geht es darum, die Winde, die Gezeiten, die Strömungen, die Jahreszeiten und das Prinzip von Werden und Vergehen zu begreifen, sodass wir sie handelnd nützen können und nicht dagegen ankämpfen. Wir können sie auch als vorhandene Potentiale betrachten, die sich in uns und unserem Leben entfalten wollen. Leben wir alle Aspekte des Lebens, erfahren wir Ganzwerdung. Und Ganzwerdung bedeutet Heilung.
Leid entsteht durch Widerstand
Leid entsteht, wenn wir in Widerstand gehen gegen das, was ist, also gegen die natürlichen Rhythmen und die Gezeiten des Lebens, gegen die stetigen Veränderungen, gegen die inneren und äußeren Verwandlungen, gegen die Herausforderungen, die das Leben uns in diesem Augenblick stellt, und gegen das, was in uns ist und was sich jetzt zeigen will.
„Schmerz ist unvermeidlich, Leiden ist eine Option.“
(Haruki Murakami)
Manchmal äußert sich der Widerstand auch in Form von körperlichen Symptomen und Beschwerden. Dann geht es darum, Symptome und Beschwerden als Lehrmeister zu betrachten, die uns auffordern, über unseren zu eng gewordenen Horizont hinauszuwachsen, beweglicher zu werden und uns zu wandeln. Lernen wir von den Rhythmen der Natur, wird uns bewusst, dass es manchmal Zeit ist, Entscheidungen zu treffen und Ziele in Angriff zu nehmen. Manchmal ist es aber auch Zeit, Abschied zu nehmen, loszulassen und zu trauern. Manchmal fordert uns das Leben auf, uns unseren Ängsten zu stellen und über uns hinauszuwachsen. Dann wieder müssen wir uns ausruhen und Kraft tanken. Manchmal ist es auch an der Zeit, dass wir voller Freude und Dankbarkeit das Leben feiern und genießen. Lernen wir von der Natur, erkennen wir auch, dass die Zeiten sich abwechseln und auf einen Winter der Frühling folgt und auf den Tag die Nacht. Zu wissen, wann welche Zeit ist, und mit den sich stetig verändernden Lebensrhythmen mitzugehen, ja selbst ständig weiterzugehen und nicht anzuhaften, ist eine Kunst. Vielleicht sogar die höchste Lebenskunst.
„Als ein hungriger Mönch an der Arbeit die Mittagsglocke hörte,
legte er unverzüglich die Arbeit nieder und erschien im Essraum.
Als der Meister ihn sah, lachte er herzlich,
denn der Mönch hatte Zen im vollsten Sinne geübt.”
(Suzuki 1993: S. 118)
Und wie ich finde, eine spirituelle Aufgabe, da sie uns über unsere starren Selbst-, Lebens- und Weltvorstellungen emporhebt.
Verbunden mit allem, was ist, was war und was sein wird
Das Eingebundensein in die natürlichen Rhythmen erzeugt auch Demut – Demut anstelle von Narzissmus, Egoismus und Egozentrismus – und ein Wissen um die Relativität des eigenen individuellen Lebens, betrachten wir es einmal aus der Perspektive des Lebens selbst. Dann sind wir nicht mehr der Mittelpunkt des Universums, sondern die Mitte ist das LEBEN selbst.
Das Eingebundensein besagt also auch, dass wir verbunden und keine vereinzelten, isolierten, abgetrennten Ichs sind. Trennung ist Illusion. Das Ich löst sich aus dieser Sichtweise im Großen Ganzen – das wir auch LEBEN nennen können – auf wie ein Wassertropfen im Ozean. Das heißt nicht, dass es kein Ich oder keine individuelle Persönlichkeit gibt. Denn obwohl alles miteinander verbunden ist, sind wir auch alle verschieden. Diese Perspektive ist also keine Frage nach einem Entweder-Oder – sowie auch das Jahr nicht der Gegensatz vom Tag ist. Vielmehr begleitet uns im Shiatsu und in der Sichtweise der Verbundenheit ein Sowohl-als-auch, ein Denken jenseits der Dualität.
Yin, Yang und das Dao
Betrachten wir für diesen spirituellen Zugang das Yin-Yang-Symbol als eines der zentralsten Symbole des Daoismus, der dem Shiatsu unter Anderem theoretisch zugrunde liegt:
In einem Kreis liegen die beiden Pole Yin und Yang, die sich gegenseitig bedingen und die immer wieder ineinander übergehen. Die wechselseitige Verbundenheit wird auch durch den kleinen andersfärbigen Kreis symbolisiert, der inmitten von Yin und Yang liegt. Denn im stärksten Yang liegt auch schon der Keim des Yin, und am Höhepunkt des Yin schlägt der Lebensprozess wieder ins Yang um. Außerdem sind Yin und Yang durch eine dynamische Linie und keine Gerade voneinander unterschieden, was ebenfalls auf den dynamischen Aspekt der Wandlung verweist.
Was uns hier darüber hinausgehend beschäftigt, ist der Kreis, der beides miteinander verbindet bzw. worin beide eingebettet sind. Der Kreis wird im Daoismus „Dao“ genannt, das Allumfassende, über das nichts ausgesagt, was dennoch erfahren werden kann. Dao ist das Verbundensein jenseits der Dualität (von Yin und Yang) bzw. das, was beide einschließt und über das es hinausreicht. Dao ist das, was in der stetigen Wandlung bleibt, ja das, was ist. Dao ist die letzte Wirklichkeit – und Wirklichkeit „ist ein immer wechselndes, immer wachsendes unsagbares Etwas, genannt ‚Leben‘, das keinen Augenblick stillsteht, um sich in irgendein starres System von Fächern und begrifflichen Schubladen einschachteln zu lassen“ (Watts 2008: S. 13).
„Was ist Tao?“ „Geh weiter!“
(ebd. S. 51)
Erst in der dualistischen Welt der Erde, (in unserem individuellen Leben also, wenn wir geboren werden), trennen sich Yin und Yang und erzeugen die Fünf Elemente und diese wiederum die 10.000 Dinge. Polaritäten erzeugen Spannung. Und Spannung braucht es zum Leben. Ohne Spannung oder, anders formuliert, in perfekter Harmonie stirbt das Leben. Leben braucht also Polaritäten, um zu leben. Doch die Polarität bzw. Dualität ist nicht die letzte Realität im spirituellen Sinn: Diese ist Dao, Buddhanatur, Brahman, das All-Eine, vielleicht auch Gott oder Göttin – es ist egal, wie wir es bezeichnen –, also Verbundenheit jenseits der Dualität.
Keine Trennung der Welten
Der Zen-Buddhismus, der dem Shiatsu ebenfalls zugrundeliegt, geht an dem Punkt noch einen Schritt weiter: Er sagt, es gibt gar keine Trennung der Welten, also keine spirituelle oder profane Welt, kein Nirvana oder Samsara – um in seinen eigenen Termini zu sprechen – und schon gar keine erleuchteten und nicht-erleuchteten Menschen. Vielmehr ist „diese unsere phänomenale Welt das Reich der Wirklichkeit.” (Nukariya 2017: S. 168)
Oder anders formuliert:
„Denen, die von Zen nichts wissen, sind Berge nur eben Berge, Bäume nur eben Bäume und Menschen nur eben Menschen. Nachdem man Zen kurze Zeit studiert hat, wird die Nichtigkeit und Flüchtigkeit aller Formen wahrgenommen, und Berge sind nicht länger Berge, Bäume nicht länger Bäume und Menschen nicht länger Menschen. Dem, der ein volles Verständnis von Zen gewonnen hat, sind Berge wiederum Berge, Bäume wiederum Bäume und Menschen wiederum Menschen.“ (zitiert nach Watts 2008: S. 82)
Was bedeutet diese spirituelle Dimension für die Shiatsu-Behandlung?
In der Shiatsu-Behandlung geht es aus dieser spirituellen Perspektive darum, das wahrzunehmen und zuzulassen, was da ist. An Körperempfindungen, an Gefühlen und Gedanken, an inneren Bildern. An Lebensumständen, Erfahrungen und Themen. Denn Leid entsteht (wie ich oben bereits ausgeführt habe) durch Widerstand gegen das, was ist. Den Widerstand wahrzunehmen, bewusst zu machen und gemeinsam mehr inneren Freiraum zu finden, ist eine unserer Aufgaben als Shiatsu-PraktikerInnen.
Widerstand bedeutet auch, sich gegen die Wandlung des Lebens zu stellen. Wir wollen festhalten und wollen, dass alles, so bleibt wie es war. Doch Leben bedeutet Wandlung. Nur wenn wir mit dieser stetigen Veränderung mitgehen, bleiben wir gesund. Diese Wandlungsprozesse zu begleiten und den freien Energiefluss zwischen den Elementen und in den zugehörigen Meridianen zu unterstützen, ist Aufgabe der Shiatsu-Behandlung, die sich am je aktuellen Gesundheitszustand und der individuellen Lebensweise unserer KlientInnen orientiert.
Im Shiatsu wird die Wandlungskraft, wie ich oben bereits ausgeführt habe, durch die Fünf Elemente der Traditionell Chinesischen Medizin und ihren stetigen Wandlungsprozess dargestellt. Der Mensch wird im Shiatsu eingebettet in diese natürlichen Rhythmen gesehen und der Körper als Ausdruck dieses größeren Wandlungsprozesses betrachtet.
„Im Shiatsu berühren wir die Leitbahnen (Meridiane) als Ausdruck der Lebensenergie. Wir begegnen nicht nur einem Symptom, einer Krankheit, einer Befindlichkeit oder nicht dem Körper, den Funktions-Kreisläufe oder nicht nur dem Menschen allein, sondern dem LEBEN, wie es durch diesen Menschen hindurch wirkt. Wir begegnen seinen Beziehungen im Privatleben, im Berufs-Leben, seinem Bezug zur Ernährung, zur Natur, zur Sonne, zur Erde, zu den Sternen, zum Wind, zum Regen, wir begegnen seinem Leben – so können wir die Lebensenergie in den Meridianen verstehen. Das heißt, wir berühren und begegnen dem LEBEN selbst, wir berühren die Sonne, die Erde, die Natur etc. – durch die Shiatsu-Begegnungen mit unseren KlientInnen berühren wir die ganze Welt, alle Wesen, das ganze Universum. Mit diesem Geist wird das Shiatsu transzendiert bzw. ‚vergeistigt’. Unser Shiatsu wirkt dadurch spirituell.“
(Bräuer 2016: S. 17)
Shiatsu ist gemeinsame Meditation
In diesem Sinne ist Shiatsu auch (gemeinsame) Meditation. Eine Meditation im Bewusstsein um die Verbundenheit mit allem und allen, im Bewusstsein um die Wandlung des Lebens, in Mitgefühl und Dankbarkeit.
„Für mich stellt dieses Bewusstsein [von der Einheit des Seins] eine genauere Definition der holistischen (ganzheitlichen) Medizin dar, als bloß zu sagen, wir behandeln den ganzen Menschen. Bei einer Shiatsu-Behandlung sollten wir im allumfassenden Strom des Bewusstseins arbeiten, eingedenk des Wissens, dass beide, Therapeut und Klient, ein Teil dieses Stromes sind und gemeinsam der Selbstverwirklichung näher kommen können. In dieser Hinsicht tragen wir dazu bei, die Welt zu heilen, und nichts weniger.“
(Fall 2000: S. 167)
Literatur
- Bräuer, Helmut (2016): „Spirituelle Aspekte im Shiatsu – oder wo ist der Grashüpfer versteckt?“ In: Shiatsu Journal, 87/2016, S. 15-17. (als pdf)
- Fall, Simon (2000): Wie Schneeflocken fallen. Shiatsu als spirituelle Praxis. Heidelberg: Bruno Endrich.
- Nukariya, Kaiten (2017/1913): Die Religion der Samurai. Eine Studie der Philosophie und Praxis des Zen in China und Japan. Frankfurt: Angkor.
- Suzuki, Daisetz T. (1993): Die große Befreiung. Einführung in den Zen-Buddhismus. 15. Auflage. München/Wien: Barth.
- Watts, Alan (1983): Der Lauf des Wassers. Eine Einführung in den Taoismus. München: Suhrkamp.
- Watts, Alan (2008/1954): Vom Geist des Zen. Frankfurt am Main/Leipzig: Insel.
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© Mag.a Melanie Lanner, MA (www.seiwerdubist.at) ist diplomierte Soziologin und Genderforscherin, Ausdrucks- und Tanzpädagogin und seit 2012 als Shiatsu-Praktikerin in freier Praxis in Graz tätig. Sie führt außerdem einen umfangreichen Blog zu Shiatsu, ganzheitlicher Gesundheit und Selbsterfahrung und ist Autorin des Buchs Hin zu Fuß, zurück auf Adlerschwingen – “Der Herr der Ringe” als heldenhafte Selbsterfahrung (Verlag opus magnum, 2018).