Die sechs verbundenen Kanäle (Bill Palmer)

Übersetzung: Mag. Marina Morton

In diesem Artikel geht es um die sechs verbundenen Kanäle, welche die Armmeridiane mit anderen Beinmeridianen verbinden, um ganze Körperkanäle zu bilden. Meine Forschungsarbeiten mit Kindern in den 1980er Jahren (1) deuteten darauf hin, dass die kindliche Entwicklung von Bewegung sehr präzise durch diese Kanäle gesteuert wird. Babys lernen sowohl psychologische als auch motorische Fähigkeiten durch diese Bewegungsentwicklung.

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Es war sehr aufregend für mich, als ich erkannte, dass diese psycho-motorischen Fähigkeiten, die westliche Wissenschaftler und Entwicklungstherapeuten, wie z.B. von Bobath und Bonnie Bainbridge Cohen beschrieben (2, 3, 4), sehr eng der fernöstlichen Qi-Funktion der Meridiane in diesen verbundenen Kanälen entsprechen. Ich denke, diese Verbindung gibt uns eine zufriedenstellende Erklärung dieser Kanäle: dass sie nämlich Verläufe sind, mit denen wir den Gebrauch unseres Körpers lernen und daher auch die Erinnerung der aktivierten Energien in der jeweiligen Entwicklungsstufe speichern. Indem wir also die Meridiane behandeln, erinnern wir die Person an eine bereits erlernte Fähigkeit!

Diese Lernfähigkeiten sind tieferliegende Archetypen als die individuellen Meridianfunktionen. Im Ling Shu steht „Die Arme reichen bis zum Himmel, während die Beine auf der Erde stehen“. Also jeder Armmeridian verkörpert eine Energie, wodurch der Körper emotionale, mentale und spirituelle Lernfähigkeiten ausdrücken kann. Dagegen können die Beinmeridiane die Verkörperung unserer Gefühle, Gedanken und unseres Geistes ausdrücken, unterstützt von der Erde und in Aktion umgewandelt.

Die verbundene Kanäle bilden eine Brücke zwischen Körper und Geist und diese Brücke ist wie eine Art Kombination von Bein- und Armmeridian-Energien. Zusammen sind sie ein Ausdruck von sechs Entwicklungsthemen, wodurch man den Körper als einen Schulraum ansehen können, in dem wir unsere Lebensaufgaben lernen.

In der Vergangenheit habe ich, sowie alle anderen westlichen Autoren, diese verbundene Kanäle auch die sechs Schichten (six divisions) genannt, aber diese Übersetzung ist ungenau und ich möchte sie daher korrigieren. In dem Werk „Der gelbe Kaiser und die innere Medizin“, dem Su wen, wurden sie ursprünglich Liu Jing genannt – was sechs Fäden oder Kanäle bedeutet. Jeder Kanal hatte einen Bezug zu verschiedenen Krankheitsstadien, und dieser erhielt die selbe Bezeichnung wie der Kanal. Im Chinesischen wurde diese Klassifikation der Krankheiten Liu Bing (die sechs Syndrome) genannt und dieser Ausdruck wurde dann als Sechs Schichtenübersetzt. Ich möchte aber hier keine Krankheiten klassifizieren, sondern gesunde Entwicklung beschreiben. Daher gehe ich in diesem Kontext zurück zur ursprünglichen Anwendung und nenne sie die sechs verbundene Kanäle, um eine Verwechslung mit den zwölf (Organ-) Meridianen zu vermeiden.


Die Archetypen des Qi´s

Die traditionelle chinesische Medizin ist eine Art Poesie. Bestimmte Körperfunktionen werden als Metapher für psychologische Prozesse betrachtet. Wenn man daher bestimmte Körperbereiche behandelt, hat dies auch einen Einfluss auf den Geist. Zum Beispiel: der Verdauungsvorgang wird als Metapher für den Denkvorgang gesehen. Daher wird in der chinesischen Medizin sowohl die Verdauung als auch das Denken als Milzfunktion eingeordnet und die Milz wird bei „sich Sorgen“ oder „zu viel Denken“ entsprechend behandelt.

Die unterschiedlichen Formen von Qi beschreiben ganzheitliche Archetypen, die metaphorisch sowohl im Körper als auch im Denken ihren Ausdruck finden. Tatsächlich findet man den Ausdruck der gleichen Archetypen im Verhalten, in der Anatomie, der Physiologie, in der Bewegung und in der Psychologie. Tritt man mit einer dieser Dimensionen in Verbindung, dann wirkt sich das auf alle anderen Dimensionen aus.

Manche westliche Autoren haben diese Idee als „primitive, sympathische Magie“ abgetan, aber die jüngste Gehirnforschung zeigt, dass die Gehirnentwicklung und -Evolution genau diesen Prinzipien folgt. Zum Beispiel: Gehirn-Scans während eines emotionalen Schmerzes zeigen, dass dabei im Gehirn die selben Bereiche aktiv werden wie bei körperlichem Schmerz.

Folgende Ansicht ist bei den Biologen gegenwärtig: Als sich bei den Tieren die Fähigkeit entwickelte, emotionalen Schmerz zu spüren, um soziale Fehlhandlungen zu vermeiden, verwendete die Evolution erneut jene Hirnareale, die bereits entwickelt waren, um körperliche Verletzungen mittels der Erfahrung von physischem Schmerz zu vermeiden. Noch ein Beispiel: Frühgeborene, die einen unreifen Verdauungsapparat haben, neigen zur Unfähigkeit ihren Mund hinzuhalten (was Neugeborene normalerweise können) – und wenn sie hungrig sind, neigen sie eher dazu, passiv zu bleiben, anstatt zu weinen um Nahrung zu bekommen. Hier haben wir alle Metaphern für die Nahrungsbeschaffung: Die gemeinsame Entwicklung von Anatomie, Bewegung und Emotion.

Diese frühgeborenen Babys neigen zu einem verminderten Tonus auf der Vorderseite des Körpers entlang des Magenmeridians, was eine weitere Metapher des selben Themas zeigt. Beginnen alle diese Aspekte im Baby sich zu entwickeln, entwickeln sich genau entlang des klassischen Magenmeridians dann auch die primitiven Reflexe, die mit der Nahrungsaufnahme und der Stütze der Erde zusammenhängen und der Tonus dieses Verlaufes nimmt zu. Während der Magenmeridian die Fähigkeit entwickelt, Nahrung und eine Stütze zu bekommen, lernt das Baby mit seinen Armen gegen diese Stütze zu drücken um sich vom Boden zu erheben. Diese Bewegungen beginnen in den Armen, entwickeln sich entlang des Dickdarmmeridians und erreichen im Alter von sechs Monaten ihren Höhepunkt, indem das Baby ungewollte Gegenstände wegschiebt, um damit „Nein“ zu sagen.

Man sieht also, dass Magen- und Dickdarmmeridian zwei Aspekte des selben Themas darstellen, was wir „Gebrauch von äußerer Stütze“ nennen könnten. Der Magen greift, schafft einen Kontakt mit und erhält Unterstützung von der Außenwelt. Der Dickdarm drückt gegen diese Unterstützung, um sich davon zu trennen und sich zu bewegen. Ohne den Magen hätte der Dickdarm nichts, wogegen er drücken könnte. Ohne den Dickdarm würde das Baby am Boden kleben bleiben, und könnte nie seine Mutter loslassen um es selbst zu sein.

Mutter mit Kind

Dieses 8 Monate alte Baby lernt sich zu Individualisieren. Man sieht wie es die Stabilität der Mutter verwendet, um sich abzustützen und sich wegzudrehen um es Selbst zu sein. Sie verkörpert sehr schön den Magenmeridian und zusammen sind sie das komplette Yang Ming. Der gedrehte Kopf ist sehr typisch in dieser Stufe und zeigt den Dickdarmmeridian-Verlauf von der Hand bis zur Nase. Gleichzeitig mit dieser Entwicklung, entwickelt sich in dem Muskel, der den Zeigefinger streckt, mehr Spannung und Aktivität (man sieht es im Bild). Das Baby fängt an zu zeigen. Als würde es sagen: „Das ist dort drüben – das bin nicht ich“.


Yang Ming – der leuchtende Kanal – „Gebrauch von äußerer Stütze“

Das ist der erste der sechs verbundenen Kanäle, genannt Yang Ming. Die Bewegungen, die sich entlang des Magenmeridians eines Babys entwickeln sind „Greifen und Spannen“. Das zeigt sich in saugenden Bewegungen wie Suchen, Nuckeln und Schlucken im oberen Meridianabschnitt, aber auch in den Reflexen, die das Erreichen und Berühren des Bodens entlang des Rumpfes und der Beine mit einschließen. Die Bewegungen, die sich entlang des Dickdarms entwickeln, sind „wegstoßende“ Bewegungen, die eine eindeutig „spiralförmige“ Qualität besitzen und dem Stoß zusätzliche Kraft verleihen.

Während dem die Arme das „Greifen und Spannen“ (Fähigkeit des Magenmeridians) erlernen, um das Körpergewicht zu unterstützen, ist es interessant, dass dies entlang des Dickdarmmeridians geschieht. Umgekehrt, wenn die Beine das „Wegstoßen“ (Fähigkeit des Dickdarms) lernen, um zu Krabbeln, findet die selbe spiralförmige Streckung entlang des Magenmeridians statt. Beide Aspekte des Yang Mings sind also in Beinen und Armen aktiv. Das war es, was mich davon überzeugte, dass der verbundene Kanal mehr als bloß die Kombination zweier Meridiane darstellt, sondern vielmehr eine allgemeine Einheit für sich, wobei der Magen und der Dickdarm zwei Facetten davon sind.

Ich finde es nützlich, diese verbundenen Funktionen als Fähigkeiten zur Entwicklung anzusehen. Anstatt die Anliegen der Menschen als Probleme zu sehen, die geheilt werden müssen, kann man sie als Aufgaben betrachten, die zu lernen sind. Die verbundene Funktion des Yang Mings ist die Regulierung zwischen dem Innen und dem Außen – um das zu nehmen, was man braucht, und abzulehnen, was man nicht will; eine Stütze zu haben, um sich fortzubewegen ohne zu sehr anzuhaften. Die Aufgabe des Yang Mings ist daher zu lernen, sich zu individualisieren – sich wohl zu fühlen in seiner Verschiedenheit anderen Menschen gegenüber und fähig zu sein eine andere Meinung zu haben, ohne dabei den Kontakt zu verlieren. Paradoxerweise bedeutet diese Fähigkeit zur Nichtübereinzustimmung eigentlich, dass man einen tieferen Kontakt zum Anderen schafft, weil man dabei wirklich man Selbst sein kann.

Ich hoffe ich konnte vermitteln, wie die Entwicklung der motorischen Fähigkeiten beim Kleinkind eine Vorbereitung zur Entwicklung der Qi-Archetypen ist, die sowohl den Körper als auch den Geist umspannt. Das ist eine großartige Rechtfertigung für die Körperarbeit. Durch den Aufbau von Qi- Fertigkeiten mittels Körperarbeit, entwickelt der Mensch automatisch die damit verbundenen Fähigkeiten seiner Emotionen und seines Verhaltens.


Tai Yin – das Höchste Yin – „Spannung, Reaktion und Ausdehnung“

Jeder der drei Yang Kanäle hat einen Bezug zu einem Yin Kanal. Während entlang eines Yang Kanals aktiv Fertigkeiten gelernt werden, ist der Yin Kanal eher ein Ausdruck bzw. verkörpert die energetische Qualität, welche die Yang Fertigkeit im Körper-Geist erzeugt.

Wie wir gesehen haben, holt sich das Yang Ming aktiv, was wir brauchen, und lässt das los, was wir nicht brauchen. Das gibt uns nicht nur das Gefühl der Unterstützung, sondern gibt uns auch die Möglichkeit, uns als eigenständiges Individuum auszudrücken. Wenn wir das Gefühl haben, wir müssten übereinstimmen, obwohl wir es eigentlich nicht tun, dann blockieren wir unsere Ausdrucksfähigkeit und das macht uns unempfänglich. Daher erlaubt uns die Fähigkeit anders zu sein, einen tieferen Kontakt.

Kleinkind

Die Qualität, die uns durch diesen Prozess gegeben wird, wird am besten als „Rückprall“ beschrieben. Wenn ich angestupst werde, reagiere ich. Die physische Metapher dafür wäre ein guter Muskeltonus und eine spannkräftige Haltung. Das ist die Essenz des Tai Yins. Das Bein-Tai Yin ist der Milzmeridian, welcher die Unterstützung der Erde erhält und sie nach oben leitet. Die Milz gibt uns das zentrale Gefühl genährt zu werden und sie gibt dem Muskelfleisch seine Spannung. Diese innere Ausdehnung wird weiter entwickelt vom Lungenmeridian, der die gesamte Haltung mit Qi ausfüllt und sich weiter nach außen fortsetzt, um unsere Energie in der Außenwelt auszudrücken.

Wenn ein Baby geliebt und genährt wird, hat es von Natur aus ein gesundes Tai Yin und sein Muskeltonus hat Spannkraft. Anderseits zeigt sich ein Mangel an Tai Yin in einer eingefallenen Körperhaltung, verspannter oder verminderter Muskelspannung, herunterhängenden Schultern und einem allgemeinen Zusammenziehen seiner Energie. Arbeiten mit einem chronischer Mangel an Tai Yin ist eine der schwierigsten Aufgaben, denn das wird als Scham empfunden. Scham zieht uns zusammen, weil wir uns innerlich verdorben fühlen und uns nicht der Verachtung aussetzen wollen.

Der Schlüssel, damit zu arbeiten heißt: im Zustand von Weite, Offenheit und Unerschütterlichkeit zu bleiben. Wenn sich Klienten in einer Shiatsu-Sitzung sicher fühlen, könnten sie vielleicht etwas von ihrem Schamgefühl zeigen. Wenn man ihnen Unerschütterlichkeit und Wärme vermittelt, können sie langsam ihre Ansicht über sich selber verändern (weil sie eigentlich erwarten, dass die Anderen angewidert sind) und das heilt die Scham. Sie zu „reparieren“ ist kontraproduktiv, weil das Unterbewusstsein dieses dann als Bestätigung dafür sieht, dass etwas in ihrem Inneren schlecht ist. Scham braucht eine lange Heilungszeit und wie ein nervöses Tier, braucht sie Geduld, Stille und Ruhe um sie zu zeigen und um zu erkennen, dass es sicher ist, damit nach außen zu gehen. Daher ist die wesentliche, stille Shiatsu-Berührung ideal für diesen Zustand.


Shao Yin – das kleinere Yin – „Spontaneität und Erregung“

Das kleinere Yin verbindet die Niere mit dem Herzen. Die Niere ist die Quelle unserer ursprünglichen Energie. Das Herz ist das Zentrum unseres ursprünglichen Bewusstseins.

Beide Organe befinden sich in der tiefsten Schicht des energetischen Organismus. Sie handeln nicht selbst, sind aber die Grundlage und die Quelle unserer körperlichen und geistigen Vitalität. Sie sind das Zentrum des Selbst, haben aber gleichzeitig selbst keine Eigenschaften. Als solches verkörpern sie, was die Buddhisten als Sunyata oder das Nichts bezeichnen. Das ist nicht Leere, sondern eine nicht formulierte Energie, welche leicht umwandelbar und manifestierbar ist, weil sie keiner bedingten Ansicht von sich selbst verhaftet ist.

Das bedeutet, dass das Shao Yin nützlich sein kann, wenn man mit Frustration arbeitet. Frustration entsteht, wenn man etwas machen will, aber blockiert ist. Shao Yin ist die darunter liegende Energie dieser Emotion, bevor sie an ein Objekt gebunden wird. Damit zu arbeiten, ist im wesentlichen die Tantrische Praxis (5). Wenn man diese reine Erregung spüren kann – unabhängig von einem äußerlichen Objekt des Verlangens – kann dann, obwohl ein Objekt unerreichbar ist, die darunter liegende Energie einen anderen Weg zur Befriedigung finden; einen Weg, der tatsächlich verfügbar und offen ist. Das ist auch sehr nützlich für andere blockierte Emotionen wie Wut. Typisch ist das Auflösen von blockierten emotionalen Zuständen durch spontane Bewegungen eingeleitet von Shao Yin.


Tai Yang – das höchste Yang – „Klarheit und Ausrichtung“

Der Tai Yang-Kanal verbindet Blase mit Dünndarm. Beide drücken Klarheit in den Absichten eines Menschen aus, so dass sein Geist durch seine Handlungen leuchten kann, ohne dass seine Hemmungen ihn trüben. Diese getrübten Energien werden in der fernöstlichen Philosophie Unreinheiten genannt.

Wenn wir zum Beispiel das Gefühl haben, wir sollten etwas machen, aber im Herzen wollen wir eigentlich nicht, dann ist unsere Handlung unklar und gehemmt. In der psychologischen Sprache wird dieses „sollte“ Introjektion genannt – die Meinung von jemand anderem, die wir geschluckt haben, ohne sie zu verdauen. Introjektionen wirken sich körperlich in Nacken- und Schulterverspannungen aus und hemmen den freien Energiefluss im Körper.

Aus der traditionellen Sicht trennt der Dünndarm die reinen Motivationen, die in unserem Selbst vollkommen aufgehen, von den unreinen Introjektionen. Somit werden unser Bewusstsein und unsere Impulse gereinigt. Das ermöglicht uns, frei nach vorne zu streben, in Richtung unseres wahren Zieles. Die Entwicklung des Blasenmeridians bei Babys richtet das Skelett so aus, dass ein Abstoßen der Beine sich ganz klar entlang der Wirbelsäule fortsetzt bis hin zu einer Bewegung. Daher ist der Tai Yang der Kanal unseres Willens, der Erregung in klare Handlungen umwandelt und unser ganzes Selbst danach ausrichtet.

Läufer

Dieses Bild zeigt das gesamte Tai Yang. Bonnie Bainbridge Cohen zeigte, wie die Pronation des hinteren Fußes (unter Einsatz der Peroneus- Muskeln entlang des Blasenmeridians) das Becken und die Wirbelsäule ausrichtet, um eine gerade Kraftlinie entlang des Blasenmeridians von den Beinen bis zu den Augen zu erzeugen. Man sieht auch die beherzte Streckung des befreiten Dünndarmmeridians, beginnend mit dem kleinen Finger, sich weiter erstreckend bis zum Schulterblatt und dem M. latissimus dorsi bis zum Dünndarm-Shu-Punkt am Kreuzbein.

Der Tai Yang ist wie ein Pfeil – gerade aus und wahrhaftig fliegt er einem einzigen Ziel entgegen.


Tai Yang und Shao Yin – Die Dimension der Handlung

Zusammen geben uns die Yin- und Yang-Kanäle ein Gefühl von authentischer Handlung, die aus unserer Wahrhaftigkeit kommt. Das ist schwierig für so soziale Tiere, wie wir Menschen es sind, weil wir immer unsere Impulse zügeln müssen, um uns an andere Menschen anzupassen. Daher sind die nächsten zwei Kanäle die letzten Zutaten für eine authentische Handlung, während der man auch den Kontakt und den Dialog mit anderen Menschen aufrechterhält.


Shao Yang – das kleinere Yang – „Zusammenarbeit“

Shao Yang verbindet Gallenblase mit dem Dreifachen Erwärmer. Der Dreifache Erwärmer hat die traditionelle Funktion von Integration – der Weg wo sich die Ursprungsenergie (Yuan Qi) im ganzen Körper auswirkt. Die Gallenblase vermittelt zwischen potenziell unstimmigen Aspekten unserer Energie, fördert Zusammenarbeit und gibt uns die Erfahrung, eine Entscheidung zu treffen (weil alle internen Streitigkeiten geschlichtet sind). Daher ermöglicht uns das Shao Yang, als ein einheitliches Wesen zu handeln, aus unserem Ganzen zu agieren.

Entwicklungsmäßig gesehen, werden die vom Shao Yang eingeleiteten Bewegungen im Körper des Babys durch spiralförmige Rollbewegungen integriert. Neugeborene sind physisch nicht verbunden. Innerhalb von vier bis fünf Monaten haben sie ihre Mitte gefunden und ihre Bewegungen wirken sich ganzheitlich auf den Körper aus. Shao Yang setzt seine Entwicklung während der ganzen Kindheit fort und verwendet spiralförmige Wege der Verbindung um athletische Fähigkeiten und anmutige Bewegung zu entwickeln.

2 Tänzer

Diese zwei Tänzer zeigen sowohl das Shao Yang und das Jue Yin. Der Tänzer links zeigt die Integration der Glieder zum Rumpf, die das Jue Yin entwickelt – alles zusammenziehend.

Der Tänzer rechts ist flexibel und empfänglich, andererseits aber auch handlungsbereit. Die Definition für Zusammenarbeit. Er ist mitten in einer spiralförmigen Drehung, was die typische Bewegung ist, die sich bei einem vierjährigen Kleinkind entlang des Shao Yang entwickelt. Die Spirale integriert links und rechts, oben und unten und auch die Vorder- und Rückseite des Körpers.


Jue Yin – das beharrliche Yin – „Beharrlichkeit und Integrität“

Das Jue Yin verbindet den Leber- mit dem Perikard- (oder Beschützer des Herzens) Meridian. Es wird oft als das Absolute oder Weichende Yin bezeichnet, aber der ursprüngliche chinesische Ausdruck ist viel subtiler und daher ist eine Übersetzung in einem Wort nicht möglich. Aus Sicht der Entwicklung scheint „Beharrlichkeit“ ein passender Ausdruck für „Jue“ zu sein. Das Zeichen im Chinesischen für Jue beinhaltet die Andeutung einer Pflanze, die durch Schwierigkeiten dringt, wie ein Keimling der durch Beton wächst. Die Jue Yin-Meridiane unterstützen uns beim Erwachsenwerden und helfen uns die Herausforderungen des Lebens zu meistern, ohne von unserer Wahrheit abzuweichen. Begegnen wir einem Hindernis, verteilt das Perikard diese Last im ganzen Körper, um Traumatisierung zu vermeiden, während sich die Leber wie eine Feder verhält, indem sie den Rückschlag absorbiert und die in ihr gespeicherte Energie verwendet, um uns auf unseren ursprünglichen Weg zurück zu bringen. Beide Organe reagieren flexibel, biegen sich mit dem Wind und die Leber bleibt dabei, indem sie die ursprüngliche Vision festhält und beharrlich den Weg weitergeht. Auf diese Weise versteht man die traditionelle Funktion von „den Qi-Fluss besänftigen“.

Aus Sicht der Entwicklung machen dies beide Meridiane, in dem sie die Peripherie mit dem Zentrum verbinden. Reflexe wie der Babkin-Reflex entwickeln sich entlang des Perikardmeridians, um die Arme und den Kopf mit dem Rumpf zu verbinden. Haltungsreaktionen und Reflexe integrieren Beine und Körper, wobei sich zuerst die innerste Muskulatur wie der Psoasmuskel entwickelt, und sich dann weiter abwärts entwickelt, um den Adduktoren entlang des Lebermeridians Spannung zu verleihen.

Das bringt den Körper um die zentrale Achse herum ins Gleichgewicht, um so das Aufrichten zu entwickeln. Gemeinsam gibt diese bindende Haltung dem Körper das Gefühl eines zusammenhängenden Systems, was für die Balance und Koordination nötig ist. Sie hilft uns im physischen Sinn zu stehen, aber gibt uns auch die innere Stärke um zu uns zu stehen.

Die Möglichkeit, welche das Jue Yin uns lehrt, ist die Fähigkeit sich zusammenzureißen, beharrlich bei Schwierigkeiten zu bleiben, um seine innersten Ziele nicht aus den Augen zu verlieren. Es ist der Kanal, der uns mehr als jeder andere das Gefühl von Integrität verleiht, was als Grundlage für die meisten Beziehungen, sozialen Austausch und moralische Substanz nötig ist.


Shao Yang und Jue Yin – Die Dimension der Beziehung

Wie man sieht, gibt uns das Jue Yin ein Gefühl von Integrität und Sinn während Shao Yang unsere innersten Konflikte vermittelt, um die Selbst- Integration zu ermöglichen. Somit helfen uns diese zwei Kanäle, uns selbst zusammenzuknüpfen, bilden aber auch gleichzeitig die Grundlage für unsere äußeren Beziehungen in dem sie uns die Fähigkeit geben, uns verbindlich auf etwas einzulassen, zusammenzuarbeiten, beharrlich zu sein, kontakt- und dialogfreudig zu sein. Was eben alles nötig für die meisten Freundschaften ist – außer den oberflächlichsten.


Schlusswort

Die Archetypen, die ihren Ausdruck in den sechs Kanälen finden, haben eine tiefe spirituelle Bedeutung. Oft finde ich, das sie die Kernthemen in einem Menschenleben beleuchten, was man als Lebensaufgabe verstehen könnte. Wenn man diese Kernthemen ins Bewusstsein bringen kann, nimmt die Arbeit eine andere Dimension an. Anstatt „Probleme lösen zu wollen“, kann man die Themen vielmehr als Herausforderungen und Anregungen innerhalb des Lebensprozess des Menschen betrachten; ein tiefer Teil ihres Selbst, welcher ein Keim zum Lernen sein kann.


Literaturhinweise

(1) Development of Meridians: Bill Palmer, Journal of Shiatsu and Oriental Body Therapy, 1&3 Ausgabe

(2) Sensing, Feeling and Action: Bonnie Bainbridge Cohen; Northhampton MA 01061, Contact Editions, 1993

(3) Pre-feeding Skills: S.E. Morris & L.M. O’Klein, The Psychological Corporation, 555 Academic Court, San Antonia, Texas 78204-2498, U.S.A.

(4) Paediatric Developmental Therapy: Ed. Sophie Levitt. ISBN 0632009683 1984

(5) The Crystal and the Way of Light: Namkhai Norbu, Snow Lion Books. ISBN : 1559391359

(6) The Liver: Elizabeth Rochat de la Vallee and Claude Larre. Redwing Books. ISBN: 9781872468075

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© Bill Palmer (www.seed.org); Bilder von Bill Palmer