Die Leber, der Atem und der Fluss des Qi (Eduard Tripp)
Atmung und Qi
Der göttliche Atem ist es, der alle Lebewesen lebendig macht. Der christliche Mythos beschreibt einen Schöpfergott, der alle Tiere und auch den Menschen aus Lehm formte und ihnen dann das Leben schenkte, indem er ihnen seinen göttlichen Atem einhauchte.
Solange der Mensch lebt, ist es eben dieser Atem, der ihn von der unbeseelten Natur unterscheidet. Im Tod allerdings verlässt er ihn, kehrt gleichsam zu seinem Ursprung zurück und lässt die Materie unbelebt und unbeseelt zurück: Asche zu Asche und Staub zu Staub.
Lange Zeit war es dann auch faktisch der Atem, der als Zeichen herangezogen wurde, ob ein Mensch (noch) lebt: Ein Spiegel, den man ihn vor Mund und Nase hält, war der entscheidende Indikator: Beschlägt der Spiegel durch die oft kaum mehr wahrnehmbare Atmung, so ist der Betreffende nachweislich noch am Leben. Tut er das nicht mehr, so ist die Hoffnung – und mit ihr dieser Mensch – gestorben.
Atem, Prana und Qi (Ki) sind Konzepte, die auf unterschiedlichem Hintergrund, unterschiedlicher Terminologie und unterschiedlichem Weltverständnis ein ähnliches Phänomen beschreiben: Diejenige Kraft oder Energie, die den dynamischen Aspekt allen Lebendigen darstellen. Ihr ungehinderter Fluss und ihre regelhafte Zirkulation im Körper bedeutet Gesundheit und Wohlergehen.
In der fernöstlichen Medizintheorie ist es die Leber (und gekoppelt mit ihr die Gallenblase, die sie als Yang-Partner unterstützt), die in unserem Körper für den freien Fluss von Qi und Blut verantwortlich ist – untrennbar mit dem freien Fluss verbunden. „Fließt die Leber“, so fließt das Qi. Ist die Leber blockiert, so sind auch die Entfaltungen des Lebens behindert.
Bedenkt man zudem, dass die Leber über das Zwerchfell herrscht, so schließt sich der Kreis. Ein blockiertes Zwerchfell bedeutet eine Blockade der Leber. Eine blockierte Leber wiederum schränkt die Atmung ein. Seufzen, der Versuch das Zwerchfell zu lockern, ist ein typisches Symptom der Leber-Qi-Stagnation: die Atmung, insbesondere die Ausatmung, ist blockiert.
Energieniveau während der Shiatsu-Sitzung
Alles will verarbeitet werden, und jede Verarbeitung kostet Energie. Das gilt auf der Ebene der Nahrung und des Verdauungsapparats ebenso wie im emotionalen und geistigen Bereich. Fehlt es uns an Energie, so können wir nur schwer zwischen „Reinem“ und „Unreinem“ unterscheiden, zwischen Verwertbarem und Nutzlosem. Die Extraktion fällt uns dann schwer, ist fehlerhaft und kostet zudem viel Energie. Müdigkeit nach dem Essen fällt ebenso in diesen Bereich wie die Erschöpfung, die geistige Arbeit oder emotionale Prozesse mit sich bringen.
Das gilt auch für die Verarbeitung einer Shiatsu-Sitzung, die abhängig vom Energieniveau der KlientIn ist. Ist sie erschöpft oder krank (auch Alter kann hier eine Rolle spielen), so steht ihr dafür weniger Energie für die Verarbeitung zur Verfügung: Die gleiche Arbeit, der gleiche Input, aber weniger Wirkung. Ganz im Gegenteil mitunter, denn ein Zuviel kann den Organismus überfordern und schwächen. Ein „optimales“ Energieniveau hingegen macht die Sitzung maximal erfolgreich.
Quellen der verfügbaren Energie
Die Energie, die uns jeweils aktuell zur Verfügung steht, hat drei Quellen. Im unteren Erwärmer ist es die Niere, im mittleren die Milz und im oberen Erwärmer die Lunge.
Das Qi der Niere bildet die tiefste Ebene, entspricht unserer „Mitgift“, unserer Konstitution, dem Yuan Qi oder Jing, das wir von unseren Eltern mitbekommen haben, und unseren (noch) vorhandenen Rücklagen.
Das Qi, das von Milz und Magen im Verdauungsprozess gewonnen wird, nährt Qi und Blut und alle Organe und Bereiche unseres Körpers. Dass Nahrung unserem Körper als Qi zur Verfügung steht, braucht allerdings einiges an Zeit, da die Extraktion und Verarbeitung ein aufwendiger und auch energieintensiver Vorgang ist. Energie aus der Nahrung steht uns daher nicht unmittelbar zur Verfügung, erst nach einiger Zeit.
Das Qi, das von der Lunge aus der Atemluft extrahiert wird, steht uns hingegen – vorausgesetzt Milz- und Nieren-Qi sind grundlegend und ausreichend vorhanden – vergleichsweise rasch zur Verfügung. Das bemerken wir ja auch in Alltagssituationen: Wenn wir rasch noch einen Bus erreichen wollen und mit der unmittelbar verfügbaren Energie nicht mehr unser Auslangen finden, vertieft sich unser Atem, wir atmen schneller und eventuell auch durch den Mund (um mehr Luft aufzunehmen): Rasch spüren wir die belebende Wirkung der vertieften Atmung.
Atmung und Atemmuster
Der Atem reagiert auf jegliche Bewegungen unseres Lebens. Eine Störung in seinem Fluss ist ein Hinweis auf eine Störung in unseren Lebensfunktionen, in unserer Verbindung mit dem Strom des Lebens, dem Fluss des Qi. Der Rhythmus des Atems zwischen den komplementären Polen „Ein“ und „Aus“, „Leer“ und „Voll“, „Aktiv“ und „Passiv“, „Sein“ und „Vergehen“ ist ein Abbild des „großen Rhythmus“, der allen Lebensvorgängen zugrunde liegt.
Atmen bedeutet einen fortwährenden Wechsel von Aktivität zu Passivität und von Passivität zu Aktivität. Beim Einatmen gehen wir nach außen und nehmen die Welt in uns auf. Beim Ausatmen lassen wir los, was in uns ist, geben uns der Welt hin. Die Art und Weise, wie wir atmen, zeigt wie sicher wir uns in unserem Körper und auf der Erde fühlen und in welchem Maß wir bereit sind, das anzunehmen, was mit dem Atem, mit dem Leben auf uns zukommt. Ein gestörtes Einatmen wird deshalb mit Misstrauen gegenüber dem, was von außen kommt, assoziiert, ein gestörtes Ausatmen mit der Angst, uns der Welt und anderen Menschen anzuvertrauen, hinzugeben.
Schon in der Kindheit sind wir Einflüssen und Erfahrungen ausgesetzt, die uns verändern. Ängste, Verlassenheitsgefühle und andere Emotionen, die nicht ausreichend verarbeitet werden können, führen zu Schutzmechanismen und Verhaltensmustern, die unser Leben beeinflussen und mitunter nachhaltig einschränken. Dazu kommen später im Leben Stress in der Arbeitswelt sowie in familiären und freundschaftlichen Beziehungen und generell eine Flut von unterschiedlichsten Emotionen, die uns fordern und belasten.
Mit solchen Erfahrungen verändert sich unser Atem, er wird kurz und flach. Es stockt uns der Atem, die Brust wird eng, das Atmen fällt uns schwer und wir bekommen kaum mehr Luft. Es kommt zu Verspannungen und psychosomatischen Beschwerden, bis hin zu physischen Erkrankungen. In dieser Verfassung trifft der Atem auf Strukturen, die er nicht mehr ausgleichen kann, die vielmehr ihn verändern. Unsere Erfahrungen haben sich im Körper manifestiert und entsprechende Atemmuster erzeugt. Ganz anders hingegen, wenn wir uns freuen, lachen und lieben: Dann werden wir weit und frei im Atem.
Wir haben die Wahl: Entweder wir machen uns weit und öffnen uns dem Lebensstrom, lassen unseren Atem frei ein- und austreten, oder wir schränken unser Potential ein und begnügen uns mit einem Leben in diesen Begrenzungen. Und mit der Zeit verfestigen sich diese Einschränkungen strukturell und man spricht von „eingefrorenen“, faszial verfestigten Atemmustern.
Direkte Arbeit mit dem Atem
Arbeiten wir mit der Atmung, so arbeiten wir primär mit zwei Systemen: der Lunge als Oberkommandierende des Qi und der Leber, die für die freie Entfaltung, den freien Fluss des Qi verantwortlich ist. Sekundär profitiert von dieser Arbeit, vor allem wenn der Fluss der Energie in die Arme berücksichtigt wird, auch das Herz, der Urgrund unserer Bestimmung, die nun wieder Raum bekommt.
Während die Stärkung der Einatmung ein aktiver und willentlicher Vorgang ist, setzt die Unterstützung der Ausatmung an den autonomen Funktionen an. Das Atemvolumen wird mit diesem Ansatz erhöht, der unwillkürliche Rhythmus der Atmung gestärkt und vertieft.
Arbeit an Leber und Gallenblase
Der Rhythmus, in dem man arbeitet, ist dabei von großer Bedeutung, da der Atemrhythmus eine steuernde Dynamik im Körper darstellt, die alle anderen Rhythmen des Körpers zu koordinieren und zu synchronisieren vermag. Fließt der Atem frei, können sich auch die anderen Funktionen des Organismus „einschwingen“ und letztlich wieder alle Funktionen zu einer Einheit „zusammenschwingen“.
Hier bietet sich ergänzende Arbeit „an der Leber“ an. Wir lösen ihre Blockaden und bringen den gesamten Körper wieder (so weit wie möglich) in Fluss und Schwingung. Konkret bedeutet das die Integration von Dehnungs,- Mobilisations- und rhythmischer Arbeit – Techniken, die insbesondere die Leber ansprechen.
Same same but different
In der praktischen Arbeit des Shiatsu arbeiten wir allerdings vor allem an der Gallenblase, genauer gesagt an ihrer äußersten Struktur, dem Meridian. Das erklärt sich daraus, dass Leber und Gallenblase Yin-Yang-Partner sind, gemeinsam und untrennbar die Frühlingskraft repräsentieren: zwei Seiten eines Phänomens. Und während die TCM (Pharmakologie), in ihrem Wesen Yin, von Innen wirkt, setzt Shiatsu als Yang-Methode im Außen an.
In unserem Organismus, in dem systemisch alles mit allem verbunden ist und kein Teil oder Aspekt für sich allein steht, wirkt jede Änderung auf das gesamte System. Unterschiedliche Methoden haben unterschiedliche Ansätze. Und nicht die Methode ist von höchster Bedeutung sondern das Ergebnis, das wir mit dieser Behandlung erzielen können: Dass das Qi mit unserer Behandlung wieder ungehindert fließt, der ganze Organismus wieder frei zu atmen und zu schwingen beginnt.
Quellen
Tripp, Eduard: Der Atem in der Arbeit mit Shiatsu. www.shiatsu-austria/?p=2795.
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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at)