Die Aggression als Lebensprinzip der aktiven Hinwendung (Dr. Eduard Tripp)

Du bist aggressiv“ ist für viele Menschen zu einer eindeutig negativen Bewertung geworden. Aggression ist im common sense dieses Sprach- und Lebensverständnisses ein gefährlicher und zerstörerischer Aspekt, der seine Berechtigung fast ausschließlich im Schutz von Leib und Leben und in der Abwehr eines unberechtigten Angriffes hat. Diese innere Ablehnung der Aggression bedeutet allerdings eine ziemlich drastische Einschränkung und Verzerrung eines wichtigen Lebensprinzips, dessen sprachliche Wurzeln „ad“ und „gredere“ wörtlich „an etwas rangehen“ bedeuten: das Lebensprinzip der aktiven Hinwendung. Dass wir Interesse an der Welt zeigen, uns ihr zuwenden und sie in Besitz nehmen, beruht auf dem lebensbejahenden und lebenserhaltenden Prinzip der Aggression. Es ist die aggressive Triebfeder, die uns dazu bringt, auf die Welt zuzugehen und unsere bisherigen Grenzen zu überschreiten. Die Psychologie spricht deshalb davon, dass die Aggression die notwendige Triebgrundlage der Neugieraktivität bildet.[1]Im vorliegenden Artikel beziehe ich mich nahezu ausschließlich auf den Aspekt der gehemmten Aggression und vernachlässige die ebenfalls disbalancierte Überhöhung von Aggression und Destruktion … weiterlesen

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Eine Schwäche oder Blockade dieser Triebkraft lässt uns in unseren gewohnten Bahnen verharren und einschränkende Grenzen werden kaum in Frage gestellt. Es ist daher nicht von ungefähr, dass tatkräftige und aktive Menschen mit aggressiven Attributen belegt werden. „Jemand hat Biss“ sagt man zum Beispiel, wenn man von einem tatkräftigen Menschen spricht. Eine schwache und gehemmte Aggression nämlich kann, so belegen tiefenpsychologische Studien, selbst elementare Vorgänge, wie den der Geburt, erschweren. H. Molinski beschreibt, dass aggresssionsgehemmte Frauen aus diesem Grund langwierige und schwere Geburten haben. Ihnen fehlt die nötige aggressive Gestimmtheit der letzten Schwangerschaftswochen, die einen Schlussstrich zu ziehen bereit ist. Nun ist es an der Zeit, dass dieser Lebensabschnitt zu Ende geht und das bisher im Bauch getragene Kind auf eigenen Beinen zu stehen lernt.

Diese Einstellung der Mutter unterstützt mit ihren Wehen das Kind auf seinem Weg in eine eigenständige Existenz und damit die Auflösung der bisherigen intrauterinen Lebensgemeinschaft. Aggressionshemmung jedoch führt zu Wehenschwäche, denn die Wehen, die das Kind auf seinem Weg in die noch unbekannte Welt unterstützen, sind aggressiven Ursprungs. Eine Aggression allerdings, die in Einklang mit der Weiterentwicklung und damit mit dem Leben selbst steht.

Überhaupt ist es häufig die Aggression, die neue Entwicklungsschritte einleitet, wie beispielsweise in der oft schwierigen Ablösung der Pubertät. Letztlich, geprägt vom aggressiven Klima der Auseinandersetzungen, die die Loslösung aus den bisherigen Strukturen der Eltern-Kind-Beziehung begleiten und geradezu kennzeichnen, ist es schließlich die Aggression, die das Kind, den jungen Erwachsenen, gleichsam die „Tür hinter sich zuschlagen lässt“, weil im „engen“, „begrenzten“ und „begrenzenden“ familiären Umfeld neue Wege der Selbständigkeit nicht möglich scheinen. Aggressiv ist die Ablösung, in der gute und schlechte Zeiten und Erfahrungen hinter sich gelassen werden, und aggressiv ist die Zuwendung zur Welt, in der neue Wege und Vorstellungen verwirklicht werden sollen. Aggressiv auch in der Weise, dass den „engstirnigen und kleinkarierten Erwachsenen“ gezeigt werden soll, dass es anders geht, dass die von ihnen gelebten und vorgegebenen Beschränkungen überwindbar sind. Die Aggression ist auf unserem Lebensweg ein wichtiger Motor der Entwicklung, nicht um Gräben aufzureißen und Unversöhnlichkeiten zu zementieren, sondern letztlich im Streben um Anerkennung, Akzeptanz, Wertschätzung und Gleichberechtigung.


Die Aggression im tiefenpsychologischen Verständnis

In der Psychologie und Tiefenpsychologie wird das Thema der Aggression unter verschiedenen Gesichtspunkten diskutiert. Das Spektrum reicht von Aggression als Reaktion auf die Blockade unserer Bestrebungen und Wünsche („Frustrations-Aggressions-Hypothese“) bis zur Vorstellung zweier entgegengesetzter Triebe, von denen der eine Bindung zum Ziel hat (libidinöser oder Lebenstrieb), der andere hingegen Zerstörung bis hin zum Tod (aggressiver, destruktiver oder Todestrieb).

Das Konzept des Aggressionstriebes wurde erstmals von A. Adler 1908 als Hypothese formuliert, von Freud aber lange Zeit abgelehnt. Erst 1920, mit „Jenseits des Lustprinzips“ wurde die Theorie des Aggressionstriebes von Freud aufgegriffen, und dem Lebenstrieb (Libido) der Todestrieb (Destrudo) gegenübergestellt.[2]In den Werken Freuds findet sich keine eindeutige Verwendung des Ausdrucks „Aggressionstrieb“, noch eine klare Abgrenzung gegenüber den Begriffen „Todestrieb“ und „Destruktionstrieb“. … weiterlesen 1940, im „Abriss der Psychoanalyse“, definiert Freud das Ziel des libidinösen Triebes darin, immer größere Einheiten herzustellen und zu erhalten (d.h. Bindung). Das Ziel des Aggressionstriebes hingegen liegt im Gegenteil darin, Zusammenhänge aufzulösen und so die bisherige Ordnung zu zerstören.

Versteht man die beiden Triebe als Kräfte, die dazu dienen, einerseits Verbindungen mit zunehmender Komplexität zu schaffen (libidinöser Trieb) und andererseits überkommene und hindernde Strukturen aufzulösen (aggressiver Trieb), so stehen beide Kräfte im Dienste der Weiterentwicklung. Verbindungen eingehen zu können ist ebenso wichtig wie die Fähigkeit, einengende Beziehungen und Strukturen auch wieder auflösen zu können, um Weiterentwicklung und Individuation zu ermöglichen. Jeder neue Entwicklungsschritt bedeutet nämlich immer auch die Auflösung der bisherigen Strukturen. Und mit jedem Fortschreiten lassen wir zugleich auch das Bestehende, Erreichte auf gewisse Weise hinter uns zurück. So hat jede Entwicklung immer zwei Gesichter: Die eine Seite zeigt sich in zunehmender Komplexität, in neuen Strukturen und Möglichkeiten. Auf der anderen Seite aber werden mit diesem Schritt die bisherigen Bindungen und Sicherheiten aufgelöst.

Zu Beginn unseres Lebens verlassen wir die vorgeburtliche Einheit mit der Mutter, werden getrennt und trennen uns – hineingeboren in die Welt. Später verlassen wir, Schritt für Schritt, das Elternhaus, um unsere Welt zu erweitern: Kindergarten und Schule, schließlich Studium und/oder Beruf. Wir lösen uns aus unserer Herkunftsfamilie, um neue (eigene) familiäre und soziale Strukturen zu gestalten. Jeder Schritt vorwärts eröffnet uns neue Möglichkeiten und bedeutet zugleich auch einen Schnitt in unserem bisherigen Leben. Jede Entwicklung ist ein Ende unserer bisherigen Lebensstrukturen, denn die Auflösung bestehender Strukturen ist unabdingbar für das Fortschreiten hin zu größerer Komplexität und Reife. Im Wechselspiel von Bindung und Trennung schreitet das Leben so zu immer reicheren und komplexeren Lebenszusammenhängen. Binden und Trennen sind die beiden einander ergänzenden Aspekte der Entwicklung. Die Balance, das Gleichgewicht zwischen ihnen, ist von größter Bedeutung.

Aggressive Aspekte drängen nach Unabhängigkeit, Weiterentwicklung und Selbständigkeit. Die libidinösen Impulse hingegen sorgen dafür, dass unser Fortschreiten und unsere Annäherungen nicht hart und verletzend werden. Übermäßige und ungemilderte Aggression ist verletzend und zerstörend. Die Begegnung mit der Welt kommt so einer Vergewaltigung gleich, rücksichtslos und ohne Mitgefühl.

Die aggressiven Impulse treiben die Entwicklung voran, ein adäquates Maß (nicht übermäßig und dadurch zerstörerisch) an Versagung fördert Abgrenzung und Eigenständigkeit. Ein Fehlen von adäquater Versagung (und daraus resultierender aggressiver Impulse) hingegen verzögert und blockiert das Voranschreiten in Richtung zunehmender Differenzierung und Komplexität unseres Lebens. Zu schwache und gehemmte aggressive Impulse verhindern das Rangehen an eine Sache, verhindern das offensive Verhalten und machen die Begegnung, die Auseinandersetzung wie auch Abgrenzung schwierig: Wir sind gehemmt, blockiert, im Handeln – und oft sogar schon im Denken.


Was können wir tun, um das aggressive Element lebensbejahend zu integrieren?

Über die manuelle Behandlung hinaus, in der wir die Energiesysteme des Köpers und den freien Fluss von Qi und Blut stärken und ausgleichen können (unter Beachtung der Zusammenhänge, die sich aus den Wechselwirkungen der Fünf Wandlungsphasen ergeben), kann es wichtig sein, dem aggressiven Element seinen negativen Nimbus zu nehmen, denn ohne Aggression ist unser Leben praktisch unmöglich. Es ist eine Grundvoraussetzung des Lebens, dass wir uns schützen und verteidigen müssen und dass der Erhalt des Lebens immer mit aggressiven Aspekten verbunden ist. Auf der tiefsten, organischen Ebene erfolgt dies durch die Funktionen unserer Immunität und Körperabwehr, aber auch sonst bietet das Leben viele Anlässe, mitunter im wahrsten Sinne des Wortes, uns unserer Haut zu wehren. Aggression ist, und das sollten wir unseren KlientInnen bewusst machen, ein dem Leben innewohnendes und letztlich die Entwicklung förderndes Prinzip, das es in unser Leben zu integrieren gilt. Negativ, verletzend und wirklich zerstörerisch wird Aggression erst dann, wenn sie nicht eingebettet, nicht integriert ist. Achtsame und durch ihren libidinösen Bezug gemilderte („rücksichtsvolle“) Aggression hingegen ist – unter der Voraussetzung, dass das Gegenüber respektvoll wahrgenommen wird – durchaus auch befriedigend und lustvoll.

Die Integration der Aggression in unser Leben bedeutet aber noch mehr, nämlich auch das Eingehen eines Risikos im Sinne der Begegnung. An etwas Rangehen ist es auch, wenn man z.B. einer nahe stehenden Person gegenüber Gefühle ausdrückt, die man sonst zurückhält, um beispielsweise eine Ablehnung zu vermeiden oder der Gefahr ausweicht, sich zu blamieren. Gemeint sind hier nicht nur „negative“ Gefühle, sondern im Gegenteil auch „positive“ wie Wertschätzung und Zuneigung.

Das Leben der aggressiven Seite in uns macht uns und unsere KlientInnen direkter und ehrlicher, bedeutet neben den darin enthaltenen Chancen aber auch mehr Risiken, weil die Beziehung, wie sie bisher war, damit verändert wird. Das, was bislang noch nicht ausgedrückt wurde, ist nun gesagt, das Gegenüber weiß darüber Bescheid. Ab jetzt ist es Bestandteil der Beziehung, geteilt und gemeinsam.

Nicht verwechseln sollten wir aber (mit- und einfühlsame) Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und Direktheit mit einer egoistischen, ungefilterten und damit falsch verstandenen Spontaneität und Impulsivität, die – ohne Rücksicht auf den Anderen – verletzend und geradezu sadistisch ist. Hier fehlt die nötige Achtsamkeit gegenüber dem Anderen.

Ein weiterer Aspekt der Aggression, dessen Integration wir fördern können, ist die Abgrenzung, das „Nein“. Auf dem Weg zur persönlichen Integrität ist es wichtig, zunehmend auf die eigenen Grenzen zu achten, sie nicht (meist aus Angst vor Konfrontation oder Ablehnung) überschreiten zu lassen oder selbst zu überschreiten. Die eigenen Grenzen zu erfahren – ganz grundlegend auf der Ebene der Körperwahrnehmung aufbauend – ist ein Bereich, den wir mit Shiatsu sehr gut unterstützen können. Hier können wir auch als Vorbild wirken in der Art und Weise, wie wir mit unseren Grenzen und den Grenzen unserer KlientInnen umgehen.

Ist unser Selbstwertgefühl stark und stabil, gehen wir (und unsere KlientInnen) leichter mit den aggressiven – den abgrenzenden ebenso wie mit den offensiven, auf die Anderen zugehenden – Impulsen um, weil wir es innerlich riskieren können, auch Ablehnung zu erfahren. Der Grund dafür liegt allerdings nicht so sehr darin, dass wir so wenig an diese Beziehungen gebunden sind, dass uns eine Ablehnung nicht trifft, sondern, geradezu im Gegenteil, darin dass wir darauf vertrauen, mit der Zurückweisung, so schwer sie uns auch treffen mag, umgehen zu können, sie zu „ertragen“ (auch hier zeigt sich die fernöstliche Weisheit, die die große Bedeutung einer starken Nieren-Energie für die Durchsetzungskraft der Gallenblase deutlich macht).

Wenn es uns gelingt, mit Shiatsu dazu beizutragen, dass unsere KlientInnen an Selbstwahrnehmung und Selbstwertgefühl gewinnen, so ist dies ein wichtiger Schritt hin zu einem konstruktiven Umgang mit der Aggression.[3]In der experimentellen Psychologie konnte nachgewiesen werden, dass die größte Gewaltbereitschaft Menschen mit einer hohen, aber instabilen Meinung von sich haben. Menschen mit einem hohen und … weiterlesen Zunehmend – und dazu haben wir die Möglichkeit mit unserem Shiatsu beizutragen – können unsere KlientInnen die Erfahrung machen, dass sie in ihren Grenzziehungen und in ihren Wünschen respektiert und angenommen werden. Das ist (und sollte bedacht werden) nicht gleichzusetzen mit der Erfüllung aller ihrer Wünsche, vielmehr der Respekt vor ihren Wünschen, gerade auch dann, wenn wir sie nicht erfüllen können oder ihre Erfüllung die Grenzen der Shiatsu-Sitzung überschreiten würde. Ein solches Erleben trägt viel dazu bei, dass Sicherheit und innere Ruhe gefunden und erlebt werden können. Und es fördert die harmonische Integration des aggressiven, fordernden und abgrenzenden Elements in ein zunehmend reicheres und erfüllteres Leben.


Wichtige Quellen

  • Adler, A. – „Der Aggressionstrieb im Leben und in der Neurose“. In: „Fortschritte der Medizin“, 1908
  • Blanck, G. & Blanck, R.: „Ich-Psychologie II“. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1989 (2. Auflage)
  • Blanck, G. & Blanck, R.: „Jenseits der Ich-Psychologie“. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1989
  • Baumeister, R.F.: Gewalttätig aus Größenwahn“. In: Spektrum der Wissenschaft. Psyche und Verhalten. Sondernummer 1/2002, S. 70-75
  • Laplanche, J. & Pontalis, J.-B.: „Das Vokabular der Psychoanalyse“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1986 (7. Auflage)
  • Molinski, H : „Die unbewusste Angst vor dem Kind als Ursache von Schwangerschaftsbeschwerden und Depressionen nach der Geburt“. Kindler Verlag, München 1972
  • Freud, S.: „Jenseits des Lustprinzips“, 1920
  • Freud, S.: „ Abriss der Psychoanalyse“, 1940
  • Spitz, R.A. – Vom Säugling zum Kleinkind. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1992 (10. Auflage)

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im vorliegenden Artikel beziehe ich mich nahezu ausschließlich auf den Aspekt der gehemmten Aggression und vernachlässige die ebenfalls disbalancierte Überhöhung von Aggression und Destruktion als Mittel, um die eigenen Ansprüche auch gegen den Widerstand anderer durchzusetzen.             

„Das Vokabular der Psychoanalyse“ von J. Laplanche und J.-B. Pontalis (1986) definiert Aggression als „Tendenz oder Gesamtheit von Tendenzen, die in realen oder phantasierten Verhaltensweisen aktualisiert werden und darauf abzielen, den anderen zu schädigen, ihn zu vernichten, zu zwingen, zu demütigen u.s.w. Die Aggression kennt andere Modalitäten als die heftige und zerstörerische motorische Aktion; es gibt keine Verhaltensweise, weder eine negative (z.B. Verweigerung von Hilfeleistung) noch eine positive, symbolische (z.B. Ironie) noch eine effektiv ausgeführte, die nicht aggressiv sein könnte.“

2 In den Werken Freuds findet sich keine eindeutige Verwendung des Ausdrucks „Aggressionstrieb“, noch eine klare Abgrenzung gegenüber den Begriffen „Todestrieb“ und „Destruktionstrieb“. Meist wird der Aggressionstrieb im Sinne des „nach außen gewendeten Todestriebes“ verwendet.             

Von Freuds Schülern und Nachfolgern wurde der Begriff des Todestriebes vielfach abgelehnt und vor allem durch den Begriff des Aggressionstriebes ersetzt.

3 In der experimentellen Psychologie konnte nachgewiesen werden, dass die größte Gewaltbereitschaft Menschen mit einer hohen, aber instabilen Meinung von sich haben. Menschen mit einem hohen und stabilen Selbstwertgefühl hingegen zeigen die geringste Gewaltbereitschaft (Roy F. Baumeister: „Gewalttätig aus Größenwahn“, 2002).