Der Ursprung der modernen Küche

Bis etwa zum Jahre 1650 ernährte sich die Oberschicht der islamischen und christlichen Welt von Delhi bis London annähernd gleich: Es gab dicke Pürees mit reichlich Soßen, gekochtes Gemüse und warmen Wein, und alle Hauptgerichte enthielten Zucker. Beispiele für eine solche Mahlzeit sind der Blancmanger (ein dicker Brei aus Reis, Hühnerfleisch und Mandelmilch, der mit viel Zucker bestreut und gebratenem Schweinespeck garniert wird), Spanferkel mit Kamelinsoße (Saft von sauren, unreifen Trauben, mit Brotkrumen, zerkleinerten Rosinen und zerstoßenen Mandeln angedickt und mit Milch und Nelken gewürzt), in Fleischbrühe gekochte Saubohnen mit gehackter Minze oder Quittenpaste (Naschwerk aus Quitten, Zucker und Honig).[1]Blancmanger: Nimm gekochte Hühnerbrust, lege sie auf den Tisch und hacke sie so fein du kannst. Dann wasch den Reis und trockne ihn. Mahle ihn zu Mehl und gib es durch ein Sieb; dann rühre diesen … weiterlesen Getrunken wurde Hippokras[2]Um ein Lot guten Hippokras zu machen, nimm eine Unze cinamonde, genannt langer Pfeifenzimt, eine Ingwerknolle und ebenso viel Galgant, verreibe dies alles miteinander und gieße mit einer Gallone des … weiterlesen, ein mit gemahlenem Ingwer, Zimt, Galgant und Zucker stark gewürzter, angewärmter Wein.

Eine gesunde Ernährung war von großer Bedeutung und die Gesundheitsvorsorge fand insbesondere in der Küche statt – vor allem auch, weil es im Falle einer Erkrankung kaum wirksame Behandlungsmöglichkeiten gab. Das Hauptaugenmerk galt deshalb dem Essen und Trinken. Doktoren, die sich in Fragen der Verdauung auskannten und die Zusammensetzung einer gesunden Mahlzeit zu beurteilen wussten, wurden deshalb am Hof beschäftigt. Ihre vorrangige Aufgabe war es, Ernährungsvorschriften für ihre Herrschaft auszuarbeiten. Das Umsetzen der abstrakten Ernährungstheorien in Speisefolgen, die der gehobenen Tafel angemessen waren, oblag dann allerdings dem Majordomus, dem Haushofmeister.

Im “Brevier der Gesundheit” (1547) von Andrew Boorde heißt es: “Ein guter Koch ist ein halber Arzt”, wobei sich der Arzt, wie auch der Koch im 16. Jahrhundert nach einer Diätetik richteten, die auf die klassische Antike zurückging. Deren wichtigste Leitsätze wurden erstmals etwa 400 v. Chr. im “Corpus Hippocraticum” formuliert und Anfang des 2. Jahrhunderts nach Christi vom griechisch-römischen Arzt Galen (Claudius Galenus) in ein System gebracht. Diese antiken Theorien wurden späterhin von islamischen Gelehrten übernommen und fanden seit dem 12. Jahrhundert in lateinischen Übersetzungen wieder Eingang in die europäische Wissenschaft. Auf sie beriefen sich die Lehrer an den großen medizinischen Hochschulen Europas. Ende des 15. Jahrhunderts begann man neu entdeckte griechische Manuskripte zu studieren und bereits bekannte lateinische oder arabische Texte aus der griechischen Originalsprache zu übersetzen.

Bekannt und beliebt waren in den populären Handbüchern Variationen des lateinischen Lehrgedichts “Regimen Sanitatis Salernitanum” (Gesundheitsleitfaden von Salerno), das wahrscheinlich im 11. Jahrhundert entstanden ist.

Milch, Mark, frischer Käs und Nieren,
Süßwein, Weizen, Schweinefleisch und Hirn
Lustspeis, lauter Eier und Feigen
Weinbeer will ich nicht verschweigen,
Machen feist und futtern wohl,
Iss du ihr viel, dein Haus wird voll.

           (Auszug aus dem Gesundheitsleitfaden von Salerno)


Die Grundlagen der mittelalterlichen Ernährung

Auf zwei Grundlagen fußten die Ernährungsempfehlungen: der Vorstellung des Verdauungsapparates als ein Gar- oder Kochvorgang und die antike Elemente- und Säftelehre.

  • Die Verdauung der Nahrung wurde als eine Art Gar- oder Kochvorgang betrachtet – was zugleich auch als generelles Sinnbild aller Lebensvorgänge galt:
    Samen garen unter der Einwirkung der Sonnenwärme zu Pflanzen, in denen in der Sonnenhitze wiederum reife Früchte und Körner garen. Diese erntet der Mensch und gart sie zu essbaren Speisen. Die Hitze des Körpers schließlich gart die Nahrung zu Blut. Das Unverdauliche hingegen wird ausgeschieden und tritt erneut in den Kreislauf des Lebendigen ein.
  • Vier Flüssigkeiten zirkulieren im menschlichen Körper: Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle. Durch entsprechend ausgewogene Nahrung kann ihr Gleichgewicht aufrecht erhalten werden.
    Den vier “Kardinalsäften” entsprechen die vier Elemente Luft, Wasser, Feuer und Erde. Blut (heiß und feucht) wird der Luft zugeordnet, Schleim (kalt und feucht) dem Wasser, gelbe Galle (heiß und trocken) dem Feuer und schwarze Galle (kalt und trocken) der Erde.
    Im Idealfall ist der menschliche Körper leicht warm und leicht feucht. Ältere Menschen sind allerdings kälter und trockener als jüngere. Menstruierende Frauen sind kälter und feuchter als Männer. Diesen Vorstellungen entsprechend waren die Mahlzeiten zu gestalten, idealerweise etwas warm und etwas feucht. Nach der einen oder anderen Richtung abweichende Kombinationen werden als milde Diätmaßnahmen eingesetzt – für ältere Menschen beispielsweise wärmere und feuchtere Mahlzeiten, wobei die jeweiligen Zutaten entsprechend ihren Eigenschaften verwendet werden. Pfeffer z.B. galt als heiß und trocken im dritten Grad, Pilze als feucht und kalt im dritten Grad.
    Von großer Bedeutung ist auch die Zubereitung, die einseitige Eigenschaften der Zutaten ausgleichen kann. “Trockene” Nahrungsmittel wie Knollen- oder Wurzelgemüse, werden gekocht, und “feuchte” (“nasse”) Nahrungsmittel wie Mangold, Kürbis oder Zwiebel geröstet oder gebraten. Zudem erfüllt die Zubereitung den Zweck, die Speisen teilweise vorzuverdauen, so dass sie leichter aufgenommen werden können.


Die neuen Lehren des Paracelsus

Ganz andere Annahmen vertrat die Generation von Ärzten, die Mitte des 17. Jahrhunderts an die europäischen Höfe kam. Sie war beeinflusst von den Lehren des deutschen Wanderdoktors Paracelsus (1493 bis 1541), der die damals herrschenden Theorien verspottete. Paracelsus ersetzte die vier Elemente der Antike durch drei neue Prinzipien (Wirkstoffe): Mercurius (Quecksilber), Sulfur (Schwefel) und Sal (Salz), die das Flüssig-Flüchtige, das Ölig-Brennbare und den erdhaften Feststoff verkörpern.[3]Salz, Schwefel und Quecksilber sind aber nicht mit den gleichnamigen Elementen bzw. dem heutigen Speisesalz gleichzusetzen.

Sal (z.B. Salz, Mehl) bestimmt in der Küche den Geschmack und die Konsistenz der Nahrung. Mercurius (z.B. Essig, Wein, Fleisch- und Fischextrakt) ist die Quelle von Duft und Aroma. Sulfur (z.B. Öl, Butter, Schmalz) liefert Feuchte und Süße und vermittelt zwischen den beiden anderen, energetisch gegensätzlichen Elementen Sal und Mercurius.

Zugleich mit dem Wechsel des Weltbildes begann man die Verdauung nicht mehr als Garen, sondern als Gärung oder Fermentation im Sinne einer chemischen Umsetzung zu deuten. Dieser Vorstellung des 17. Jahrhunderts zufolge machten die sauren, scharfen Magensäfte aus der Nahrung eine weiße, milchige Flüssigkeit, der im Verdauungstrakt die alkalische Galle zugesetzt wird. Daraufhin beginnt diese Mischung zu gären und Gase zu bilden, wobei sie zu einer salzartigen Substanz wird, die der Körper schließlich in Blut und andere Flüssigkeiten umwandelt.

Nahrungsmittel wie Austern, Sardellen, Blattgemüse, Pilze und Obst wurden mit den neuen Lehren (als leicht vergärlich) gerne verwendet. Und mit der zunehmenden Verwertung frischer Pflanzenprodukte kamen auch Gartenbau und Botanische Gärten in Mode. Die Mehlschwitze aus Fett, Mehl und Wein oder Fond wurde erstmals 1651 von Francois Pierre de la Varennes (“Der französische Koch”) beschrieben und verbindet Sulfur (Fett) mit Mercurius (Wein oder Fond) und Sal (Mehl). Anklang fanden in dieser Zeit auch leicht verdauliche Blattsalate mit Soßen auf Ölbasis, z.B. Vinaigrette, die Evelyn 1699 (“Acetana: eine Abhandlung über Salate”) empfahl.

Während sich zunehmend Kräuter, Früchte und Gemüse als feste Bestandteile der Nahrung etablierten[4]Letztlich bezieht sich dies (wie es auch schon für die mittelalterliche Küche galt) auf die reichen Haushalte. Die Armen lebten bis weit in das 19. Jahrhundert hinein generell von Gemüse- und … weiterlesen, fiel der früher als Allheilmittel gepriesene Zucker in Ungnade. “Unter seinem weißen Äußeren”, so der Leibarzt des französischen Königs Heinri IV (1606), “verbirgt sich eine große Schwärze und unter seiner Süße eine große Schärfe”. Zucker war fortan bedenklich, wenn nicht gar ein Gift, und fand seinen Platz fast nur noch in Desserts und beim Verzieren und Garnieren.

Spirituosen und andere Destillate galten als wirksame Arzneien, die für den täglichen Konsum aber als zu stark betrachtet wurden. Als leichter verträglich wurden die nicht so konzentrierten Extrakte angesehen, die aus Fleisch und anderen nahrhaften Lebensmitteln durch Kochen oder Vergären hergestellt wurden. Sich entwickelnde Gärbläschen begrüßte man als Gehirnnahrung. Sprudelnde Mineralwasser erfreuten sich großer Beliebtheit, und kühle Weine wie auch der prickelnde Champagner, der gegen Ende des 17. Jahrhunderts erfunden wurde, verdrängten den heißen und würzigen Hippokras.

Für besonders gesundheitsförderlich hielt man Fleisch- und Fischextrakte, die als Fond, Bouillon oder Gelee serviert wurden (wobei das Fleisch von Landtieren, insbesondere von Rindern, einen nahrhafteren Saft ergeben soll als das von Fisch oder Geflügel). Und schon bald entdeckten Unternehmer das Geschäftspotential dieser neuen Küche und verkauften “Restaurants” (Stärkungsmittel) an Haushalte ohne Koch.

Das aufstrebende europäische Bürgertum übernahm die Speisegepflogenheiten des Adels und dessen Speisen galten sowohl als Zeichen einer verfeinerten Lebensart als auch als Zubereitungen, in denen die einzelnen Nahrungsmittel in ihrer stärksten und am höchsten veredelten Form auftraten. Die neue Ernährungsweise breitete sich allmählich in Europa aus und drang schließlich auch zu den niedrigeren Gesellschaftsschichten vor. Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts hatte sie sich im englisch- und französischsprachigen Europa, in den USA, in Kanada und Australien durchgesetzt.[5]Die islamische, afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Welt hingegen blieb von dieser Änderung der Ernährungsgewohnheiten unberührt. So erinnern etwa die Currys der indischen Küche … weiterlesen Und wenngleich schon Ende des 18. Jahrhunderts die Forschungen begannen, denen wir unser heutiges Wissen über Kalorien, Kohlenhydrate, Proteine, Vitamine und Mineralstoffe verdanken (und die die Lehrmeinungen von Paracelsus ablösten), so prägten die damals entstandene Küche und ihre Vorgaben dennoch bis heute maßgeblich die westliche Ernährung.[6]Im 19. und 20. Jahrhundert war das zentrale Thema die Versorgung der Massen, beispielsweise wie ein billige aber ausreichende Ernährung für weniger begüterte Menschen auszusehen hat.


Quelle

Spektrumder Wissenschaften, Dossier 4/2004

Anmerkungen

Anmerkungen
1

Blancmanger: Nimm gekochte Hühnerbrust, lege sie auf den Tisch und hacke sie so fein du kannst. Dann wasch den Reis und trockne ihn. Mahle ihn zu Mehl und gib es durch ein Sieb; dann rühre diesen Reis mit Ziegen-, Schaf- oder Mandelmilch an und koche ihn in einer gut ausgewaschenen, sauberen Pfanne. Wenn er zu kochen beginnt, füge die gehackte Brust hinzu sowie weißen Zucker und gebratenen weißen Schweinespeck. Halte Rauch davon fern und lasse es milde, ohne zu viel Feuer kochen, bis es so dick ist, wie Reis eben sein sollte. Dann gib es mit zermahlenem oder zerstoßenem Zucker und mit gebratenem Schweinefett zu Tisch (aus: “The Medieval Kitchen: Recipes from France and Italy”. University of Chicago Press, 1998).

Kamelinsoße: Um eine köstliche Kamelinsoße zu machen, nimm geschälte Mandeln, zerstoße sie und streiche sie durch ein Sieb; nimm Rosinen, Zimt, Nelken und ein kleines Stück Brot, mische alles zusammen, und verrühre es mit Verjus, dem Saft unreifer Trauben (aus: “The Medieval Kitchen: Recipes from France and Italy”. University of Chicago Press, 1998).

2 Um ein Lot guten Hippokras zu machen, nimm eine Unze cinamonde, genannt langer Pfeifenzimt, eine Ingwerknolle und ebenso viel Galgant, verreibe dies alles miteinander und gieße mit einer Gallone des besten Burgunder auf, den du bekommen kannst; lass alles ein oder zwei Stunden ruhen. Treibe es mehrmals durch ein Stoffsieb, dann wird es klar (aus: “The Medieval Kitchen: Recipes from France and Italy”. University of Chicago Press, 1998).
3 Salz, Schwefel und Quecksilber sind aber nicht mit den gleichnamigen Elementen bzw. dem heutigen Speisesalz gleichzusetzen.
4 Letztlich bezieht sich dies (wie es auch schon für die mittelalterliche Küche galt) auf die reichen Haushalte. Die Armen lebten bis weit in das 19. Jahrhundert hinein generell von Gemüse- und Mehlsuppen mit Brot und Hafergrütze.
5 Die islamische, afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Welt hingegen blieb von dieser Änderung der Ernährungsgewohnheiten unberührt. So erinnern etwa die Currys der indischen Küche nicht zufällig an die europäischen mittelalterlichen Gerichte.
6 Im 19. und 20. Jahrhundert war das zentrale Thema die Versorgung der Massen, beispielsweise wie ein billige aber ausreichende Ernährung für weniger begüterte Menschen auszusehen hat.