Der Tiger erwacht. Körperübungen für Shiatsu-Praktizierende (Wilfried Rappenecker)
Jedem Menschen scheint eine große Sehnsucht innezuwohnen, zu wachsen, sein Potential, seine wahre Natur zu entfalten. Ebenso groß scheint aber auch die Furcht davor zu sein. Das menschliche Wesen hält eine ganze Menge an Möglichkeiten bereit, wir dieses Wachstum beeinflussen d.h. auch: aufhalten oder behindern können. Hindernisse und Widerstände, die wir mit diesem Ziel auf emotionaler und geistiger Ebene erzeugen, spiegeln sich immer im Körper wieder. Körperarbeiter kennen diese “Blockaden” von ihren Klienten: Verbackene und harte Bereiche, kraft- und hilflose Regionen. Im Shiatsu z.B. (da ich Shiatsu-Therapeut bin, spreche ich im weiteren vielfach von Shiatsu. Jedoch gilt das gesagte auch für alle anderen Arten der Körperarbeit) betrachten wir das energetisch, unterscheiden Kyo- oder Jitsu-Bereiche, wo Ki (ein japanischer Begriff, den man auch mit Lebensfreude übersetzen könnte) nicht richtig fließt.
Körperarbeit und Körperübungen können dabei helfen, die Manifestationen unserer “Widerstände gegen den Fluss des Lebens” auf der physischen Ebene kennen zu lernen und damit bewusst umzugehen. Nicht dass wir auf diese Weise von unserer Angst und unseren Widerständen befreit werden könnten. Wir lernen uns einfach besser kennen. Viele der Blockaden lösen sich rasch oder mit der Zeit, wir erfahren neue Freiheiten (das fühlt sich gut an!) und können neue Wege finden. So etwas ist nicht immer einfach und erfordert oft Mut. Körperarbeit und Körperübungen sind eine wirkungsvolle Unterstützung für die persönliche Weiterentwicklung.
Aus dem gleichen Grunde sind sie aber auch ein Weg zu mehr Gesundheit. Die gerade beschriebenen Widerstände und Blockaden sind die eigentliche Ursache von Krankheit und Unglücklich Sein. Wenn sie beginnen, sich aufzulösen, bedeutet das nicht, dass wir frei von Leiden sein werden. Manche Probleme werden erst richtig deutlich, wenn Ki zu fließen beginnt. Der freiere Fluss werden jedoch allmählich zu mehr Verstehen, zu mehr Kraft und kurz- oder mittelfristig zu mehr Gesundheit führen.
Nun muss man an dieser Stelle deutlich sagen, dass Körperarbeit auf diesem Weg lediglich eine – wenn auch mitunter kraftvolle – Unterstützung sein kann. Die eigentliche Arbeit muss und kann jeder Mensch selber tun. dass bedeutet, Verantwortung für das eigene Leben, für Entscheidungen und Taten, für Körper und Gesundheit zu übernehmen. Körperübungen können hier eine große Bedeutung bekommen. Den eigenen Körper, das eigene Leben durch solche Übungen tiefer zu verstehen, kann für jeden Menschen zu einer wahren Schatztruhe werden.
Für Körpertherapeuten ist es besonders wichtig, diesen Weg zu gehen. Denn erstens erfordert es eine gute Gesundheit, heilend mit anderen Menschen zu arbeiten. Es erfordert Kraft. Darüber hinaus können sie ihren Klienten umso mehr eine Hilfe auf ihrem Weg sein, als sie ihren eigenen Weg bewusst gehen und so Gesundheit gewinnen. Wenn sie selber Entwicklungen durchlaufen und Erfahrungen gemacht haben und damit verbundene Freude und Wohlergehen aber auch schwierige und u.U. schmerzhafte Zeiten kennen gelernt haben.
Körperarbeit bedeutet des weiteren nicht nur, mit dem Körper eines Klienten zu arbeiten. Es bedeutet auch, dass der Körper der behandelnden Person als Werkzeug eingesetzt wird. Im Shiatsu z.B. ist er das Werkzeug schlechthin. Häufig wird der Daumen als das wichtigste Instrument im Shiatsu angesehen. Das ist jedoch ein Irrtum. Der Daumen bzw. die Hände sind relativ unbedeutend. Was zählt ist der ganze Körper der behandelnden Person. Nicht nur, dass sie diesen Körper als Arbeitsinstrument einsetzt. Viel wichtiger noch ist, dass ihre Berührung nur dann “leer” sein wird (und damit wirksam) wenn ihr ganzer Körper mit dem Klienten arbeitet. Nicht sie setzt ihren Körper ein, sondern sie ist ein Teil ihres Körpers, der da arbeitet. Und manchmal schaut die Behandlerin nur zu.
Ferner ist unser Körper in der Körperarbeit das Instrument des Verstehens. Nicht der Kopf oder die Intelligenz. Obwohl beide sehr gebraucht werden. Wir können nur durch und in unserem eigenen Körper erfahren, was im Körper des Klienten geschieht, was der Klient erlebt. Energetische (d.h. auch physische, geistige, emotionale) Reaktionen im Klienten während unserer Arbeit lösen Resonanzen in uns aus. So verstehen wir als Körperarbeiter. Wir können nur in uns verstehen, durch Resonanz in unserem eigenen Körper. Körperübungen lassen uns mit unserem Körper vertraut werden und helfen uns so, zu verstehen.
Schließlich sind Körperübungen ein erstklassiges Training, Energie zu verstehen und bewusst mit der eigenen umzugehen. Wenn wir die verschiedenen Räume in uns kennen lernen, die unterschiedlichen Zustände des Lebendig Seins, beginnen wir zu verstehen, was jene Menschen, die wir als unsere Lehrer angenommen haben, meinten, wenn sie von “Energie”, Ki oder Qi sprachen. Und wie wir damit mit unseren bloßen Händen arbeiten können.
Masunaga, der Begründer des “Zen Shiatsu”, schrieb in seinen letzten Lebensjahren das Buch “Meridiandehnübungen” (auf deutsch im Felicitas Hübner Verlag). Ein Buch für alle, die Interesse an ihrem Körper und an dessen Wohlergehen haben. Die in diesem Buch vorgestellten Körperübungen, regelmäßig ausgeführt, fördern effektiv Gesundheit und Wohlergehen. Sie können aber auch wirksam in die Dynamik unterschiedlicher Beschwerden und Leiden eingreifen und diese lindern. Sollen sie in dieser Weise eingesetzt werden, kann es sinnvoll sein, die richtigen Übungen mit der Unterstützung eines erfahrenen Therapeuten auszuwählen.
“Meridiandehnübungen” ist darum auch ein Angebot an alle Therapeuten, die mit Shiatsu oder anderen Methoden mit dem Körper arbeiten und ihren Klienten zur Unterstützung ihrer Arbeit Übungen empfehlen möchten. Masunaga gibt eine Fülle von Hinweisen für den gezielten Einsatz der beschriebenen Übungen. Um sie empfehlen zu können, muss man allerdings zuerst mit ihnen vertraut sein. Aus der Warte eines Körpertherapeuten sehe ich den Reichtum, der sich allen Menschen erschließt, die mit solchen Übungen vertraut werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Körperarbeit in Anspruch nehmen oder nicht, und ob sie selber eine solche ausüben. Für “Profis” und “Laien” gleichermaßen können die “Meridian-Übungen” zu einem Lebenselixier werden, zu einer Quelle reicher Erfahrungen und tieferen Verstehens:
Die in diesem Buch vorgestellten Übungen vermitteln jedermann einen Zugang zum Verständnis der Meridianenergien. Weil es Meridian-Übungen sind. Aber Vorsicht vor voreiligen Schlüssen! Meridian-Energien sind zum einen nicht sauber von einander zu trennen wie etwa die technischen Bestandteile eines Motors. Sie sind sehr konkret wahrnehmbar, gleichzeitig aber quasi unscharf und ineinander übergehend.
Zum anderen werden Masunagas Übungen zwar einzelnen Meridian-Energien zugeordnet, sie wirken aber immer auf den ganzen Menschen mit seinen verschiedenen Seiten und Facetten. Wer sich ihnen allerdings aufmerksam nähert, sie über längere Zeit ausübt und kennen lernt, dem werden sie ein Schlüssel zu einem tieferen Verständnis der Meridiane und seiner selbst werden.
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© Wilfried Rappenecker, geb. 1950 in der Nähe von Köln, ist Leiter der Schule für Shiatsu Hamburg (D-22769 Hamburg, Oelkersallee 33, http://www.schule-fuer-shiatsu.de), Mitbegründer der GSD und Autor zweier Bücher zum Thema Shiatsu. Als Arzt für Allgemeinmedizin arbeitet er dort überwiegend mit Shiatsu.