Das transpersonale Erfahrungsfeld (Jörg Schrievers)

Die tiefe Stille und Entspannung, die im Shiatsu immer wieder entsteht, eröffnet dem Klienten und Behandler einen Erfahrungsraum, der sich deutlich von unserem Alltags-bewusstsein unterscheidet. In diesem Raum kann es sein, dass der Kranke vergisst, dass er krank ist, der Schwache seine Schwäche nicht mehr erlebt, der Sterbende vergisst, dass er sterben muss, und der Behandler seine Konzepte vergisst.

Eine ältere Klientin, sie war damals 77 Jahre alt, sagte mir nach einer Shiatsu-Behandlung, das Besondere an Shiatsu sei für sie, dass sie während der Behandlung ihr Alter, das ihr im Alltag doch die einen oder anderen Beschwerden und Einschränkungen verursache, nicht wahrnehme. Sie fühle sich für die Zeit der Behandlung so etwas wie „alterslos“. Andere Klienten berichteten, während und unmittelbar nach Behandlungen jegliches Gefühl für Zeit und Raum verloren zu haben, nicht mehr zu spüren, wo ihr Körper anfängt und wo er aufhört. Danach gefragt, ob dies für sie ein angenehmer oder unangenehmer Zustand sei, antworteten die einen, dass dies ein himmlisches Gefühl und mit das Schönste sei, was sie bisher erlebt hätten und die anderen, dass ihnen dieser Zustand große Angst mache, da sie fürchteten, die Kontrolle zu verlieren.

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Es war deutlich, dass alle diese Menschen etwas Ähnliches erlebt hatten, ihre persönliche Beurteilung dieses Erlebens jedoch deutlich voneinander abwich. Einer meiner Qigong-Lehrer, Prof. Jiao Guorui, unterschied zwischen so genannten kleinen Gefühlen, und damit meinte er unsere persönlichen Gefühle wie Trauer, Wut, Angst und so weiter, und den großen Gefühlen, in denen wir Anteil nehmen können an einem Geschehen, das über unser persönliches Erleben hinausreicht, z.B. im Erleben eines Sonnenaufgangs in den Bergen oder des Sternenhimmels in einer klaren Winternacht. Die großen Gefühle erreichen uns erst, wenn wir die kleinen Gefühle, unser persönliches Erleben gewissermaßen durchschreiten und hinter uns lassen können. Die moderne Psychologie nennt es daher transpersonales Erleben.

Solche Erfahrungen hat es immer schon und in allen Kulturen gegeben. Sie wohnen uns Menschen als ein Potenzial inne, das uns nicht nur eine tiefe Verbundenheit innerhalb unserer selbst, sondern auch mit der Welt um uns herum offenbart. Für religiöse Menschen sind dies Gotteserfahrungen, neutraler können wir sie auch „Gipfelerlebnisse“ nennen. Sie können einen nachhaltigen und unvergesslichen Eindruck hinterlassen, zu überschwänglicher Freude führen oder sich so unauffällig ereignen, dass unser bewusstes Ich sie kaum wahrnimmt. Sie können in Momenten der Selbstvergessenheit auftreten an Orten und bei Gelegenheiten, an denen man schon fast mit ihnen rechnet, wie z.B. in der Stille einer Kirche, bei überwältigenden Natur-erscheinungen oder in tiefer Meditation. Sie können uns aber auch spontan in Situationen begegnen, in denen wir uns weit weg von einem solchen Erleben wähnen, in tiefer Verzweiflung, da wir keinen Ausweg mehr sehen oder aus der tiefen Angst heraus, in der wir uns kurz vor einem lebensbedrohlichen operativen Eingriff befinden. Menschen mit Nahtoderfahrung berichten von ihnen wie auch solche, die an religiösen Ritualen in den verschiedensten Kulturen teilgenommen haben. Wir Menschen tragen offensichtlich eine Sehnsucht danach und gleichzeitig eine Furcht davor in uns.

Transpersonales Erleben lässt sich nicht verstehen, nicht einordnen und nicht „machen“. Das Einzige, was wir tun können, ist, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen es sich leichter einstellen kann. Die Erfahrung innerer Stille gehört genauso dazu wie das Loslassen und Entspannen, dass uns in einen Zustand der Offenheit und Berührbarkeit führt, in dem unsere Widerstände und Ängste sich langsam abbauen können. Diese Voraus-setzungen sind grundsätzlich im Shiatsu gegeben, so dass es auch nicht verwunderlich ist, dass es immer wieder zu transpersonalen Erfahrungen kommt. Für den Behandler sind es die Momente, in denen er nicht mehr dem Konzept folgt, das er sich in seinem Kopf zurecht gelegt hat, sondern dem Bewegungsfluss der Behandlung, dem Lebensfluss selbst. Das Festhalten an Gedanken und Konzepten, mögen sie auch noch so stimmig sein, schiebt gleichsam Wolken vor die Erfahrung der eigenen Unbegrenztheit in Zeit und Raum. Shizuto Masunaga, mein erster Shiatsu-Lehrer, hat empfohlen, zu Beginn einer jeden Behandlung alle Konzepte und Gedanken hinter sich zu lassen und einzutauchen in die unmittelbare Erfahrung, die sich im Shiatsu auftut. Was uns dann begegnet, ist das Leben selbst in allen seinen Dimensionen.

Shiatsu ist Begegnung. In der Stille haben Klient und Behandler die Möglichkeit, von Alltagsgedanken ungestört, sich selbst und dem anderen zu begegnen. Dies tun sie mit ihren jeweiligen persönlichen Eigenarten, Sympathien und Antipathien, sie begegnen sich als Behandler und Klient in ihrer jeweiligen Rolle; sie betreten aber auch gemeinsam einen Raum, in dem sie beide ihr Persönliches, ihre Rolle ablegen dürfen, um sich neu zu treffen. Wenn Raum und Zeit ihre Bedeutung verlieren und damit auch unsere räumlichen und zeitlichen Grenzen verschwimmen, entsteht das Gefühl tiefer Verbundenheit, nicht mit dem anderen persönlich, sondern jenseits des Persönlichen. Arthur Schopenhauer lernte diese Möglichkeit der unmittelbaren Kommunikation, die er als Verschmelzungserlebnis bezeichnete, in den von Franz Anton Mesmer entwickelten magnetischen Kuren kennen. Dieses Erleben hat ihn so beeindruckt, dass er es vom philosophischen Standpunkt aus als die „inhaltsschwerste aller gemachten Entdeckungen“ bezeichnete.

Franz Anton Mesmer wurde 1734 geboren, studierte Medizin und arbeitete als Arzt in Wien. Mesmer war nicht nur ein bedeutender Heiler (seine Heilerfolge sind historisch dokumentiert), sondern hatte auch die Fähigkeit, Menschen während seiner sogenannten magnetischen Kuren in einen Wachschlafzustand zu führen („Somnabulismus“), in dem sie Zugang zu ihrem Tiefenbewusstsein hatten und über ihre Träume, Visionen und Wahrnehmungen berichten konnten. Diese Zustände waren der Vorläufer der Hypnose, welche schließlich auch Siegmund Freud als Grundlage zur Erforschung des Unbewussten diente. Mesmer erlebte nicht nur immer wieder telepatische Phänomene, sondern auch Fernwirkungen seiner Behandlungen. Er hatte Zugang zu einer transpersonalen Welt, in der Zeit und Raum keine Begrenzung mehr darstellen. Gescheitert ist er in der Welt der Wissenschaft letztendlich nicht am Mangel an Heilerfolgen, sondern an seiner mangelnden Fähigkeit, diese auf damals wissenschaftlich anerkannte Weise zu erklären. Heute, 250 Jahre später, nähert sich die Wissenschaft, vor allem die Physik den Erfahrungen Mesmers. Physiker haben herausgefunden und belegt, dass es einen Informationsaustausch im Universum gibt, der jenseits unserer Zeit- und Raumvorstellungen stattfindet. Das heißt, dass wir im Kontakt mit einem Informationsfeld stehen, über das wir Zugang haben zu einem Wissen, das weit über unsere persönlichen Erfahrungen hinausreicht.

Franz Anton Mesmer ist eines von vielen Beispielen dafür, dass eine energetische Medizin und transpersonale Erfahrungen keineswegs ein Privileg östlicher Kulturen ist. Sie tauchen überall dort auf, wo Menschen sich in der Stille ihrem Inneren zuwenden. Der Unterschied zwischen Ost und West besteht allerdings darin, dass man sich im Osten für solche Erfahrungen interessiert, sie gesammelt und weiterentwickelt hat, während man sie in den westlichen Kulturen im Geist der Aufklärung verworfen und bekämpft hat.

Wenn wir von transpersonalem Erleben sprechen, beinhaltet dies eine Grenzüberschreitung bzw. das Wegfallen von Grenzen. Es schließt die Erfahrung von Einheit mit den Dingen wie auch den Menschen in der Umgebung ein. Dass Behandler und Klient sich durch ihre jeweilige Ausstrahlung gegenseitig beeinflussen, ist den meisten Behandlern aus eigener Erfahrung bekannt. Die Schwingungsfelder des Behandlers und des Klienten treten in Resonanz miteinander. Je mehr sie die gleiche Wellenlänge haben bzw. entwickeln, desto größer die Resonanz und damit die Übertragung von Schwingungszuständen. Je tiefer der Behandler die Stille in sich kultiviert hat, je tiefer er sich selbst entspannen und loslassen kann, desto wahrscheinlicher wird, dass sich dieser Schwingungszustand auch im Klienten einstellt, vorausgesetzt, dieser bringt die entsprechende Resonanzfähigkeit mit.

Auch die Neurobiologen haben in der Spiegelneuronenforschung bestätigt, dass sich Gefühle und Stimmungen von einem Menschen auf den anderen übertragen. Auch sie sprechen mittlerweile von Schwingungsfeldern und Resonanzen. Sie können mit den Mitteln der modernen Hirnforschung sichtbar machen, dass, wenn jemand in Kontakt mit einem ängstlichen Menschen ist, auch sein eigenes Angstzentrum aktiv wird. Im Falle eines transpersonalen Erlebens bei einer Behandlung bleibt es jedoch nicht nur beim (Energie-)Austausch persönlicher Gefühle. Es öffnet sich vielmehr ein Erfahrungsraum, den beide miteinander betreten, der sie umschließt, durchdringt und trägt. Je mehr der Behandler mit diesem Raum vertraut ist und je sicherer er sich in ihm fühlt, desto leichter wird auch der Klient das nötige Vertrauen entwickeln, um sich dieser Erfahrung zu öffnen. Denn auch die persönliche Reaktion des Behandlers auf diesen Zustand hat die Tendenz, sich auf den Klienten zu übertragen. Es ist für den Klienten überaus wertvoll, wenn er mit seinem Behandler zusammen die Erfahrung machen kann, dass, wenn er persönlich sein inneres Geschehen nicht mehr kontrolliert, es keineswegs außer Kontrolle gerät. So kann er unmittelbar wahrnehmen, dass es eine über sein Ich hinausgehende Ordnung gibt, in der das Leben und die Lebensprozesse sich selbst regulieren. Auf diese Weise lernt das Ich, sich dem Selbst zu überlassen.

Auch hier mag ein religiöser Mensch andere Worte zur Beschreibung seines Erlebens wählen, mag vielleicht sagen, dass er sich in Gottes Hand begibt. Während das Erleben selbst sehr verbindend ist, können die Worte und Bilder, in denen Menschen es im Nachhinein beschreiben, auch Verschiedenheiten aufzeigen. Das Erleben selbst ist unmittelbar und frei von Persönlichem, während die Beschreibung durch unsere Biografie, unseren Glauben und unsere Erziehung geprägt ist. Für uns Behandler ist es hilfreich, stets auf das Erleben, dass sich hinter den Worten verbirgt, ausgerichtet zu bleiben und nicht an den Worten zu hängen, die unsere Klienten zu seiner Beschreibung wählen.

Neben der spirituellen Dimension kann ein solches transpersonales Erleben aber durchaus auch eine medizinische Relevanz haben. Vor einigen Jahren saß in meinem Wartezimmer eine Klientin, die ihre Nase tamponiert hatte. Auf die Frage nach dem Grund dafür antwortete sie, dass sie wie meistens in dieser Jahreszeit unter einem schrecklichen Heuschnupfen leide, sodass das Wasser ihr nur so aus der Nase laufen würde. Neben einer schweren Migräne waren es verschiedene andere Probleme, die sie in den Behandlungen zum Thema gemacht hatte, aber noch nicht den Heuschnupfen.

Ich machte mit ihr folgende Übung, die ich in etwas abgewandelter Form beim Neurolinguistischen Programmieren (NLP) kennengelernt hatte. Ich bat sie, sich entspannt hinzulegen, die Augen zu schließen und sich eine Situation vorzustellen, in der sie sich überhaupt nicht in ihrer Kraft gefühlt hat. Nachdem sie sich eingefühlt hatte, bat ich sie, mir die Körperstelle zu zeigen, die am besten zu dieser unangenehmen Situation passte. Ich berührte sie dort mit der ganzen Hand, um das innere Bild in ihrem Körper zu verankern. Im nächsten Schritt bat ich sie, sich nun eine Situation vorzustellen, in der sie sich vollkommen wohl und in ihrer Kraft gefühlt hat. Wieder nannte sie mir eine zu diesem Erleben passende Körperstelle, und wieder berührte ich sie mit der ganzen Hand, bis das entsprechende Bild bzw. Erleben dort in ihrem Körper verankert war. Danach berührte ich sie mit meinen Händen an den beiden Körperstellen und bat sie, eine Verbindung zwischen diesen beiden Berührungen entstehen, sie miteinander verschmelzen zu lassen, bis sie schließlich nur noch als eine Berührung wahrgenommen würde. Sie konnte mir in allen Anweisungen folgen und fühlte sich anschließend sehr erleichtert. Beim nächsten Besuch in meiner Praxis trug sie keine Tampons mehr in der Nase, und auf die Frage, wie es ihr gegangen sei, antwortete sie, dass ihr Heuschnupfen von dieser Behandlung an verschwunden sei, und dies blieb auch für den ganzen restlichen Sommer so. Nun fragte ich sie, welche Situationen sie sich denn jeweils vorgestellt hatte. Sie antwortete, dass sie sich zunächst an eine Situation erinnert habe, in der sie sehr verletzt worden sei. Danach habe sie sich den blühenden Kirschbaum vor ihrem Küchenfenster vorgestellt, bei dessen Anblick sie all ihre Beschwerden und all ihren Kummer vergessen könne.

Offensichtlich hat dieser Moment der Selbstvergessenheit im Anblick des blühenden Kirschbaums, dieser Moment unauffälligen Friedens, eine ordnende Wirkkraft entfaltet, die in der Lage war, ihre allergische Überreaktion zu beenden. Es kommt nicht darauf an, wie intensiv, dramatisch oder spektakulär das Erleben ist, sondern wie tief und wie vollständig es uns ergreift. Wenn wir nicht wach sind für solche Momente, übersehen wir sie allzu leicht. An wie vielen blühenden Kirschbäumen laufen wir vorbei, ohne ihres Geheimnisses innezuwerden?

An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass es nicht um die Übertragung einer persönlichen Kraft des Behandlers geht, sondern dieser vielmehr als Katalysator wirkt, der lediglich die Verbindungen zum transpersonalen Erfahrungsfeld schafft, das beiden und allen anderen Menschen gemein ist. Außerdem zeigt sich, wie bedeutsam die Ausrichtung unserer Aufmerksamkeit ist, wie viel Wirkkraft sich allein dadurch entfalten kann, dass wir uns an ein Erleben erinnern. So kann ein tiefes Erleben der Vergangenheit zu einer nie versiegenden Kraftquelle in der Gegenwart werden. Dies kann als allgemein stärkender Kraftstrom erfahren werden oder, wie im gerade beschriebenen Fall, gezielt zur Behandlung einzelner Disharmoniemuster (Heuschnupfen) eingesetzt werden.

Wenn hier von einem Erfahrungsfeld die Rede ist, so soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass von diesem inneren Bewusstseinsraum eine Wirkkraft ausgeht, in gewisser Weise vergleichbar der eines Magnetfeldes. Man kann das Dao der alten Chinesen als die dem Leben und den Lebensprozessen innewohnende Ordnung verstehen, die das Qi bzw. Ki als eine natürliche ordnende Kraft hervorbringt. Qi bzw. Ki ist die Kraft, die unseren Organismus wie auch unsere Psyche im Sinne dieser Ordnung beeinflusst. Im Buddhismus wie im Daoismus ist es das „verblendete Ich“ bzw. der „persönliche Körper“, also unsere persönlichen Vorstellungen, die uns von dieser kosmischen Ordnung trennen. Je weniger wir uns der kosmischen Ordnung und den von ihr ausgehenden Kräften entgegenstellen, desto stimmiger wird sich unser Leben entfalten. Es geht dabei nicht um die Erfüllung unserer persönlichen Wünsche, sondern um ein tiefes Erleben und Wirkenlassen der kosmischen Kräfte.

Sich den dem Leben, der Natur innewohnenden ordnenden Kraft anzuvertrauen, ihr Wirken im eigenen Inneren zu erleben, heißt auch, teilzuhaben am Wunder der Natur, das sich Augenblick für Augenblick in uns vollzieht. Dies zu erfahren schafft Vertrauen, und je mehr unser Ich in diesem Prozess seine Ängste ablegen kann, desto mehr wird dieses Vertrauen zu Urvertrauen, das von keinen Bedingungen abhängig ist. Wir können Urvertrauen im Shiatsu nicht machen, und es ist die Frage, ob es uns als Menschen überhaupt möglich ist, ganz im Urvertrauen zu leben. Aber ebenso steht außer Zweifel, dass es ein großer Gewinn ist, sich diesem Ziel in kleinen Erfahrungsschritten zu nähern.

So schön dies alles auch klingen mag, so handelt es sich dabei doch um einen nicht immer leichten Weg. Er hat, wie die meisten Wege, angenehme Strecken, die wir aus ganzem Herzen genießen können und steinige, steile Passagen, die unsere ganze Kraft und unseren ganzen Einsatz erfordern. Wie wir uns fühlen, ist eben nicht nur geprägt vom Selbst oder vom Dao, das uns trägt und in dem wir immer und überall aufgehoben sind, sondern auch zu großen Teilen von unserem ängstlichen, kontrollierenden Ich, das Schwierigkeiten hat, sich zu überlassen. Dass von einem transpersonalen Erleben eine heilende, ordnende Wirkung ausgehen kann, wurde am Beispiel der Klientin mit dem Heuschnupfen beschrieben. Aus den Erfahrungen der psychosomatischen Medizin wissen wir aber auch, dass, wenn sich unser ängstliches und kontrollierendes Ich sich gegen etwas zu wehren beginnt, sich im Widerstand verhärtet, es durchaus auch zu Störungen im psychophysischen Gleichgewicht kommen kann. Ich habe mich oft gefragt, warum in der Bibel, wann immer den Menschen ein Engel als Bote Gottes aus der spirituellen Welt begegnet, er seine Botschaft mit den Worten beginnt: „Fürchte dich nicht!“ Offensichtlich hat man auch damals schon die Erfahrung gemacht, dass die Begegnung mit spirituellen Kräften den Menschen Furcht einflößt. Furcht und Angst aber können, wie wir wissen, unser vegetatives Nervensystem aus der Balance bringen und uns in kleinere oder größere Lebenskrisen führen. Für die Begleitung im Shiatsu heißt das, dass die Erfahrung des Behandlers selbst tief und tragfähig genug sein muss, und er in großer Achtsamkeit vorgehen sollte.

Sich im Shiatsu dem Bereich spiritueller Erfahrungen zu öffnen, heißt also auch möglicherweise, seine Erwartungen und Vorstellungen korrigieren zu müssen. Wir können dann nicht mehr davon ausgehen, dass es nach jeder Behandlung zu einem Wohlgefühl und zu verbesserter Gesundheit im medizinischen und psychischen Sinne kommt. Shiatsu ist dann nicht mehr in erster Linie eine Methode, mit deren Hilfe wir die Gesundheit und innere Ausgewogenheit verbessern können, sondern ein Weg zu innerem Wachstum, zum Erleben von mehr Ganzheit und Verbundenheit, Freiheit und innerem Frieden. Am Ende bringt dies als „Nebenwirkung“ eine tiefere und tragfähigere innere Balance hervor, die wiederum die Grundlage physischer und psychischer Gesundheit ist. Auf dem Weg dahin gilt es aber, von alten, bis dahin tragfähigen Ordnungen und Grundsätzen Abschied zu nehmen und sich für Unbekanntes, noch nicht Greifbares zu öffnen. Spirituelles Wachstum und Gesundheit sind zwar nicht dasselbe, aber auch nicht unbedingt ein Widerspruch. Krankheiten und Lebenskrisen machen Umwandlungen immer wieder not-wendig, und es ist ja nicht selten, dass Menschen daraus gestärkt und auf tiefere Art gefestigt hervorgehen. Manchmal könnte man meinen, dass eine von innen drängende Wachstumsenergie die Ursache für das Leiden war und nicht die gefundenen Bakterien und Viren. Dies gilt vor allem dann, wenn ein Mensch gereift und gesünder aus einem solchen Prozess hervorgeht.

Sollten solche inneren Entwicklungen durch Shiatsu angestoßen werden, so muss der Behandler in diesem Prozess auch als Begleiter zur Verfügung stehen. Dies wiederum setzt voraus, dass er einen solchen Weg selbst gegangen ist, aus eigener Erfahrung weiß, wie es sich anfühlt, wenn der feste Boden unter den eigenen Füßen langsam sulzig wird, weil das Eis, auf dem er bis dahin sicher gelaufen ist, zu schmelzen beginnt. Es ist gut, festen Boden unter den Füßen zu haben, und es ist gut, ins Wasser einzutauchen und sich diesem Element hinzugeben – vorausgesetzt wir haben schwimmen gelernt. Shiatsu kann eine Hilfe sein, schwimmen zu lernen, ebenso wie Meditation, Yoga oder Qigong. Hier haben wir dem Osten viel zu verdanken, der uns über Jahrtausende gegangene Wege überliefert hat, auf denen wir uns mit einer gewissen Systematik auf solche Erfahrungen vorbereiten können.

Die Veränderung, die sich in einem spirituellen Prozess ergeben kann, gleicht dem, was ein Schneemann im Angesicht der stärker werdenden Frühjahrssonne erlebt. Begreift er sich als feste Gestalt, so bedeutet sie seinen Tod. Versteht er sich aber als vorübergehend zu Eis erstarrtes Wasser, so erlebt er den Frühling als Befreiung, in der er zu seinem eigentlichen Wesen zurückkehren darf. Dies wird besonders relevant, wenn Shiatsu nicht zur Verbesserung des allgemeinen Wohlbefindens oder zur Behebung von kleineren Störungen eingesetzt wird, sondern als eine Hilfe bei der Sterbebegleitung, also bei der Begleitung durch den tiefsten Umwandlungsprozess, den wir Menschen erleben. Eine Atmosphäre zu schaffen, in der der Sterbende es leichter hat, seine persönlichen Ängste und Widerstände hinter sich zu lassen, ist vielleicht das Wichtigste, was ein Begleiter tun kann.

Letztendlich aber sterben wir schon zu Lebzeiten viele Tode, müssen wir Abschied nehmen von Menschen und Gewohnheiten. Das Erleben des Aufgehobenseins jenseits von Zeit und Raum hilft uns, Veränderungen zuzulassen und uns unserer Wesensnatur zu nähern.


Literatur

  • Bauer, Joachim. Warum ich fühle, was du fühlst. Hoffmann und Campe, 2005
  • Laszlo, Ervin. Zu Hause im Universum. Ullstein, 2005
  • Schrievers, Joachim. Durch Berührung wachsen. Huber Verlag, 2004

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© Joachim Schrievers (EK@schrievers.net), geb. 1955, Studium der Sportwissenschaften, von 1979 -1981 Studienaufenthalt in Japan: Zen-Shiatsu bei Shizuto Masunaga und Taijiquan bei Yang Ming Shi. Ausbildung in Qigong Yangsheng bei Prof. Jiao Guorui. Autor des 2004 erschienenen Buches „Durch Berührung wachsen“ (Huber Verlag).