Das Dao des Lebens. Unsere Lebensabschnitte der fünf Wandlungsphasen, wie sie im Daoismus gelehrt werden (Ulrike Schmidt)
Die alten Daoisten haben durch das Betrachten der Natur bestimmte Gesetzmäßigkeiten festgestellt, die sich auch in unserem menschlichen Dasein wieder finden. Am Beispiel der verschiedenen Stadien in unseren Leben können wir das System der fünf Wandlungsphasen konkret kennen lernen.
Innerhalb dieser Wandlungsphasen kann es zu Störungen oder Stagnationen kommen. Denken wir uns zum Beispiel ein “typisches Muttersöhnchen”: Ein Mensch, der zum Ende der Feuerphase die Abnabelung, den Absprung von den Eltern nicht geschafft hat. Er wohnt sicherlich noch bei seinen Eltern, lässt sich versorgen und hat zu wenig Eigenantrieb, in die Welt zu gehen. Es fehlt an Wagemut und Neugier. Womöglich erscheint das “da Draußen” für so einen Menschen als zu bedrohlich und gefährlich. Durch die Berührung mit Shiatsu haben wir die Möglichkeit, jemanden auf den Weg zu bringen, und zwar auf seinen ureigenen Weg. Ein anderes Beispiel ist ein Mensch, der das “Altern” nicht akzeptieren kann: Mit Hilfe von Kosmetik, Kleidung oder gar chirurgischen Eingriffen wird der Welt ein Alter, bzw. eine Lebensphase vorgegaukelt, die bereits vergangen ist, die Jugend. Es wird oft eine enorme Energie für dieses “Nicht-Anerkennen” aufgewendet, die in der Metallphase zu einem erheblichen Ungleichgewicht führen kann. Auch hier kann langfristig mit Hilfe von Shiatsu eine Veränderung eintreten im Sinne vom Annehmen dessen, was wirklich ist. In erster Linie sich selbst begreifen als ein Wesen, das den Veränderungen unterliegt.
Nach alter chinesischer Tradition verläuft das Leben einer Frau in 7-Jahres-Zyklen, das eines Mannes im 8-Jahres-Zyklus. Eine Wandlungsphase umfasst dabei immer einen Doppelzyklus. (Die Zahlen stellen lediglich eine Annäherung dar.)
Holz – Der Aufbruch
- (0 -14 Jahre, 0 -16 Jahre)
- Frühling. In der Natur beginnen die Bäume auszuschlagen, Kerne bilden Wurzeln und treiben Keime, Knospen bilden sich.
- Energetische Richtung: nach oben.
Für uns steht die Geburt am Anfang. Mit unbändiger Kraft setzten die Wehen ein, die uns aus dem Mutterleib herauspressen. Eine enorme Leistung. Ein Prozess, der nicht auf zuhalten ist. Die gewaltigen Wachstumsprozesse, die ja schon im Mutterleib gewirkt haben, walten weiter: Nie mehr in unserem Leben ist das Größenwachstum derartig stark wie im ersten Lebensjahr. Auch in den folgenden Jahren unserer Kindheit findet weiterhin ein unaufhaltsames Wachstum statt. Aber nicht nur körperlich, sondern auch geistig: Wir lernen! Und zwar eine wahnsinnige Anzahl von Dingen mit einer Leichtigkeit, die ebenso erstaunlich wie auch im späteren Leben fast nicht nachahmbar ist. Wir beginnen zu krabbeln, zu laufen, wir lernen sprechen, später dann schreiben, lesen, rechnen.
Feuer – Im Augenblick Leben
- (14 – 28 Jahre,16 – 32 Jahre)
- Sommer. Aus der Knospe ist ein Blüte geworden, zauberhaft, vollkommen, anziehend.
- Energetische Richtung: nach allen Seiten.
Mit Beginn der Pubertät ist das Größenwachstum nahezu abgeschlossen. Der Körper verändert sich jedoch weiter, wir werden zur Frau, zum Mann. So wie die Energie in alle Richtungen weist, so geht es jetzt auch in unserem Leben zu:
Wir entdecken und probieren allerlei Dinge aus – die ersten Erfahrungen mit Zigaretten, mit Alkohol und mit anderen Drogen fallen in diesen Lebensabschnitt. Es geht darum, vieles auszuprobieren, vielleicht sogar so viel wie möglich. Wir entdecken das andere Geschlecht als solches, auch da gibt es natürlich viel zu erfahren und zu erleben, wir verlieben uns zum ersten Mal, erleben auch das Leid der Liebe. Wir machen in der Schule Projektwochen, Klassenfahrten, Praktika, beginnen alleine zu verreisen, entdecken die Welt in allen Richtungen, wir halten alles für möglich, ja wir sind der Mittelpunkt der Welt (“die ‚Alten‘ kapieren doch eh nichts!”) Wir verdienen unser erstes Geld, jobben mal hier, mal da, probieren vielleicht verschiedene Lehrstellen oder Studiengänge aus. Wir wollen etwas werden. Wir verlassen das Haus unserer Eltern. Freiheit! Es ist eine Zeit der unbändigen Lebenslust, eine beneidenswerte Sorglosigkeit, die uns in das “richtige” Leben hineinkatapultiert, die wir später kaum mehr erreichen können. Wir denken nicht an die Altersversorgung, wir planen noch keine Kinder ein – oft ist dieser Kindergedanke geradezu unvorstellbar in dieser Zeit. Wir ziehen um, probieren Wohngemeinschaften aus und alleine leben. Wir leben den Moment. Die Zeit der Selbstentfaltung und Selbstfindung. Proteste gegen Eltern, Lehrer und Staat sind in dieser Phase ebenso selbstverständlich wie auch nötig. Nur in der Abgrenzung kann diese Selbstfindung wachsen. In dieser Phase kristallisieren sich auch die Revolutionäre und Weltverbesserer heraus.
Erde – Zeit der Reife, des Nachhausekommens
- (28 – 42 Jahre, 32 – 48 Jahre)
- Spätsommer. Aus der Blüte ist die Frucht geworden, üppig, im Überfluss, in ihrer ganzen Fülle.
- Energetische Richtung: ausgewogen, ein Kreis.
Wir sind etwas geworden. Aus uns ist etwas geworden. Wir sind reif geworden. Die materielle Kargheit der Feuerphase ist meist vorüber. Die “Sperrmüll-Einrichtungen” der ersten WG`s haben solideren Möbeln Platz gemacht. Wohlstand hält Einkehr. Der zweite Bildungsweg liegt hinter uns, das Studium ist beendet und der Beruf, den wir ausüben möchten, ist gefunden. Es ist die Zeit im Leben, wo wir den Platz finden, wo wir hingehören, wo wir uns für einen Partner entscheiden, mit dem wir durchs Leben gehen möchten, die Zeit, in der wir ein Kind zeugen oder gebären, ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, wie es der Volksmund so schön sagt. Wir sind einfach gesetzter und “erdiger” geworden. Wir haben die Fähigkeit gewonnen, Verantwortung zu übernehmen, für uns und für andere auch: für den Garten, die Kinder, die Haustiere für die eigenen Eltern, die jetzt sichtbar älter werden. In dieser Zeit gründen wir eine Firma, verwirklichen “unser” Projekt. Die Spontaneität der Feuerphase geht etwas verloren, dafür rücken Gewohnheiten an die Stelle. Gewohnheiten bieten Sicherheit. Es ist daher auch die Zeit der Versicherungen: Plötzlich schließen wir eine Lebensversicherung ab, eine Hausratversicherung, eine Berufshaftpflichtversicherung, und, und, und…
Metall – Loslassen
- (42 – 56 Jahre, 48 – 64 Jahre)
- Herbst. Die reife Frucht ist vom Baum gefallen
- Energetische Richtung: nach unten.
In diese Zeit fallen die Wechseljahre der Frau. Wir müssen die Kinder gehen lassen, loslassen, sie werden ihren eigenen Weg finden. Auch steht es irgendwann an, dem eigenen Beruf ade zu sagen. Es wird uns einfach klar, dass die Hälfte des Lebens vorbei ist, und zwar unwiderruflich. Ein Rückzug ist angesagt, und am Ende dieser Phase geben wir das, was wir uns aufgebaut haben auf, bzw. ab an unsere Kinder: die Firma, den Bauernhof; es gibt schon mal ein Vorab auf die Erbschaft. Wir sind in der Lage, andere zu unterstützen und können uns selbst zurücknehmen. Wir machen Platz, im Berufsleben, vielleicht im Wohnbereich, wir gehen aufs Altenteil und überlassen unseren Kindern viel von unserem Raum. Enkel kommen. Wir sind zu Omas und Opas geworden, aber auch zu Bundespräsidenten oder zu Stammeshäuptlingen. Wir schrumpfen, werden faltiger, gebrechlicher, die Haare ergrauen, die Zähne fallen aus. Dafür sind wir reich an Lebenserfahrung. Wir haben Siege erlebt und Niederlagen erlitten, wir kennen den Schmerz des Lebens und sind mit ihm auf Du und Du. Wir sind spirituell gewachsen, erwachsen geworden. Die eigenen Eltern sterben, und in uns wächst die Erkenntnis: Wir sind die nächsten!
Wasser – Sterben und Wiedergeboren werden
- (56 Jahre – , 64 Jahre – )
- Winter. Aus der verfaulten Frucht bleibt der Kern.
- Energetische Richtung: nach innen.
Wenn es in der Metallphase darum ging, loszulassen und dabei aber die Essenz zu bewahren, so geht es jetzt um die Quintessenz: die Essenz der Essenz! Die Tendenz, die sich bereits im Metall gezeigt hat, Materielles loszulassen, vollendet sich jetzt: wir können einfach nichts mitnehmen! Geld und Besitz verlieren an Bedeutung, weil klar ist, dass sie den Sterbeprozess nicht aufhalten können. Gesundheit und Zufriedenheit sind wohl die höchsten Güter in diesem Lebensabschnitt. Es geht an das Abschiednehmen von dieser Welt. Wir müssen uns bereithalten. Manche “nehmen” sich eine Krankheit, um sich schon im Geiste zurückzuziehen, der Körper lebt dann noch. Mag sein, dass der Lebenspartner stirbt. Alleinsein. Angst ist das Gefühl, das zur Wandlungsphase Wasser gehört, Angst vor dem Sterben, Angst vor dem, was dabei passiert, was danach kommt. Unsere Augen werden schlechter, der Hörsinn lässt nach, wir sprechen nicht mehr viel, das sind schon Vorstufen, um die eigene Welt zu verlassen, in die andere Welt zu gehen. Oft müssen wir uns wieder versorgen lassen, von unseren Kindern, vom Staat. Wir sind alte, weise Urgroßmütter und Urgroßväter geworden, bereit für den nächsten Wandel.
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© Ulrike Schmidt, Jahrgang 1960, Diplomierte Finanzwirtin, Lehrerin für Shiatsu und Qi Gong. Mitbegründerin der Berliner Schule für Zen Shiatsu. Goltzstr. 23, D-10781 Berlin. Tel.: +49 (030) 216 11 05, Fax: +43 (030) 217 569 47, http://www.zenshiatsu.de