„Da machen wir …..“ – Gedanken zur Berufsethik (Peter Itin)
„Meniskusriss. Da machen wir ein MRI. Ich melde sie für einen Termin an“, verkündete mir der Orthopäde. „Ob ich nicht zuerst einmal in die Physiotherapie könne“, wagte ich zu fragen. „Nicht nötig, das machen sie dann nach der Operation.“ – Ich lehnte dankend ab, liess mein Knie auf eigene Rechnung von einem Physiotherapeuten abklären, trainierte nach seinen Empfehlungen und war nach drei Monaten schmerzfrei – ohne Eingriff.
Das ist keine erfundene Geschichte, das ist Realität, vor wenigen Jahren selbst erfahren. Der Orthopäde lieferte mir unfreiwillig ein Schulbuch-Beispiel dafür, was man nach den anerkannten Regeln der Berufsethik (siehe Maio 2012) nicht tun sollte. Was wäre stattdessen angebracht gewesen?
Als Erstes möchte ich nach der Diagnose wissen, welche Handlungsoptionen er als Fachperson sieht, welche Varianten grundsätzlich bestehen. Als Zweites möchte ich Erläuterungen, wie die Varianten gegeneinander abzuwägen sind in Bezug auf Wirksamkeit, Zeitverlauf und Risikofaktoren. Als Drittes möchte ich eine zusammenfassende Beurteilung und Empfehlung, und das alles in einer Sprache, die ich als Laie verstehen kann.
Es ist mein Recht und auch mein Wunsch, über die zu ergreifende Massnahme selber entscheiden zu können. Dieser zentraler ethische Standard gilt für alle Gesundheitsberufe. Es darf kein therapeutisches Handeln ohne Einverständnis der Betroffenen geben. „Informed Consent“ oder „aufgeklärte Einwilligung“ heisst dies in der Fachsprache. Dieses Postulat entspricht dem berufsethischen Prinzip der Autonomie und ist eine wichtige Basis für das Schaffen eines Vertrauensverhältnisses zwischen Fachperson und KlientIn.
Der Orthopäde wollte mir wahrscheinlich seine fachliche Kompetenz demonstrieren: „Ich bin der Experte. Ich weiss was zu tun ist, und ich handle“ ist die dahinter liegende Grundhaltung. Giovanni Maio spricht in diesem Zusammenhang von „ärztlichem Paternalismus“ und vom „Arzt als Techniker“. Als Patient werde ich aber nicht als gleichwertiges und selbstverantwortliches Gegenüber behandelt. Meine Bedürfnisse und Meinung sind offensichtlich weder gefragt noch respektiert. Meine Fragen sind allenfalls ein zeitfressender Störfaktor. Auf mich als Patienten wirkte sein Verhalten dominant und arrogant (der klassische „Gott in Weiss“).
Als ich zwei Jahre später eine Schulterverletzung erlitt, suchte ich jedenfalls einen anderen Orthopäden auf. Es war für mich wohltuend zu erleben, wie dieser sich genau so verhielt, wie ich es mir erhofft hatte. Er zeigte mir mit einer völligen Selbstverständlichkeit zuerst die Handlungsoptionen auf, erläuterte mir die Chancen und Risiken aus fachlicher Sicht, äusserte seinen Vorschlag und überliess mir den Entscheid. Er hatte die Berufsethik vollständig in seine Persönlichkeit und sein Sprechen integriert.
Die zentralen berufsethischen Konsequenzen
Welche Konsequenzen lassen sich für uns KomplementärTherapeutInnen ziehen? Die fünf berufsethischen Prinzipien der OdA KomplementärTherapie sind unserer Wegweiser: Autonomie, Nutzenstiftung, Schadensvermeidung, Verhältnismässigkeit und Gleichbehandlung. Sie sind die Basis für die ausführlicheren Verhaltensrichtlinien, die sich im Grundlagenpapier der OdA KT oder auch im Ethik-Codex der SGS finden.
Autonomie
Das Prinzip Autonomie kann bei psychosomatischen Problemen oft erforderlich machen, dass mit der Klientin besprochen werden muss, welche Bedeutung das behandlungsergänzende Gespräch erhalten soll. Oder es gilt abzuklären, in wieweit ein Interesse an der Anleitung von Meridiandehnübungen besteht, die im Alltag zu Hause durchgeführt werden können. Der Entscheid zu Handeln liegt aber immer bei der Klientin nach dem Prinzip der Autonomie.
Schadensvermeidung
Das Prinzip Schadensvermeidung ist beispielsweise relevant, wenn bei einer Symptomatik schulmedizinische Abklärungen erforderlich sind. So hatte ich neulich eine Klientin, die wegen Rückenschmerzen ins Shiatsu kam. Ich hatte den Verdacht, dass hinter den offensichtlichen Verspannungsschmerzen auch etwas Organisches vorliegen könnte. Ich wies sie auf diese Möglichkeit hin und bat sie eindringlich, den Hausarzt aufzusuchen. Der Verdacht erhärtete sich: Gallensteine mussten entfernt werden.
Nutzenstiftung
Das Prinzip Nutzenstiftung wird in der KomplementärTherapie durch die Ausrichtung an den Zielen Selbstregulation, Selbstwahrnehmung und Selbstkompetenz verfolgt. Die Umsetzung im Shiatsu umfasst die Mittel Behandlung, Gespräch und Übungsanleitungen. Es ist jedoch immer die Klientin / der Klient, welche das Ausmass, den Rhythmus und das Tempo von Veränderungsprozessen bestimmen.
Verhältnismäßigkeit
Das Prinzip Verhältnismäßigkeit verlangt, die KlientInnen nicht zu überfordern, sondern ihre Situation, Möglichkeiten und Grenzen zu respektieren. Ich zwinge niemanden zu Gesprächen und Übungen – ich biete sie aber an. Wir müssen immer wieder aufpassen, dass wir uns nicht an eigene Ziele, Vorstellungen und Erwartungen klammern. Das eindrücklichste Erlebnis diesbezüglich hatte ich einst mit einem autistischen jungen Mann mit Asperger Syndrom. Ich kam an einen Punkt wo ich an meiner Arbeit (ver-)zweifelte, da ich nicht die von mir vorgestellten Fortschritte erzielte. Er schaffte es faktisch nicht, die von mir angeleitete, einfache Übung zur Verbesserung seiner Körperhaltung in seinen Alltag zu integrieren, obwohl er es sich vorgenommen hatte.
Ich hinterfragte die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit meiner Arbeit und fragte seine Mutter, ob es nicht sinnvoller wäre, die Therapie zu beenden. Es zeigte sich jedoch, dass ihm diese Inseln der Entspannung und die kontinuierliche, wohlwollende Begleitung unglaublich wichtig und wertvoll waren. Für ihn wäre eine Welt zusammengebrochen, wenn ich die Therapie von meiner Seite her abgebrochen hätte. Letztendlich kann nur der Klient / die Klientin den Nutzen und der Therapie bestimmen und die Verhältnismässigkeit der Mittel beurteilen. Und dies gilt nach dem Prinzip der Gleichbehandlung für Alle, selbst beispielsweise einen Jugendlichen mit Asperger Syndrom und – hier – seiner erziehungsberechtigten Bezugperson. Es war mir eine Lehre, wie selbst ich als „Erfahrener“ noch in eine solche Situation geraten konnte. Es hat mir einmal mehr bewusst gemacht, wie wichtig eine gute Kommunikation, eine permanente Selbstreflexion sowie Supervision oder Intervision sind.
Literatur
- Giovanni Maio, Mittelpunkt Mensch: Ethik in der Medizin. Ein Lehrbuch. Schattauer 2012
- Grundlagen der KomplementärTherapie, OdA KT, 2013
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© Peter Itin, Autor von Shiatsu als Therapie. Co-Autor verschiedener Dokumente der OdA KT wie Grundlagen, Berufsbild und Prüfungsordnung der KomplementärTherapie. Leiter von Kursen zu Shiatsu und den berufsspezifischen Grundlagen der KT.
Veröffentlicht in „Shiatsu“ (Shiatsu Gesellschaft Schweiz) Ausgabe 10/2015