Chinesische Medizin wohin? (Josef Viktor Müller)

Vielen von Ihnen mag eine Kursbestimmung von Chinesischer Medizin unnötig erscheinen angesichts der ständig wachsenden Popularität der TCM. Dieser Erfolg ist jedoch trügerisch, denn er geht zu Lasten eines sehr viel breiteren Spektrums der Chinesischen Medizin (CM) als es die TCM darstellt.

Chinesische Medizin ist genauso wenig auf TCM reduzierbar wie die Chinesische Kultur auf die Kultur der Han-Chinesen. Diese irreführende Vorstellung von Einheitlichkeit der chinesischen Kultur insgesamt und der CM im besonderen ist mit durch die enorme Konstanz des chinesischen Staatsapparates geformt, welcher durch sein Leitbild des konfuzianischen Beamten-Gelehrten das offizielle China-Bild im Westen geprägt hat.

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Ein zentraler und für die Akzeptanz im Westen wichtiger Aspekt dieses konfuzianistischen Einflusses ist die rationale Nüchternheit. Die neokonfuzianische Doktrin von Zhong Yong, dem mittleren Weg, hat zu einer Betonung des Verstandes und einer auf Anpassung gerichteten Haltung geführt, darauf abzielt Instinkte und Emotionen zu zähmen, damit der einzelne seinen Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen kann. Dies ist die Doktrin des Gleichgewichtes um jeden Preis, damit die Ordnung aufrechterhalten bleibt, in der es nur ein einziges wirkliches Individuum gibt – den Kaiser oder heute den grossen Vorsitzenden – alle anderen müssen sich nach der Maxime des kindlichen Gehorsams in ihre Rolle fügen.

Damit einher geht eine Abwertung der persönlichen und spirituellen Entwicklung des Menschen. Der Einzelne bezieht seinen Wert aus seiner Stellung im genau definierten Gefüge der sozialen Hierarchie. Daher bedeutet es für jede Familie einen ungeheuren Gesichtsverlust, wenn ein Angehöriger emotionale Probleme offen zur Schau stellt und damit aus dieser sozialen Harmonie ausbricht. Bob Flaws nennt dies die Stigmatisierung von emotionalen Störungen, die dann somatisiert werden müssen. Daher stammt z.B. in der TCM die Tendenz, psychische Störungen als Ungleichgewichte von Substanzen aufzufassen und die eigenständige psychische Realität von Krankheit auf ähnliche Art zu leugnen wie die herkömmliche westliche Psychiatrie, welche die Geisteskrankheiten als chemische Ungleichgewichte im Gehirn ansieht.

Die KP Chinas, angeführt von Mao, welcher ein heimlicher Bewunderer des Konfuzius war, hat diese Ausgrenzung von psychologischen und spirituellen Dimensionen bei der Entwicklung der TCM in den 50er und 60er Jahren vorangetrieben. Psychische Erkrankungen wurden während der Kulturrevolution darüber hinaus als falsche politische Einstellung angesehen und eine solche Diagnose hatte bedeutet, dass man dadurch zum Kriminellen abgestempelt worden wäre.

Diese Haltung psychisches Leiden zu negieren wird vielfach gerne im Westen übernommen, aber dann versteckt. Maciocia führt zwar immer wieder die Emotionen als innere pathogene Faktoren an, aber wenn es um konkrete Massnahmen geht, um die Emotionen direkt zu behandeln, reduziert auch er psychische Erkrankungen auf Störungen von Qi und Blut.

Neben der Entwertung von Emotionen, hat das konfuzianische Gesellschaftsideal zur selben Entwicklung im Bereich des Körpers geführt. Die Instinktfeindlichkeit und schamhafte Ablehnung des Körpers, tritt uns in der bekannten Geschichte entgegen, in der einem Arzt nur die Hand der Ehefrau hinter dem Vorhang zur Pulsdiagnose herausgestreckt wird. Diese Abwertung hat auch mit zu einer Degradierung der Akupunktur beigetragen, da sie sich primär der Körperoberfläche durch Tastung von Leitbahnen, Abdomen und Puls bei der Diagnostik bedient und diese auch zum Gegenstand ihrer Therapie macht.

Die sogenannte Politik der 3 Wege wollte die Integration der CM in die Schulmedizin, zur Schaffung einer neuen Medizin in China vorantreiben und dieses Vorgehen liefert westlichen Autoren die Rechtfertigung das Kunstprodukts TCM zum geschlossenen System zu erklären. Mit lateinischer oder chinesischer Nomenklatur soll der Eindruck eines einheitlichen Gebäudes erweckt werden, wie es die westliche Medizin mit ihrer einheitlichen Terminologie darstellt. Dabei wird alles ausgeschieden, was nicht in dieses Bild von Einheitlichkeit passt. Darum geht es bei der Terminologie-Diskussion letztlich um die Macht, Begriffe zu definieren. Wir werden an die Richtigstellung der Namen durch Konfuzius erinnert. Aber solche eindeutige Definitionen lassen ausser Acht, dass die gleichen Begriffe im anderen Zusammenhang völlig verschieden definiert werden, z.B. benutzt das Nan Jing, die Bibel der 5 Wandlungsphasen Akupunktur, die Begriffe Fülle/Leere völlig anders als die pharmakologisch ausgerichteten 8 Leitkriterien.


Der Realitätsbegriff im Westen

Warum können wir nicht die Verschiedenartigkeit von Stilen in der CM nebeneinander bestehen lassen, sondern müssen sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einer einheitlichen Terminologie reduzieren, welche durch ihren Standpunkt alle anderen Standpunkte ausschliesst? Dies führt zur Frage warum es so wichtig erscheint TCM als geschlossenes System zu präsentieren. Oder anders ausgedrückt, welche Haltung in unserer westlichen Vorstellung wie Realität auszusehen hat, fördert die Standardisierung der CM?

Die Vertreter einer sogenannten wissenschaftlichen Sichtweise z.B., tun so, als ob das Weltbild der CM hier im Westen auf eine wertneutrale Aufnahme stösst, wobei objektive Beobachter beurteilen können, welche Aspekte brauchbar sind und welche nicht. Die Vorstellung eines objektiven Beobachters ist schon durch die moderne Physik selbst widerlegt worden und das ganze Dilemma bei einer sogenannten wissenschaftlichen Beurteilung der CM besteht deshalb darin, dass die westliche Sichtweise ihre eigenen Wertvorstellungen ausser Acht lässt, welche vom in vielen Bereichen überholten, mechanistischen Weltbild des 18. Jahrhundert bestimmt wird.

Wie also sieht dieses absolut nicht wertfreie naturwissenschaftliche Weltbild aus. Ken Wilber stellt diesen Prozess in seinem Buch “Eine kurze Geschichte des Universums” (erschienen als Fischer TB) in aller Ausführlichkeit dar, den ich hier sehr komprimiert und auf die Rezeption der CM zugeschnitten wiedergeben möchte.

Während der Aufklärung hat in Europa eine Entwicklung eingesetzt, welche die inneren, d.h. subjektiv erfahrbaren Ebenen der Wirklichkeit entwertet hat. Alles was nicht objektivierbar, d.h. nicht messbar war, der Vernunft unzugänglich, wurde in zunehmenden Masse als nicht wirklich angesehen. So entsteht eine Flachland von Objekten, Dinge ohne inneren Wert, in der ein zum Gegenstand reduzierter Körper in der riesigen, ohne Sinn tickenden Maschine des Universums umherirrt.

Die Aufklärung selbst ist die Gegenbewegung zum vorher herrschenden religiösen Weltbild in dem nur die göttliche Offenbarung, vermittelt durch die Kirche, bestimmte was Realität war. Wurde so vorher die objektive äussere Wirklichkeit der Natur verteufelt und die subjektive innere Realität der religiösen Erfahrung glorifiziert, so kehrte sich dies in der Aufklärung um und die materielle Welt wurde vergöttert, während die innere Welt des Geistes geleugnet wurde. Und so wandelte sich der Monotheismus der Kirche in den Monotheismus der Naturwissenschaften um, nur mit den entgegengesetzten Vorzeichen, gemäss dem den Chinesen wohlbekannten Mechanismus mit dem extremes Yang ins Yin umschlägt und umgekehrt.

Im westlichen Denken waren diese Polaritäten einer materiellen und einer geistigen Wirklichkeit noch bei Plato und später bei Plotinus in einer Bewegung vereint. Genauso wie bei den Daoisten, die durch ihre Meditationspraxis den Ren/Du-Kreislauf erschlossen, als Ausdruck der liebevollen Umarmung von Yin/Yang – Gott/Göttin – Geist/Materie – Erkenntnis/Mitgefühl usw. Diese ständige Bezogenheit von Geist und Materie wird ebenso im buddhistischen Herz-Sutra betont – “Leere ist Form und Form ist Leere” – wie auch in der modernen Physik mit Einsteins berühmter Formel e = m x c 2 .Indem man jedoch eine Hälfte dieser gesamten Wirklichkeit leugnet, kommt es zur Aufspaltung der Realität.

Transzendenz/Geist und Immanenz/Natur stehen sich durch diese Spaltung im westlichen Denken als polare Gegensätze gegenüber und es kommt zur gegenseitigen Diskriminierung: Entweder ist die Welt Samsara/Illusion und Eva die Verführerin oder es wird die Vernunft zur obersten Göttin erklärt und die Welt so vom Opium der Religion befreit. Wo vorher der verkrüppelte Gott der jenseitigen Offenbarung herrschte, wird nun die genauso behinderte Göttin des Verstandes angebetet.

Die Entwicklung der Vernunft hat unbestrittene Vorteile, aber mit zunehmender Beherrschung der Natur wurde die kulturelle Entwicklung, die anfangs zur Demokratie und Abschaffung der Sklaverei geführt hatte, immer zerstörerischer. Die Gegenbewegung dazu, musste sich unweigerlich entwickeln, in Form der sogenannten Romantik. Diese wehrt gegen die böse Kultur und möchte zurück zum Ideal des edlen Wilden. Die rückwärtsgewandte Verschmelzung mit der Natur bestimmt heute die New Age Formen der alternativen Medizin, aber statt Repression/Unterdrückung der Natur, kommt es hier zu Regression, einem Fundamentalismus, welcher wissenschaftlichen und technischen Fortschritt entwertet, obwohl er sich ihrer bedient.

Besonders die CM steht in diesem Spannungsfeld zwischen romantisierender, idealisierender Rückwärtsprojektion und entgeistigter Instrumentalisierung, wobei die Aufspaltung der Wirklichkeit mitten durch den einzelnen hindurchgeht. Man begeistert sich für die philosophischen Konzepte der CM betreibt dann aber im praktischen Handeln knallharten Materialismus und setzt TCM als Technik ein.

Einen dritten Weg zwischen romantischer Philosophie und sterilem Rationalismus zeigt Zhuang Zi auf, wenn er das Zhong Qi nennt, welches Yin/Yang – Geist/Materie – Gott/Göttin ständig aufeinander bezogen hält. Im Westen haben diese daoistische Auffassung die deutschen Philosophen Schelling und Hegel vertreten. Für sie ist Evolution eine spirituelle Bewegung der Natur über Kultur, hin zu Geist, die im sogenannten Dreischritt von These, Antithese in der Synthese vereint wird. Statt Repression, Unterdrückung der Natur durch Technik oder Regression, Fundamentalismus in ökologischer oder religiöser Form, kommt es hier zu einer auf Entwicklung gerichteten Bewegung. Für die CM würde dieser Drei-Schritt bedeuten: Zuerst sind die verschiedenen Traditionen wie die des Nan Jing oder des Shang Han Lun in ihrer Eigenständigkeit anzuerkennen, dann genauestens zu differenzieren (statt sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu reduzieren) und schliesslich in einem neuen Modell zu integrieren. Wilber nennt diese Schritte differenzieren, integrieren und transzendieren, wobei der letzte Schritt der Hegelschen Synthese entspricht und mehr als die Summe der integrierten Teile darstellt.

Jedoch boten diese Philosophen des deutschen Idealismus keine Methoden an, um Geist erfahrbar zu machen und deshalb blieb es reine metaphysische Spekulation.

Damit Geist/Shen als eigene Realität erfahrbar ist und nicht auf das chemische Arbeiten des Gehirns reduziert wird, muss es praktisch in therapeutisches Handeln umsetzbar sein. Die herrschende TCM Praxis trägt im Gegensatz zu dieser integrierenden und grenzüberschreitenden Sicht eher zu einer Entfremdung der Körper-Geist-Beziehung bei, indem sie Shen auf die Funktion der Substanzen reduziert. Damit kann die CM ihr volles Potential nicht entfalten und sie kann mit dieser Spaltung ihrer Philosophie und Praxis nicht die zementierten Risse zwischen Körpermedizin – Psychologie und Spiritualität überwinden, welches im Menschen die Ausdrucksformen von Natur/Kultur/Geist sind. Gerade jedoch die Einheit dieser drei Bereiche stellt eine wesentliche Grundlage der Chinesischen Medizin dar, die als Triade von Himmel-Erde-Mensch ausgedrückt wird.

Für eine derart umfassende Form der CM sind schulmedizinisch ausgerichtete, d.h. analytische und mechanistische Untersuchungsmethoden ungeeignet, da sie die subjektive oder geistige Hälfte der Wirklichkeit leugnen.

Die Herausgeber des Buches “Medical Acupuncture” sind Aerzte und erklären im Vorwort: “Wissenschaft bedeutet dabei ausdrücklich, dass das Heraustreten der Akupunktur aus ihren mystischen und alternativen Wurzeln gefeiert werden soll und ihre komplette Integration in die Schulmedizin innerhalb von 10 Jahren beschleunigt wird.”

Der Patient verschwindet dabei wahrscheinlich als zu behandelndes Objekt hinter einem Berg von Statistiken, Techniken und Theorien wie in der Schulmedizin. Diesem Fortschrittsglauben bzgl. der CM steht z.B. die Auffassung Manakas gegenüber, der das Leitbahn System als X-Signal System bezeichnet: Als etwas das mit Signalen arbeitet, die nicht unbekannt sind und deshalb noch erforscht werden müssen, sondern die verstandesmässig unkennbar sind: Gemäss Dao De Jing Kp. 1: Das Dao das benannt werden kann ist nicht das wahre Dao.

Für manche ärztliche Organisationen stellt Chinesische Medizin demgegenüber ein Selbstbedienungsladen dar, aus dem man nimmt, was in das aufgespaltene Bild der Wirklichkeit passt.

Chinesische Medizin wird so auf eine Technik reduziert und man masst sich Urteile über eine Wissenschaft an, die ihre eigenen Massstäbe hat. Diese Massstäbe bestehen neben dem Erlernen von Buchwissen gerade in der Entwicklung subjektiver Wahrnehmungsarten wie z.B. den 4 diagnostischen Methoden. Oft beruht der Erfolg der CM auf der Kombination von subjektiven und objektiven Bereichen und diese rein vernunftsmässig nicht nachvollziehbare Wirksamkeit wird dann gerne als Placebowirkung abgestempelt.

Die Vertreter der CM sollten sich jedoch nicht dafür rechtfertigen, dass sie das ganze Spektrum von Realität einbeziehen, sondern die Behandler, die die CM als Technik einsetzen, sollten sich dafür rechtfertigen müssen, dass sie ihren Patienten die ganze Bandbreite der CM vorenthalten.

Wir werden die orthodoxen, d.h. rechtgläubigen Mediziner nie überzeugen können, denn letztendlich geht es nicht um Wissen, sondern um Macht. Deshalb sollten wir uns auch nicht um sogenannte wissenschaftliche Akzeptanz willen anbiedern. Längst bestehen alternative Erklärungs- und Unterscheidungsmodelle aus den Bereichen von Systemtheorie, Quantenphysik, Holographie und Chaosforschung, aber was nicht sein darf, kann nicht sein, denn all dies bedroht die Weltanschauung und den Geldbeutel der organisierten Aerzteschaft. Stattdessen werden für die CM ungeeignete Untersuchungsmethoden eingesetzt, Statistiken und die Sorge um hygienischen Standard werden vorgeschoben, um die CM den eigenen Denkkategorien zu unterwerfen, als Konkurrenten auszuschalten, um den Rest dieses Leichnams dann ins eigene System einzugliedern.

Wie Manaka bemerkt: “Der westliche, intellektuelle Chauvinismus gegenüber der CM ist völlig unangebracht, da sie ein ganz anderes Bild von Wirklichkeit zugrundelegt, welches sich mehr mit modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen deckt, als das Weltbild der traditionellen westlichen Medizin.”

Will man ein neues Modell von Medizin unter Einbeziehung der CM entwickeln, darf man die Wissenschaft weder bekämpfen, noch sich an sie anbiedern, sondern man muss ihr den gebührenden Platz einräumen und dann über das von ihr entworfene Bild von Wirklichkeit hinausgehen. Der CM kommt bei der Schaffung einer solch neuen Medizin geradewegs eine führende Rolle zu, denn welche andere Form der Medizin die heute praktiziert wird, kann auf ein derart umfassendes Weltbild zurückgreifen, mit dem es möglich ist, kosmologische, ökologische und psychologische Gesichtspunkte sinnvoll zu verknüpfen?

Soviel zum herrschenden westlichen Verständnis von Chinesischen Medizin.

Daher opfert der Rotchina entwickelte TCM Ansatz in seiner Anpassung an westliche wissenschaftliche Massstäbe gerade diejenigen Anteile, die ein umfassenderes Bild der Wirklichkeit zeichnen könnten. Indem Shen und Qi im tatsächlichen Handeln immer mehr zugunsten von objektivierbaren Fakten in den Hintergrund gedrängt werden, entsteht eine verflachte und verwestlichte Präsentation von CM, die weder wissenschaftlichen Massstäben genügen kann, noch wirklich traditionell ist.

Gefördert wird der Export des TCM Stils durch die wirtschaftliche Lage in China, welche viele Aerzte ins Ausland treibt – genau im Gegensatz zu beispielsweise Japan und Korea, wo viel alternative Stile zur TCM bestehen, welche sich nicht dem Imperialismus des westlichen Denkens angepasst haben, aber durch die bessere ökonomische Situation nicht exportiert werden und daher unbekannt bleiben.

Genauso wie die Schulmedizin die CM mit ihrem Realitätsbegriff dominieren möchte, herrschen auch innerhalb der TCM Bestrebungen, mit denen bestimmte Modelle gegenüber anderen ihre Dominanz durchsetzten möchten. Besonders von diesem Machtstreben betroffen sind neben den psychologischen und spirituellen Aspekten die 5 WP. Sie werden zwar als bildhafte Prozessbeschreibungen immer wieder beschworen, bleiben aber oft reine Philosophie, da sie im praktischen Handeln kaum eingesetzt werden. Die TCM hat eine Vielfalt von Ideen unter pharmakologischen Leitvorstellungen wie den 8 Leitkriterien zusammengefasst, die 5 WP bilden darin einen Fremdkörper, da sie mehr informativ als substanzorientiert arbeiten und statt auf Zang Fu Syndrome auf die Leitbahn Therapie ausgerichtet sind. Damit unterliegt innerhalb der TCM die Akupunktur einem Diktat von Ideen, die ihr pharmakologische Anschauungen aufgezwungen haben, die aber nicht ihren eigenen Ansichten entsprechen. Die von Wang Le Ting vorangetriebene Uebersetzung von Punkten in die Funktion von Pharmaka, spiegelt diesen Imperialismus ebenso wieder, wie die während der Ming Dynastie geprägte Auffassung, dass Nadeln nur bei äusseren Erkrankungen wirken, chronische innere Erkrankungen jedoch durch Kräuter zu behandeln sind. Diese der Akupunktur nicht selbst entsprungene Ansichten haben das Bild einer überlegenen Pharmakologie entstehen lassen.

Vergleichen wir doch die Worte des Nadelklassikers Ling Shu mit solchen Informationen aus zweiter Hand. Zitat: “Diejenigen die behaupten, chronische Erkrankungen können mit Nadeln nicht behandelt werden, haben die Technik der Akupunktur nicht gemeistert.” Damit will ich die Pharmakologie nicht entwerten, aber es gilt zu bedenken, dass die Angleichung von Kräutern und Nadeln in der Funktion ist höchst fragwürdig ist, da Kräuter sich substantiell an die Rezeptoren in den Zang Fu wenden, die Nadeln jedoch das beinahe immaterielle Leitbahn System ansprechen. Dieses ist laut Ling Shu nicht in der Körperstruktur zu finden und muss mit äusserst feinen Techniken angesprochen werden. Tiefe Nadeltechniken und sogenannt starkes De Qi entsprechen nicht dieser feinstofflichen Auffassung von Akupunktur, was schon allein dadurch ersichtlich wird, dass in klassischen Texten die Stichtiefe sehr viel oberflächlicher angegeben wird als in modernen Akupunkturbüchern. Dies stellt eine andere Form des Versuchs dar, die Wirkungen der Nadelung zu quantifizieren und zu objektivieren, so dass man diese auf Hormonausschüttung und Nervenrezeptoren zurückführen kann.

Daher kann eine derart herbalisierte Akupunktur letztendlich nicht viel mit dem informativen Steuerungsmodell der 5 WP in der Praxis anfangen. Ausserhalb Chinas, v.a. in Korea und Japan gibt es jedoch eine Fülle von Schulen, die sich gerade – wenn auch höchst unterschiedlich – auf die 5 WP stützen und hohe klinische Wirksamkeit beanspruchen.

Auch die rezepturartige Punktwahl bei bestimmten Erkrankungen ergibt ein irreführendes Bild. Manaka führt dazu das Beispiel von Ren 22 an, mit dem er bei einer Asthmapatientin ihre langjährigen Beschwerden durch 3 Fadenmoxa sofort zum verschwinden brachte. Würde er wie in vielen Lehrbüchern nur den Punkt angeben, aber nicht die individuelle Diagnose, die Behandlungsmethode und die Dosis, würden Generationen von Studenten diesen Punkt endlos ohne allzu grossen Erfolg anwenden, weil für sie nicht ersichtlich würde, dass die Wirksamkeit eines Punktes sich aus all diesen Faktoren ergibt.

Solch eine vereinfachende Sichtweise – dieser Punkt ist gut bei dieser Erkrankung – entspringt dem linearen Denken das alles auf eine Ursache-Wirkung Kette zurückführen möchte, statt sich auf ein Gewebe von Wechselbeziehungen zu stützen. Manaka hat diese mechanische Auffassung von Akupunktur mit dem Versuch verglichen, ein Stück Brot mit einer Kettensäge zu schneiden: es ist zwar möglich, es bleibt aber nicht viel vom Brot dabei übrig.

Was mit den 5 WP und der Akupunktur geschieht, widerfährt in noch stärkerem Masse psychologischen und spirituellen Aspekten in der TCM. Erinnern wir uns: Ling Shu, die klassische Bezeichnung der Nadel heisst „Pfeiler der Seele“, aber wo wird die Nadel derart in der TM Praxis eingesetzt? Die Ablehnung von Seele und Geist als eigenständige Wirklichkeiten stammt wie wir gesehen haben von der Leugnung der inneren, subjektiven Realität. Diese Ablehnung wird jedoch versteckt oder rationalisiert mit Begriffen wie Kohärenz des Qi, was heisst: indem ich Qi und Blut manipuliere, gehen sie schon dahin so sie sollen und ich brauche mich mit so unangenehmen Dingen, so unberechenbaren Dingen wie den Emotionen nicht direkt auseinanderzusetzen. Oder wie es die Herausgeberin des European Journal of Oriental Medicine formuliert: Welche Behandlerin möchte denn Aerztin, Psychologin und spirituelle Ratgeberin zugleich sein? (Jasmine Uddin, ejom Ausgabe Sommer ’88)

Genau aber dies betont die vom Daoisten Dao Hong Jong herausgegebene Materia Medica, das Shen Nong Ben Ciao: “Kräuter die zur Klasse des Himmels gehören, behandeln die Bestimmung, Kräuter die zur Klasse des Menschen gehören, behandeln die energetische Disposition und Kräuter die zur Klasse der Erde gehören, behandeln Erkrankung”, sprich man muss wissen, wann auf spiritueller und psychologischer Ebene, wann auf energetischer und wann auf körperlicher Ebene eingegriffen werden muss.

Auf der Ebene des Himmels, die von verzerrten Emotionen geschädigt wird, kann man sich mit einer substanzorientierten Auffassung und nicht einmal mit einer energetischen Auffassung bewegen. Man scheut sich in der Praxis der TCM vor Emotionen, die man am liebsten an die genauso fragmentierte Psychologie delegieren würde. Dies geht nicht wenn es um die höchsten Aspekte eines Menschen geht: Bewusstseinsentwicklung oder Ming, Verwirklichung seiner Bestimmung. Das Ling Shu bemerkt dazu ausdrücklich im Kp. 1: Erkenne Geist mit Geist, was heisst: Wir müssen die der jeweiligen Ebene angemessene Form von Diagnose und Therapie beachten.


Wohin also mit der CM nach dieser Bestandesaufnahme?

Schulmedizin und TCM sind nicht einfach falsch, sie werden falsch durch das was sie weglassen, indem sie Realität auf objektivierbare Fakten oder das Erdgeschoss der Zang Fu Syndrome beschränken wollen. Chinesische Medizin ist jedoch ein dreistöckiges Gebäude gemäss der Triade Himmel-Erde-Mensch. Diese Dreiheit oder Multidimensionalität der Organisation des menschlichen Wesen wird immer wieder betont und Ling Shu Kp.8 hebt dabei die überragende Bedeutung der Himmelsebene hervor. Nur wenn Shen durch verzerrte Emotionen geschwächt ist können räuberische Winde von aussen eindringen und deshalb, so mahnt der gelbe Kaiser, ist das oberste Gebot bei jeder Nadelung, die Verankerung des Shen.

Wo bleibt in der TCM diese Multidimensionalität? Wir kümmern uns dauernd um das Flachland der Po- oder Körper-Seele (in Form von Zang Fu Syndromen), die von Brot allein leben kann und vergessen die Hun- oder Traum-Seele welche von der kreativen Kraft der Bilder und Symbole genährt werden muss.

Die Symbole finden wir im Bereich der Akupunktur in den Punktnamen, die immer mehr hinter den Punktfunktionen und der standardisierten Numerierung zurücktreten. Gerade durch diese Namen mir ihrer traumartigen, symbolhaften Namensgebung können wir aber kreativ in tiefe Resonanz mit dem Patienten treten und ihn an verborgene oder vergessene Potentiale erinnern. Und dieses Gesehen-werden, dieses tiefe Erkennen von Potentialen, stellt die eigentliche Heilung dar.

Dass so etwas nur jenseits von blosser Technik gesehen werden kann und inneres Arbeiten von seiten der Behandelnden voraussetzt, ist klar. Und da dies die Konfrontation mit eigenen Gefühlen einschliesst, ist auch klar worin der wirkliche Widerstand gegen diese Dimension besteht. Aber nur wenn die Lehrenden der CM eine eigene spirituelle Praxis ausüben und auch psychologische Supervision als Notwendigkeit anerkennen und dies weitervermitteln, wird der Einbezug der Shen- oder Himmelsebene in die Behandlung möglich.

Ling Shu Kp. 1 betont daher, dass gewöhnliche Fähigkeiten den Körper erhalten, hohe Fähigkeiten in der Akupunktur jedoch Shen/Geist. Diese Fähigkeiten müssen laufend geschult werden, sonst verschanzen wir uns aufgrund mangelnder innerer Arbeit hinter dem traditionellen Therapeuten – Patienten Rollenbild und kategorisieren unsere Patienten als Inhaber gestörter Zang Fu Syndrome, behandeln aber nicht ihr psychisches Leiden, aus Unvermögen und Angst.

Neben einer expliziten psychologischen und spirituellen Schulung die der CM entsprechen muss, gehört dazu auch die Schulung der Sinne als wichtigste Diagnoseinstrumente. Statt uns ausschliesslich auf lange Listen von Bücherwissen zu konzentrieren, müssen wir lernen uns als dem sensibelsten aller Diagnoseinstrumente zu vertrauen, indem wir die Fähigkeiten zu hören, zu riechen, zu tasten, zu fragen und zu fühlen auf allen Ebenen entwickeln. D.h. wir lernen mit dem Sinnesorgan Auge äusserliche Zeichen von Krankheit zu sehen, wir lernen mit dem Verstand zu durchschauen, wann ein Patient inkongruentes Verhalten zeigt und wir lernen mit dem Auge von Shen das Potential eines Patienten hinter seiner Maske, hinter seiner Pathologie, zu beleuchten.

Wenn wir einen Menschen derart umfassend wahrnehmen, geben wir ihm zu verstehen, dass wir nicht nur seine Leber Qi Stagnation behandeln, sondern auch seine Fähigkeit zum Nein-sagen und damit zum wirklich Ja-sagen stärken, sein Potential von kreativen Selbstausdruck fördern und die Tugend der Güte im Sinne von Durchsetzungskraft zum allgemeinen Wohl entwickeln wollen. Damit kommunizieren wir, dass die Behandlung seiner Erkrankung etwas mit ihm als Mensch zu tun hat und verschieben den Schwerpunkt weg von der Ursache einer Erkrankung hin zur Absicht der Entwicklung neuer Potentiale. So verstecken wir uns nicht vor der umfassenden Wirklichkeit eines Menschen und reduzieren diese Wirklichkeit nicht auf lateinische Terminologie oder Fachchinesisch im wahrsten Sinne des Wortes.

Fördern wir durch solche Schulung unserer eigenen Potentiale auch das Vertauen in uns selbst, sind wir nicht mehr so abhängig vom Bücherwissen, das vielen Behandlern das Vertrauen in die eigene Fähigkeit raubt, indem sie den Schluss ziehen, dass gute Behandlung mit einem grossen Wissensstand allein gleichzusetzen ist. Dieser Entmächtigung von Schülern und Praktizierenden können wir entgegenwirken, ohne den Verstand zu entwerten. Das Denken, Yi, muss dabei aber gemäss seinem Schriftzeichen in Resonanz mit dem Herz stehen. Nur durch eine umfassende Bildung auf allen Ebenen der CM können wir unsere Patienten überzeugen und Beschränker und Bremser schneller zu aussterbenden Dinosauriern machen. Denn wie es Max Planck so treffend formuliert hat:

“Neue wissenschaftliche Wahrheiten setzen sich nicht durch, weil die Vertreter der alten Anschauungen überzeugt werden sondern weil eine neue Generation heranwächst die mit diesem neuen Denken vertraut ist.” Oder mit den Worten C.G. Jungs: “Seine Probleme löst man nicht, man wächst aus ihnen heraus.”

Das so oft beschworene Wiederherstellen des Gleichgewichts, welches gleichbedeutend mit Gesundheit sein soll, gehört zu solch veralteten Anschauungen in der CM, denn oft handelt es ich dabei nur um die Errichtung der alten Harmonie oder Scheingesundheit, d.h. wenn nur die Symptome verschwinden wird Krankheit ihrer kreativen Dimension beraubt und man behandelt genauso symptom-orientiert wie die Schulmedizin. Der Nobelpreisträger für Physik Ilya Prigigine hat jedoch in seiner bahnbrechenden Arbeit gezeigt, dass sich Zustände höherer Ordnung nur dann spontan entwickeln können, wenn die alten Ordnungen zusammenbrechen, wobei vorübergehend chaotisches Ungleichgewicht entsteht. Dieses Zusammenbrechen um durchzubrechen ist bei vielen chronischen Krankheiten und Störungen eher angezeigt als dem Drängen des Patienten folge zu leisten, dass es wieder wird wie es war.

Die CM steht an einem Scheideweg, lässt sie sich instrumentalisieren oder wird sie zukunftsweisendes Modell für eine neue Medizin mit einem erweitertem Realitätsbegriff. Helfen Sie mit, die Chinesische Medizin als dreistöckiges Gebäude zu renovieren und den armseligen, entmachteten und auf die Syndrompathologie reduzierten Herzkaiser neu in seine Rechte als Sohn oder Tochter des Himmels einzusetzen.


Die 3 Stockwerke der Chinesischen Medizin


Hegel und                  Die 3 Kräfte   3 Ebenen von Arzneien       Die 3 Schätze         
Schelling

Geist                           Himmel           Bestimmung                           Shen (Medizin ohne Form)

Kultur                          Mensch           Krankheitsneigung                 Qi (Leitbahnen)

Natur                           Erde                Erkrankung                             Jing (Körper)

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© Josef Viktor Müller: Ausbildung in Shiatsu beim Ohashi Institut New York, Studium der Akupunktur am College of Traditional of Acupuncture von J. R. Worsley, TCM Ausbildung bei der AG TCM (D), Fortbildungen in Cranio Sacral und verschiedenen Stilen der klassischen Akupunktur, sowie in transpersonaler Traumarbeit, Inhaber der Ben Shen Schule (www.benshen.ch) in Zürich und Autor von „Den Geist verwurzeln, die Namen der Akupunkturpunkte als Bindestrich der Psychosomatik“.