• Identität: Vergänglich und dauerhaft zugleich. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Das scheinbare Paradox, dass sich unser Selbst ständig verändert, während es in der Zeit fortschreitet, wir jedoch das Gefühl haben, unser Selbst bliebe gleich, löst sich damit auf, dass es sich beim Kern-Selbst und beim autobiographischen Selbst um zwei von einander getrennte Gegebenheiten handelt. Das Kern-Selbst unterliegt dem ewigen Wandel, ist flüchtig, wird ständig erneuert und wieder geboren. Das autobiographische Selbst jedoch (der Selbst-Sinn, der gleich zu bleiben scheint) stützt sich auf einen Bestand von Erinnerungen zu grundlegenden Fakten aus unserer individuellen Biographie, die immer wieder reaktiviert werden und unserem Leben Kontinuität und scheinbare Dauer verleihen. Das Kern-Bewusstsein versorgt uns mit einem Kern-Selbst. Um das autobiographische Selbst zu konstituieren brauchen…

  • Bewusst und Nicht-Bewusst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Wir haben kein Bewusstsein darüber, welche Erinnerungen wir speichern, und welche nicht, wie wir Erinnerungen speichern, wie wir sie klassifizieren und organisieren, zueinander in Beziehung setzen. Ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung, so Damasio, ist das Gleichgewicht zweier Einflüsse: der gelebten Vergangenheit und der antizipierten Zukunft. Wir erleben die Inhalte, die in den autobiographischen Aufzeichnungen Eingang finden – wir sind uns dieser Inhalte bewusst -, aber wir wissen nicht, wie sie gespeichert werden, wie viel von jedem Erlebnis, wie beständig und wie intensiv. Ebenso wenig wissen wir, wie die Inhalte als Erinnerungen in wechselseitige Beziehungen treten, wie Verknüpfungen zwischen Erinnerungen hergestellt werden und vieles mehr. Nach Damasio ist ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung…

  • Kern-Selbst und autobiographisches Selbst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Das autobiographische Selbst entwickelt sich aus dem flüchtigen Kern-Selbst Die flüchtigen Momente der Erkenntnis unseres Kern-Selbst, in denen wir unsere Existenz entdecken, bilden Tatsachen, die dem Gedächtnis überantwortet werden, kategorisiert und zu anderen Erinnerungen in Beziehung gesetzt. Infolge dieser komplexen Lernprozesse bildet sich ein autobiographisches Gedächtnis, ein Bündel dispositionaler Aufzeichnungen, die speichern, wer wir körperlich, emotional und verhaltensmäßig waren, sowie Aufzeichnungen, die festhalten, wer wir in Zukunft zu sein beabsichtigen. Dieses gebündelte Gedächtnis können wir im Laufe unseres Lebens erweitern und abändern. Werden diese rekonstruierten Vorstellungen explizit gemacht, so werden sie zum autobiographischen Selbst, das mit dem nichtbewussten Proto-Selbst in jedem gelebten Augenblick verbunden ist. Das autobiographische Selbst beruht grundlegend…

  • Das autobiographische Selbst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Das autobiographische Selbst lebt von der ständigen Reaktivierung und Darbietung ausgewählter Gruppen von autobiographischen Erinnerungen. Während im Kernbewusstsein der Selbst-Sinn aus dem subtilen, flüchtigen Gefühl des Erkennens erwächst, das mit jedem Pulsschlag des Bewusstseins neu geschaffen wird, entsteht der Selbst-Sinn des erweiterten Bewusstseins aus der schlüssigen, ständig wiederholten Darbietung von ausgewählten persönlichen Objekten, den Objekten unserer persönlichen Vergangenheit, die unsere Identität und unsere Personalität leicht begründen können. Autobiographische Erinnerungen werden vom Gehirn als Objekte behandelt, die in jene Beziehung zum Organismus treten können, die für das Kernbewusstsein charakteristisch ist. Damit rufen sie einen Pulsschlag des Kernbewusstseins hervor, ein Empfinden des Selbst-Erkennens. Das autobiographische Selbst tritt in Organismen auf, die mit…

  • Das erweiterte Bewusstsein. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Das erweiterte Bewusstsein baut auf dem Kernbewusstsein auf, reicht aber deutlich über das Hier und Jetzt des Kernbewusstsein hinaus. Das Hier und Jetzt ist noch vorhanden, aber es ist von der Vergangenheit (von so viel Vergangenheit wie man braucht, um das Jetzt hinreichend zu erhellen) und der antizipierten Zukunft flankiert. So gesehen ist das erweiterte Bewusstsein alles, was das Kernbewusstsein auch ist, nur umfangreicher und fähig, mit der Evolution und mit der Lebenserfahrung des Individuums zu wachsen. Das erweiterte Bewusstsein ist im gleichen Kern-Ich verankert, zugleich aber mit der lebendigen Vergangenheit und der antizipierten Zukunft verbunden, die Teil der individuellen autobiographischen Aufzeichnungen sind. Statt Schmerzen einfach nur zu registrieren, kann…

  • Das Kern-Bewusstsein. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Bewusstsein ist der Oberbegriff für all jene geistigen Phänomene, die den Vorgang ermöglichen, aus dem man als Beobachter oder Erkennender der beobachteten Dinge hervorgeht, als Besitzer der aus der eigenen Perspektive gebildeten Gedanken und als potentieller Handlungsträger der Szene. Wenn man z.B. diese Seite betrachtet und diese Wörter liest, spürt man automatisch und unablässig (ob man es will oder nicht) dass man selbst die oder der Lesende ist. Man selbst und kein anderer. Man spürt, dass die Objekte, die man im Moment wahrnimmt, aus der eigenen Perspektive heraus wahrnimmt und dass die Gedanken, die sich im eigenen Geist bilden, einem selbst gehören und niemand anders. Man spürt auch, dass man…

  • Störungen in der Objektwahrnehmung. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Störungen in der Wahrnehmung von Objekten lassen sich in Wahrnehmungsstörungen und Agnosien unterscheiden. Bei Wahrnehmungsstörungen verhindern ausbleibende Signale einer sensorischen Modalität (wie Sehen, Hören, Tasten), dass die Repräsentation eines Objektes gebildet wird. Unter diesen Umständen kann ein bestimmtes Objekt nicht repräsentiert werden und ruft damit auch keine Veränderung im Proto-Selbst hervor. Die Agnosie hingegen bezeichnet die Unfähigkeit, aus dem Gedächtnis jenes Wissen abzurufen, das zu den wahrgenommenen Objekten gehört. Das Wahrgenommene wird gleichsam seiner Bedeutung beraubt.[1]Klinische Befunde bei Menschen mit Agnosie zeigen, dass man keine spezifischen Kenntnisse einer Objekteigenschaft braucht, um ein Kernbewusstsein von einem Objekt zu haben. Und mehr noch: Es bleibt … weiterlesen Quelle Antonio R. Damasio – “Ich…

  • Die Wahrnehmung eines Objektes. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    So etwas wie eine reine Wahrnehmung eines Objektes in einem Sinneskanal, wie etwa dem Sehen, gibt es nicht. Die gleichzeitig erfolgenden Veränderungen (z.B. Anpassungsbewegungen in den Muskeln, die die Linse und Pupille steuern, in den Muskeln, die für die Stellung des Augapfels verantwortlich sind, in den Muskeln, die Kopf, Hals und Rumpf bewegen; Signale, die aus den emotionalen Reaktionen auf ein bestimmtes Objekt erfolgen; Veränderungen der glatten Muskulatur der Viszera u.a.m.) sind nicht nur fakultative Begleiterscheinungen, vielmehr rekonstruieren wir bei der Erinnerung an ein Objekt nicht nur eine Farbe oder eine Form, sondern auch die Wahrnehmungstätigkeit, die das Objekt verlangte, und die begleitenden emotionalen Reaktionen, egal, wie geringfügig sie waren.…

  • Das Proto-Selbst, der biologische Vorläufer des Selbst-Sinns. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Will man den Begriff des Selbst fassen und auf den Grund gehen, dann stößt man, so Damasio, bald auf den Begriff des singulären Selbst und dann auf den Begriff der Stabilität. Der Schlüssel zum Verständnis lebendiger Organismen liegt nämlich in der Definition ihrer Grenze, der Trennung zwischen dem was drinnen und was draußen ist. Die Struktur des Organismus befindet sich innerhalb der Grenze, und das Leben des Organismus wird definiert durch die Erhaltung innerer Zustände innerhalb dieser Grenze, also durch Stabilität. Das Leben findet innerhalb jener Grenze statt, die einen Körper definiert. Leben und Lebenstrieb (der Drang, am Leben zu bleiben) existieren innerhalb einer selektiv durchlässigen Grenze, die die innere…

  • Grundlegende Eigenschaften des Bewusstseins. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

    Bewusstsein ist nicht monolithisch Bewusstsein ist – zumindest gilt dies für den Menschen – nicht monolithisch, vielmehr lassen sich eine einfache und eine komplexe Form unterscheiden. Die einfache Form stellt das Kern-Bewusstsein dar, das den Organismus gleichsam mit einem Selbst-Sinn ausstattet, der für einen Augenblick (“jetzt”) und einen Ort (“hier”) gilt. Das Kern-Bewusstsein ist als einfache biologische Organisationsebene für das Hier und Jetzt zuständig – ohne die Perspektiven von Vergangenheit und Zukunft. Die Vergangenheit wird im Kern-Bewusstsein nur insofern berücksichtigt, als Ereignisse einbezogen werden, die sich ganz unmittelbar zuvor zugetragen haben. Die komplexe Form des Bewusstseins, das erweiterte Bewusstsein (wobei sich auch hier noch verschiedene Ebenen oder Stufen unterscheiden lassen),…