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Gibt es den freien Willen? Die Sicht des Neurobiologen Gerhard Roth
Die Frage des “freien Willens” – das Gefühl, dass unser bewusstes Ich der “Autor” unserer Handlungen, Gedanken und Wünsche ist und dass wir nicht völlig determiniert sind, sondern einen Handlungsspielraum haben (also auch anders hätten handeln können, wenn wir gewollt hätten) – ist in der westlichen Philosophie und Wissenschaft eng verbunden mit dem Problem des Körper-Seele-Dualismus des französischen Philosophen René Descartes (1596 bis 1650). Die Neurobiologie zeigt heute deutlich, dass auch im Gehirn alles nach bestimmten Naturgesetzen – und damit determiniert – abläuft. Bisher, so Professor Gerhard Roth[1]Professor Gerhard Roth (geboren 1942), promovierter Philosoph und Biologe, ist Direktor am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen., “haben wir da nicht die…
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Freie Entscheidungen sind eine Illusion. Der Ansatz von Wolf Singer
Das Gehirn hat sich im Zuge der Evolution auf eine Weise entwickelt, so der Neurobiologe Wolf Singer, die nicht notwendigerweise zur Ausbildung eines unfehlbaren kognitiven Systems führt. Erkennen können wir nur, was wir beobachten, denkend ordnen und uns vorstellen können. Was unsere kognitiven Systeme nicht erfassen können, existiert für uns nicht. Zwei Prinzipien sind es, die die evolutionären Prozesse in Bezug auf die kognitiven Systeme zu verfolgen scheinen: Die Optimierung der Signalaufnahme: Aus der Fülle der verfügbaren Informationen geht es darum, vorwiegend nur diejenigen aufzunehmen, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind. Die Sinnessysteme der unterschiedlichen Organismen weisen deshalb eine hohe Selektivität und Spezifität auf, die sich auf…
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Offene Fragen zu den Untersuchungen von Libet. Kritik an der gängigen Interpretation der Ergebnisse
Die Experimente von Benjamin Libet, die dieser in der ersten Hälfte der Achtziger-Jahre durchgeführt hatte, untersuchten den zeitlichen Zusammenhang zwischen der bewussten Entscheidung zu einer Bewegung und der Einleitung der Bewegung auf der neuronalen Ebene. Dazu wurde das so genannte symmetrische Bereitschaftspotential gemessen, das auf Grund von neuronaler Aktivität vor allem im supplementär motorischen Areal beider Hirnhälften auftritt und offenbar in engem Zusammenhang mit der Einleitung von Bewegungen steht. Insofern scheint der Zeitpunkt, zu dem das Bereitschaftspotential auftritt, Schlüsse darüber zuzulassen, wann das Gehirn mit der Vorbereitung einer Bewegung beginnt. Das Bereitschaftspotential ist allerdings so schwach, dass es nicht einfach zum Zeitpunkt seines Auftretens gemessen werden kann, sondern über eine…
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Wie bewusst sind unsere Entscheidungen? Die Untersuchungen von Benjamin Libet
Ausgangspunkt der Untersuchungen von Benjamin Libet waren die Entdeckungen des deutschen Neurophysiologen Hans H. Kornhuber und seines Mitarbeiters Lüder Deecke (1965), die den Zusammenhang zwischen willkürlichen Hand- und Fußbewegungen und elektrischen Wellenmustern im Gehirn untersuchten. Kornhuber und Deecke konnten mit Hilfe von EEG-Ableitungen zeigen, dass bei einfachen Handlungen – wie dem Bewegen einer Hand oder eines Fußes – eine Art Vorwarnung im Gehirn auftritt: Noch ehe die Handlung einsetzt, ist an den Potentialschwankungen zu erkennen, dass etwas im Gange ist – was Kornhuber und Deecke[1]Hans H. Kornhuber & Lüder Deecke: “Hirnpotentialänderungen bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen des Menschen: Bereitschaftspotential und reafferente Potentiale”. In: … weiterlesen als Bereitschaftspotential bezeichneten.[2]Das Bereitschaftspotenial ist nach…
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Wissen wir über die Motive unserer Handlungen Bescheid?
Schon Sigmund Freud war der Ansicht, dass wir nicht so sehr bewusste Entscheidungen treffen, sondern die Motive für unser Handeln vor allem dem Unbewussten entspringen. So wie wir uns fragen, weshalb sich ein anderer Mensch so oder so verhält, sind wir – folgen wir der Ansicht Freuds – auch bei der Erklärung unseres eigenen Handelns auf Deutungen angewiesen. Zwar glauben wir unsere Motive sicher zu kennen, doch sind diese Erklärungen in der Sprache Freuds Rationalisierungen, d.h. nicht die wahren Motive für unser Tun, sondern vielmehr Erklärungen, die uns gerade in den Kram passen. Ergebnisse der modernen Hirnforschung belegen, wie es scheint, die These Freuds. Spektakulär sind die Funde bei „Split-Brain-Patienten“,…
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Emotionen und Gefühle. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio
Emotionen sind nach außen gerichtet und größtenteils öffentlich, Gefühle hingegen sind nach innen gerichtet. Sie sind die private, mentale Erfahrung einer Emotion. Die Mechanismen, die einer Emotion zu Grunde liegen, benötigen kein Bewusstsein, selbst wenn sie sich dessen manchmal auch bedienen. Sie können die Kaskade von Prozessen in Gang setzen, die zum emotionalen Ausdruck führen, ohne dass wir uns des emotionalen Auslösers (und der Zwischenschritte) bewusst sein müssen.[1]Mit der Evolution des Bewusstseins zeigen sich Emotionen in einem Kontext von Bewusstsein. Wir können unsere Emotionen nahezu ständig fühlen und wir wissen, dass wir sie fühlen. Emotionen unterliegen nicht unserer Kontrolle. Nur teilweise können wir ihren Ausdruck kontrollieren, z.B. in dem wir…
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Emotionen und Bewusstsein. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio
Die moderne neuropsychologische Forschung macht deutlich, dass Bewusstsein und Emotionen nicht zu trennen sind. Emotionen rufen (und dafür ist Bewusstsein eine notwendige Voraussetzung) Gefühle hervor, die wiederum den Menschen, der sie erlebt und erfährt, über das unmittelbare Hier und Jetzt hinaus beeinflussen. Das Fühlen von Emotionen setzt allerdings nicht notwendigerweise voraus, dass der fühlende Organismus sich der Emotion und der Gefühle, die sich in ihm entfalten, bewusst ist. Unterscheiden lassen sich drei Verarbeitungsstadien von Emotionen[1]Hier ist eine klare Differenzierung von Emotionen und Gefühlen wichtig: Emotionen sind nach außen gerichtet und öffentlich und wirken auf den Geist durch die Gefühle, die nach innen gerichtet und … weiterlesen: emotionale Zustände, die nichtbewusst ausgelöst…
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Identität: Vergänglich und dauerhaft zugleich. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio
Das scheinbare Paradox, dass sich unser Selbst ständig verändert, während es in der Zeit fortschreitet, wir jedoch das Gefühl haben, unser Selbst bliebe gleich, löst sich damit auf, dass es sich beim Kern-Selbst und beim autobiographischen Selbst um zwei von einander getrennte Gegebenheiten handelt. Das Kern-Selbst unterliegt dem ewigen Wandel, ist flüchtig, wird ständig erneuert und wieder geboren. Das autobiographische Selbst jedoch (der Selbst-Sinn, der gleich zu bleiben scheint) stützt sich auf einen Bestand von Erinnerungen zu grundlegenden Fakten aus unserer individuellen Biographie, die immer wieder reaktiviert werden und unserem Leben Kontinuität und scheinbare Dauer verleihen. Das Kern-Bewusstsein versorgt uns mit einem Kern-Selbst. Um das autobiographische Selbst zu konstituieren brauchen…
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Bewusst und Nicht-Bewusst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio
Wir haben kein Bewusstsein darüber, welche Erinnerungen wir speichern, und welche nicht, wie wir Erinnerungen speichern, wie wir sie klassifizieren und organisieren, zueinander in Beziehung setzen. Ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung, so Damasio, ist das Gleichgewicht zweier Einflüsse: der gelebten Vergangenheit und der antizipierten Zukunft. Wir erleben die Inhalte, die in den autobiographischen Aufzeichnungen Eingang finden – wir sind uns dieser Inhalte bewusst -, aber wir wissen nicht, wie sie gespeichert werden, wie viel von jedem Erlebnis, wie beständig und wie intensiv. Ebenso wenig wissen wir, wie die Inhalte als Erinnerungen in wechselseitige Beziehungen treten, wie Verknüpfungen zwischen Erinnerungen hergestellt werden und vieles mehr. Nach Damasio ist ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung…
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Kern-Selbst und autobiographisches Selbst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio
Das autobiographische Selbst entwickelt sich aus dem flüchtigen Kern-Selbst Die flüchtigen Momente der Erkenntnis unseres Kern-Selbst, in denen wir unsere Existenz entdecken, bilden Tatsachen, die dem Gedächtnis überantwortet werden, kategorisiert und zu anderen Erinnerungen in Beziehung gesetzt. Infolge dieser komplexen Lernprozesse bildet sich ein autobiographisches Gedächtnis, ein Bündel dispositionaler Aufzeichnungen, die speichern, wer wir körperlich, emotional und verhaltensmäßig waren, sowie Aufzeichnungen, die festhalten, wer wir in Zukunft zu sein beabsichtigen. Dieses gebündelte Gedächtnis können wir im Laufe unseres Lebens erweitern und abändern. Werden diese rekonstruierten Vorstellungen explizit gemacht, so werden sie zum autobiographischen Selbst, das mit dem nichtbewussten Proto-Selbst in jedem gelebten Augenblick verbunden ist. Das autobiographische Selbst beruht grundlegend…