Bewusst und Nicht-Bewusst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

Wir haben kein Bewusstsein darüber, welche Erinnerungen wir speichern, und welche nicht, wie wir Erinnerungen speichern, wie wir sie klassifizieren und organisieren, zueinander in Beziehung setzen. Ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung, so Damasio, ist das Gleichgewicht zweier Einflüsse: der gelebten Vergangenheit und der antizipierten Zukunft. Wir erleben die Inhalte, die in den autobiographischen Aufzeichnungen Eingang finden – wir sind uns dieser Inhalte bewusst -, aber wir wissen nicht, wie sie gespeichert werden, wie viel von jedem Erlebnis, wie beständig und wie intensiv. Ebenso wenig wissen wir, wie die Inhalte als Erinnerungen in wechselseitige Beziehungen treten, wie Verknüpfungen zwischen Erinnerungen hergestellt werden und vieles mehr.

Nach Damasio ist ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung das Gleichgewicht zweier Einflüsse: der gelebten Vergangenheit und der antizipierten Zukunft.

Forschungsergebnisse zeigen, dass diejenigen Schaltkreise, die unsere Erinnerungen beinhalten, vor allem in den Cortexfeldern höherer Ordnung lokalisiert sind, insbesondere in den temporalen und frontalen Regionen, die eng vernetzt sind mit corticalen und subcorticalen limbischen Gebieten und mit dem Thalamus.

Ganze Komplexe autobiographischer Erinnerungen werden ständig und gleichbleibend reaktiviert. Diese Erinnerungen versorgen unser erweitertes Bewusstsein mit den Fakten unserer körperlichen, geistigen und demographischen Identität, mit den Fakten unserer Vergangenheit und den Fakten unserer geplanten Zukunft. Wird dieser fundamentale Aspekt des autobiographischen Selbst gestört, kommt es zum schwerwiegenden Problem der globalen Amnesie.

Das Unbewusste im Sinne der Psychoanalyse hat seine Wurzeln in den neuronalen Systemen, die das Substrat für die autobiographischen Erinnerungen bilden. Und die Psychoanalyse, so Damasio, stellt eine Methode dar, mit der sich das verknäulte Geflecht der psychologischen Verbindungen entwirren lässt. Das Unbewusste der Psychoanalyse entspricht jedoch nur einem kleinen Teil jener Prozesse und Inhalte dar, die nicht bewusst bleiben oder im Kern-Bewusstsein (und damit auch im erweiterten Bewusstsein) überhaupt nicht erkannt werden:

  • alle vollständig ausgebildeten Vorstellungen, auf die wir nicht achten;
  • alle neuronalen Muster, die keine Vorstellungen werden;
  • alle Dispositionen, die durch Erfahrung erworben wurden, latent sind und vielleicht nie zu expliziten neuronalen Mustern werden;
  • alle verborgenen Modifikationen solcher Dispositionen und all ihre verborgene Wiedervernetzung; und
  • all die verborgene Weisheit und das verborgene Know-how, das die Natur in angeborenen, homöostatischen Dispositionen Gestalt annehmen lässt.


Quelle

Antonio R. Damasio – “Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins”. Ullstein Taschenbuchverlag (List) , München 2002