Berührung ist kein Placebo. Die Konstruktion von Wirklichkeit (Eduard Tripp)

Achim Shrievers schöner Artikel im Shiatsu Journal 104 „Dein Glaube hat dir geholfen – Wieviel Placebo steckt im Shiatsu?“ hat mich angeregt, meine Gedanken zum Begriffskonstrukt Placebo weiterzuverfolgen, vor allem zur Frage, ob es sich bei Berührung um ein Placebo handelt und ob hier eine Wirklichkeit konstruiert wird, die der Berührung (und vor allem der Shiatsu-Berührung) in keiner Weise gerecht wird.


Knie-OP und Fake-Behandlung. Was erklärt die Wirkung?

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Der Begriff des Placebo im Sinne eines Scheinmedikaments hat seinen Ursprung vor allem in der Arzneimittelforschung. Hier muss sich ein pharmakologisch wirksames Präparat gegen ein „Leerpräparat“ (ohne therapierelevante Substanzen) beweisen. Das macht in diesem Fall Sinn, denn es soll überprüft werden, ob ein Agens (Wirkstoff) signifikante, d.h. nachweisliche, Wirkung zeigt oder ob „Nebeneffekte“ die Wirksamkeit ausmachen. Ähnlich auch die Situation bei der Kniearthroskopie-Studie von Moseley (2002[1]J. B. Moseley, K. O´Malley, N.J. Petersen, T.J. Menke, B.A. Brody, D.H. Kuykendall, J.C. Hollingsworth, C.M. Ashton & N.P. Wray: A Controlled Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of … weiterlesen), in der sich, wie Achim Schrievers zitiert, kaum Unterschiede fanden zwischen der echten und der „Fake“-Operation. Ein Unterschied ist dennoch zu beachten: Bei der echten Operation mit z.B. Glättung eines eingerissenen Meniskus gibt es ein Risiko für schwerwiegende Probleme in Folge einer Verletzung bei der Glättung.

Soweit so gut und scheinbar klar: Die echte Operation unterschied sich in ihrer Wirksamkeit nicht von der, die quasi nur in den Köpfen der Patient*innen stattfand. Die Frage ist nun allerdings die Interpretation. Üblicherweise geht man davon aus, dass der Glaube der Patient*innen in Hinblick auf die Wirksamkeit der tatsächlichen OP ebenbürtig ist (noch dazu mit weniger Verletzungs-Risiko).

Das aber ist nicht die einzige Interpretation. Die Ergebnisse können nämlich auch, wie mir ein befreundeter TCM-Arzt einmal nahegelegt hat, als Beweis für die Akupunktur herangezogen werden. Dazu für diejenigen, die mit der Akupunktur-Tradition nicht vertraut sind, zur Erklärung, dass es im Repertoire der traditionellen Akupunkteur*innen nicht nur die uns geläufigen dünnen Akupunkturnadeln gab, sondern auch Dreikantnadeln, mit denen die Haut bewusst verletzt und eine Blutung ausgelöst wurde[2]Dreikantnadel: Nadel der Akupunktur zur Skarifikation (Einritzen) der Haut (https://naturheilkundelexikon.de/Dreikantnadel-952084.html). – mit dem Ziel einer nachhaltigen Reizung der ausgewählten Stelle. In diesem Fall – sowohl in der tatsächlichen wie auch der Fake-Operation – werden die Knieaugen (Xiyan, M-LE-16; der äußere die beiden Punkte ist Ma 35, Dubi, Kalbsnase oder Äußeres Knieauge) blutig akupunktiert, zwei für alle Knieprobleme sehr wichtige Punkte.


Das neurophysiologische Wesen der Berührung

Die physiologische Basis der Berührung bzw. Berührungswahrnehmung bilden drei unterschiedliche Hautrezeptoren (mit den ihnen zugehörigen Nervenleitungen), deren Informationen in drei unterschiedlichen Gehirnregionen verarbeitet werden:

  • Die schnellen A-Fasern vermitteln den klassischen Tastsinn, d.h. die diskriminative oder differenzierende (unterscheidende) Wahrnehmung und werden insbesondere von intensiven Reizen angeregt. Mit ihnen erspüren wir beispielsweise Vibrationen, Ecken und Kanten, aber auch bestimmte Aspekte von Schmerzreizen und schmerzvollen Temperaturschwankungen.
  • Die langsameren C-Fasern vermitteln Wahrnehmungen aus dem Inneren des Körpers und dessen Zustand, die so genannte Interozeption, also beispielsweise Informationen über Wärme, Kälte, Juckreiz und bestimmte Schmerzqualitäten.
  • Die C-taktilen Fasern, die erst 1999 entdeckt wurden[3]Vgl. Å.B. Vallbo, H. Olausson und J. Wessberg: Unmyelinated Afferents Constitute a Second System Coding Tactile Stimuli of the Human Hairy Skin. JNP (Journal of Neurophysiology) 1. Juni 1999, … weiterlesen, reagieren auf langsames und sanftes Streicheln und lösen dabei angenehme, wohlige Empfindungen aus („Streichelsinn“). Ihre optimale Anregung erfolgt bei etwa 32 bis 36,5 Grad Celsius (entspricht in etwa der Temperatur unserer Fingerspitzen), einem hohen Weichheitsgrad und einer Geschwindigkeit von ein bis zehn Zentimetern pro Sekunde.

Die Entdeckung der C-taktilen Fasern (CT) ist einer Frau mit einem seltenem Leiden zu verdanken, deren „normale“ Nervenleitungen für Berührungen defekt sind, nicht aber das CT-Netz. Sie konnte also weder Berührung, Kitzeln noch Vibrationen fühlen, dennoch berichtete die Frau über einen „angenehmen Druck“, wenn an ihrem Arm langsam mit einem Malerpinsel entlang gestrichen wurde.[4]Vgl. ORF Science: https://sciencev1.orf.at/news/56047.html. Begleitende Magnetresonanzuntersuchungen konnten nachweisen, dass Streicheln direkt das Belohnungszentrum unseres Gehirns[5]Vgl. https://www.dasgehirn.info/denken/motivation/schaltkreise-der-motivation. anregt und für die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin sorgt.[6]Vgl. MDR Wissen-Beitrag vom 23. Juni 2019: https://www.mdr.de/wissen/streichelsinn-durch-c-taktile-sinneszellen-100.html.

Mit den C-taktilen Fasern verfügt unser Tastsinn, so die „Hypothese der sozialen Berührung“, über eine spezielle Leitung, um liebevolle, tröstliche und erotische Botschaften anderer Menschen zu empfangen. Ob und in welchem Ausmaß eine Berührung als angenehm erlebt wird, hängt schlussendlich aber ganz wesentlich auch vom Zusammenhang ab, in dem die Berührung stattfindet (Top-Down-Modulation).

Zudem, so vermutet man, dürfte das Netzwerk der C-taktilen Fasern maßgeblich für die Ausschüttung von Oxytocin verantwortlich sein: jenes Hormon, das Angst und Stress reduziert und Vertrauen und Bindung stärkt. Und zugleich, über andere Mechanismen vermittelt, dürften soziale Berührungen auch Endorphin- und Serotoninausschüttungen mit sich bringen.


Ist Berührung Agens oder Placebo?

Von großer Bedeutung für die Wirkung von Placebos ist die Information, die ein*e Patient*in über die Wirksamkeit und Anwendung einer Therapie erhält, aber auch die Art und Weise, wie das Placebo verabreicht wird. Das ist, wie oben zitierte Studienergebnisse zeigen, allerdings nicht der entscheidende Mechanismus bei Berührungserlebnissen, die über CT-Fasern vermittelt werden: Berührung ist darum kein Placebo. Berührung ist vielmehr ein nachweisbares Agens, das über nervale und humorale Wege wirkt.

Selbstverständlich spielen in der Berührung für die Wirkung, neben den beschriebenen physikalischen Parametern, auch Glaube und Hoffnung eine Rolle. Es existieren auch hier, wie generell bei allen Behandlungen und Medikamentengaben, Placebo- und Nocebo-Effekte, die die Wirkung der Berührung begleiten, sie verstärken oder abschwächen.[7]Eine sehr lehrreiche Geschichte über Placebo-Wirkungen ist jene von Franz Anton Mesmer (1734 – 1815), der seine lange Zeit phänomenalen Heilerfolge dem tierischen Magnetismus zugeschrieben hatte. … weiterlesen

Es entspricht also nicht den Fakten bei der Shiatsu-Berührung (zumindest nicht primär) von einer Placebo-Wirkung zu sprechen. Ob wir (so wie auch unsere Klient*innen) eine Berührung als angenehm und hilfreich erleben und uns damit ihrer Wirkung hingeben können, beruht letztlich aber darauf, wer uns wie (auf welche Weise) berührt. Und darüber hinaus: in welchem, auch kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang diese Berührung stattfindet (Top-Down-Modulation).

Hier die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, um die Berührung als das wirken lassen, was sie ist: ein wesentlicher Wirkfaktor in der Erhaltung und vielfach auch (Re-)Etablierung von Gesundheit, das ist die Aufgabe des Shiatsu-Praktikers, der Shiatsu-Praktikerin. Er*Sie hat in seiner*ihrer Ausbildung und Praxis die Fähigkeit erworben, diese Berührungsqualität zu vermitteln, vergleichbar einem Psychotherapeuten, einer Psychotherapeutin, der*die eine Gesprächssituation gestaltet, die Compliance schafft. Shiatsu-Praktiker*innen, so könnte man es auf den Punkt bringen, sind Spezialist*innen für annehmbare und wirkungsvolle Berührung.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 J. B. Moseley, K. O´Malley, N.J. Petersen, T.J. Menke, B.A. Brody, D.H. Kuykendall, J.C. Hollingsworth, C.M. Ashton & N.P. Wray: A Controlled Trial of Arthroscopic Surgery for Osteoarthritis of the Knee. In: New England Journal of Medicine 347, 2002, S. 1717 – 1719, https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa013259.
2 Dreikantnadel: Nadel der Akupunktur zur Skarifikation (Einritzen) der Haut (https://naturheilkundelexikon.de/Dreikantnadel-952084.html).
3 Vgl. Å.B. Vallbo, H. Olausson und J. Wessberg: Unmyelinated Afferents Constitute a Second System Coding Tactile Stimuli of the Human Hairy Skin. JNP (Journal of Neurophysiology) 1. Juni 1999, https://doi.org/10.1152/jn.1999.81.6.2753; H. Olausson et al.: Unmyelinated tactile afferents signal touch and project to insular cortex. Nature Neuroscience 5, 900–904 (2002), https://www.nature.com/articles/nn896.
4 Vgl. ORF Science: https://sciencev1.orf.at/news/56047.html.
5 Vgl. https://www.dasgehirn.info/denken/motivation/schaltkreise-der-motivation.
6 Vgl. MDR Wissen-Beitrag vom 23. Juni 2019: https://www.mdr.de/wissen/streichelsinn-durch-c-taktile-sinneszellen-100.html.
7 Eine sehr lehrreiche Geschichte über Placebo-Wirkungen ist jene von Franz Anton Mesmer (1734 – 1815), der seine lange Zeit phänomenalen Heilerfolge dem tierischen Magnetismus zugeschrieben hatte. Eine auf Betreiben des Arztes d´Eslon von König Ludwig XIV eingesetzte Kommission zur Erforschung des tierischen Magnetismus konnte aber keine Hinweise auf das Wirken einer physikalischen Kraft finden und befand schließlich, dass der von Mesmer entdeckte Magnetismus auf Einbildung beruhe. Letztlich aber wurden die Lehre Mesmers zum Ausgangspunkt zweier großer Bewegungen in der Psychologie: der Hypnose und der Psychoanalyse. Siehe den Artikel „Allgemeine Wirkungen von Shiatsu“, www.shiatsu-austria.at/?p=804.