Begegnen und Beherrschen – zwei Aspekte von Beziehung im Umgang mit Krankheit (Mignon von Scanzoni)

Eine Gesundheitsgeschichte

Frau K. kam vor einigen Jahren zu mir in die Praxis und bat um eine energetische Unterstützung für ihren anstrengenden Berufsalltag als Kinderpsychotherapeutin. Etwa ein Jahr, nachdem sie zum ersten Mal in meine Praxis gekommen war, entdeckte sie in ihrer Brust einen Knoten, der von ihrer Frauenärztin und dem Radiologen nicht eindeutig diagnostiziert werden konnte. Sie ließ ihn operativ entfernen. Die Diagnose war Krebs.

Download im pdf-Format
Download

Zunächst stand sie unter einem Schock, dem Gefühle der Scham und eine tiefe Verzweiflung folgten. Sie konnte es nicht begreifen, dass gerade ihr als Psychotherapeutin ein solches Schicksal widerfährt. Sie fühlte sich in ihrer Berufsrolle nicht mehr glaubwürdig. All ihr Bemühen, sich durch Psychotherapie und Körperarbeit persönlich und beruflich weiterzuentwickeln kamen ihr mit einem Mal lächerlich vor. Ich unterstützte sie darin, ihren Gefühlen einen kreativen Ausdruck zu geben. Sie malte ein Bild auf dem sie alleine und zusammengekauert auf einem steilen Felsen sitzt; über ihr kreisen schwarze Vögel. Sie erzählt mir, während des Malens habe sie ihre ganze Verzweiflung über all die vielen Anstrengungen in ihrem Leben gespürt. Jetzt fühlt es sich so an, als sei sie unter großen Mühen auf den falschen Gipfel gestiegen, von dem es weder ein Vor noch ein Zurück gibt. In der Ferne sieht sie auf einem anderen Berg fröhliche und ausgeruhte Menschen. Sie haben es sich leicht gemacht und sind mit der Gondel hochgefahren.

Während der Behandlungen und in unseren begleitenden Gesprächen entdeckte sie bei sich die Einstellung, Psychotherapie und Energiearbeit seien eine Garantie zur Vermeidung von Krankheit. Ihr war zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, dass es sich dabei um ein „inneres Skript“ handelte. Bei der Erforschung ihrer eigenen psychosomatischen Prozesse war ihre Perspektive mehr auf die Beseitigung eines Mangels als auf die lustvolle Erweiterung von Lebens-Möglichkeiten ausgerichtet.

In diesem Zusammenhang tauchte die Frage auf, ob ihr Körper dazu in der Lage sein würde, sich selbst zu heilen durch noch intensivere Anwendung alternativer Heilmethoden. Mit dieser Frage wandte sie sich an einen ihrer früheren Lehrer. Er riet ihr, die Schulmedizin dort zu nutzen, wo sie sinnvoll sei, und begleitend dazu andere Methoden anzuwenden, zu denen sie Vertrauen habe.

Nach dem ersten operativen Eingriff ließ sie sich genügend Zeit, um sich über die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen bei verschiedenen Fachleuten zu informieren. Während dieser Phase kam sie weiterhin zum Shiatsu. Die körperliche Berührung unterstützte sie darin, ihre Entscheidungen für die nächsten Schritte langsam wachsen zu lassen. Allmählich gewann sie Vertrauen in den für sie richtigen Weg. Sie spürte ihn von innen heraus, auf einer physischen Ebene. Der Arzt, der sie operiert hatte, empfahl ihr die gesamte Palette der schulmedizinischen Maßnahmen, setzte sie aber in ihrer Entscheidung nicht unter Druck und respektierte ihren Prozess. Sie entschloss sich für die Entfernung der Lymphknoten im Arm mit anschließender Bestrahlung und begann parallel dazu mit einer Misteltherapie.

Ihre Lebenslust war ohnehin schon seit langem in der vielen Arbeit und in dem Übermaß an Mitgefühl für andere verloren gegangen.

Als Psychotherapeutin betrachtete sie ihre Krankheit aus unter-schiedlichen Perspektiven. Auf der Ebene der Psychodynamik grübelte sie über ihre Mutterbeziehung nach. Da mehrere ihrer Tanten und Kusinen an Krebs erkrankt waren, musste es unter systemischen Gesichtspunkten Verbindungen zu einem Familiensyndrom geben. Aufgrund ihrer Kenntnisse von der Lehre der Fünf Wandlungsphasen aus der chinesischen Medizin diagnostizierte sie bei sich eine Störung in ihrem Erdelement. Vermutlich lag aber die eigentliche Ursache im Mutterelement Feuer. Ihre Lebenslust war ohnehin schon seit langem in der vielen Arbeit und in dem Übermaß an Mitgefühl für andere verloren gegangen. Sie betrachtete jetzt auch ihre Ehe unter paartherapeutischen Aspekten und entdeckte eine Menge an Destruktivität in ihrer Beziehung.

Doch die ganze Ursachenforschung halfen ihr dabei nicht weiter, sich wohler zu fühlen. Sie bewirkte eher das Gegenteil, weil über allem die Frage schwebte „Was habe ich falsch gemacht?“ Schließlich fand sie heraus, dass es für sie das Beste sei, nur auf das zu hören, was ihr im Augenblick gut tat und sie nährte. Sie begann mit einer Hypnotherapie, die nicht aufdeckend, sondern mit den inneren Heilungssymbolen arbeitet, machte regelmäßig Visualisierungsübungen, ging viel in die Natur und kam weiterhin zu Einzelstunden in meine Praxis.

Sie fühlte sich durch das gesamte Geschehen und insbesondere durch die Operation auf einer sehr tiefen Ebene verletzt. Eine Berührung durch meine Hände bedeuteten für ihren Körper unbewusst eine Gefahr, da durch sie jederzeit das Trauma der Verletzung wachgerufen werden konnte. Es galt also ganz behutsam zu berühren und mit großem Respekt vor einer Wunde, die nicht nur real körperlich existierte, sondern möglicherweise auch schon eine längere emotionale Geschichte vor Ausbruch der Krankheit hatte. Sie sprach von einer sehr schmerzlichen emotionalen Enttäuschung, die sie ein Jahr zuvor erlebt hatte, und seit sie zurückdenken konnte, war sie es nicht anders gewohnt, eine Stütze für die Eltern zu sein, statt kindgemäß von ihnen zu nehmen.

Obwohl sie sich von der Berührung Balsam für ihre Wunde erhoffte, reagierte ihr Körper zunächst wie ein erschreckter Vogel, der sich in mein Zimmer verirrt hatte. Ich wollte ihn einfangen, um ihm den Weg ins Freie zu zeigen. Aber jedes Mal, wenn ich versuchte, mich ihm zu nähern, flatterte er erschreckt davon. Und als ich ihn schließlich behutsam zwischen meinen Händen hielt, spürte ich das Zittern und das Pochen seines Herzens. Nur sehr langsam beruhigte er sich in dem Raum, den meine Hände bildeten. Und nichts anderes war wesentlich als die Stille des Augenblicks und die gemeinsame Bewegung unseres Atems.

Die größeren und für andere sichtbaren Bewegungen in ihrem Leben vollzogen sich außerhalb dieser Stunden. Sie gönnte sich eine Arbeitspause und nahm die Angebote ihrer Familie an, ihr vorübergehend finanziell zu helfen. Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie um Hilfe bat, sonst war immer sie es gewesen, die Unterstützung gegeben hatte. Ihre Angst, sich jetzt in ihrer Schwäche zeigen zu müssen und dafür verachtet zu werden, war unbegründet. Im Gegenteil, es stellte sich heraus, dass gerade aufgrund ihrer veränderten Situation eine zuvor selten da gewesene Nähe zwischen ihr und den anderen entstehen konnte. Das unfreiwillige Sabbat-Jahr schenkte ihr die Zeit die Dinge zu tun, zu denen sie in ihrem Berufsalltag schon seit langem nicht mehr kam. In ihrer Ehe wandelte sich die Beziehungsdynamik. In dem Maße, wie sie sich mehr um sich selber kümmerte und ihre eigenen Bedürfnisse beachtete und ernst nahm, war auch ihr Mann anders gefordert. Das eingefahrene Muster von Geben und Nehmen gewann wieder an Flexibilität.

Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt der Erhaltung und Steigerung ihrer Lebensqualität.

Allmählich hörte sie damit auf, nach Ursachen für ihre Krankheit zu suchen. Das hatte zur Folge, dass sie nicht mehr ausschließlich an die Wiederherstellung eines symptomfreien Zustands dachte. Ihre Aufmerksamkeit galt jetzt der Erhaltung und Steigerung ihrer Lebensqualität. Alle Maßnahmen, für die sie sich auf schulmedizinischer, psychotherapeutischer und energetischer Ebene entschieden hatte, standen jetzt unter dem Thema „Was kann ich tun, um angesichts der Krankheit mein Leben so zu gestalten, dass der Stress vermindert und die Lebensqualität verbessert wird.“ Es ging also nicht mehr um die Beseitigung der Krankheit, sondern um ein erfülltes Leben – mit und ohne Krankheit.


Messen und Angemessenes

Nun komme ich zum zweiten Teil meines Vortrags, in dem es mir darum geht, hinter diese individuelle Gesundheitsgeschichte zu schauen. Dabei interessieren mich zwei Fragen: Welcher Sinn verbirgt sich darin in Bezug auf den persönlichen Lebenstext dieser Klientin? Und welche Bedeutung haben ihre Erfahrungen, wenn wir sie in dem größeren Kontext von unserem Gesundheitssystem betrachten?

Ausgangspunkt meiner Fragestellung ist ein Grundgedanke aus der hermeneutischen Philosophie von Hans Georg Gadamer. Hermeneutik ist die Kunst des Verstehens. Die Wortbedeutung bezieht sich auf „hermetisch“- schwer verständlich – und leitet sich von Hermes, dem Götterboten, ab. Es geht dabei nicht nur um das Verstehen von geschriebenen Texten, sondern letztlich um das Verstehen des „Welt-Textes“, wie Gadamer es ausdrückt. Das Wesentliche dieser Auslegung liegt darin, dass sie nicht objektivierend ist. Es handelt sich also nicht um Aussagen, die entsprechend unseres natur-wissenschaftlichen Denkens seit den letzten vier Jahrhunderten auf der Basis von Messungen und wiederholbaren Experimenten gewonnen werden.

Hermeneutik ist die Auslegung dessen, was in einem Sinngefüge eigentlich zu verstehen ist, und in diesem Prozess mit Leib und Seele dabei zu sein. Die Sprache ist in diesem Kontext nicht nur Zeichensystem, sondern Sprache ist immer auch Gespräch, Dialog. Zur Hermeneutik gehört, dass man etwas zu sagen hat und dass man sich etwas sagen lässt. Das Gespür und die Offenheit für die Vieldeutigkeit eines Phänomens führt uns zu einer tieferen Ebene – zum Verstehen als ein Akt der Verwandlung.

Im Krankenhausgarten spreche ich wieder mit meinem Nussbaum. Seine Rinde ist voller Kerben. Sie sehen aus wie alte Verletzungen. Trotz dieser Wunden trägt er Früchte und sein Stamm ist groß und kräftig.

Welche Botschaft hatte also Hermes der Klientin überbracht? Die Antwort gab sie mir selbst, als ich sie fragte, was sie im Nachhinein für sich als heilsam erlebt hätte: Das Vertrauen zu den Ärzten und zu den anderen Therapeuten, die sie damals begleitet haben und deren Achtung vor ihren Entscheidungen. Sie sprach von „heilsamen Beziehungen“ und schilderte mir eine kurze Begebenheit mit dem Chefarzt der Klinik bei ihrer zweiten Operation. Es war nicht selbstverständlich, dass er sie als Kassenpatientin wieder operieren würde. Aber er hatte es ihr versprochen. Kurz bevor sie auf dem Operationstisch die Narkose bekam, beugte sich eine grün vermummte Gestalt zu ihr herunter, zog sich den Mundschutz vom Gesicht und sagte. „Sehen Sie, ich bin es!“

In der Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit habe sie auch ein neues Selbstgefühl entdeckt, sagte sie mir. Auf diesem Weg, sei ihr die Essenz des Lebens begegnet. Sie las mir eine Passage aus ihrem Tagebuch vor, die sie während ihres Klinikaufenthaltes geschrieben hatte:„Im Krankenhausgarten spreche ich wieder mit meinem Nussbaum. Seine Rinde ist voller Kerben. Sie sehen aus wie alte Verletzungen. Trotz dieser Wunden trägt er Früchte und sein Stamm ist groß und kräftig. Ich setze mich auf die Bank an der Hauswand und genieße die warme Septembersonne. Auf der Blüte einer Heckenrose sehe ich einen Schmetterling. Ein feines Zittern geht durch seine zarten Flügel, die sich langsam öffnen. Plötzlich durchströmt mich ein tiefes Glücksgefühl. In dieser einen lautlosen Bewegung der Flügel des Schmetterlings auf der Rose, nicht länger als ein Atemzug, zeigt sich mir das Leben in seiner ganzen Fülle.“

Wenn es also die Beziehungen, die Selbst-Begegnung und die Entdeckung der Essenz des Lebens waren, die meine Klientin für sich als heilsam erlebt hatte, so möchte ich im Folgenden danach fragen, ob ein solches Heilungsparadigma in der Beziehungskultur unseres Gesundheitssystems genügend Raum hat.

In einem defizitorientierten Gesundheitssystem bedeutet Krankheit sowohl für den einzelnen Menschen als auch für die sozialen Beziehungen einen Störfaktor, der vermieden werden soll.

Unter Beziehungskultur verstehe ich die Art und Weise, wie sich die Beziehungen zwischen den Menschen in einem sozialen System gestalten und wie sich der einzelne Mensch zu sich selbst verhält, also die Selbst-Beziehung. Ein defizitorientiertes Gesundheitssystem wie das unsere ist bestimmt durch Strukturen, die am Beherrschen, am Wegmachen und in den Griff bekommen orientiert sind, und in dem das Messbare und die Statistik für die Therapie und deren Bezahlung durch die Krankenkassen zugrunde liegen. Schlagworte wie „Apparatemedizin“ und „der gläserne Mensch“ sind den Lesern sicher bekannt. Ebenso die gegenwärtige Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik, der Diagnose von Erbkrankheiten, und die Ethik-Debatte, die z. Z. über die Möglichkeit, menschliches Erbgut zu beeinflussen, geführt wird. Mein Anliegen ist jetzt nicht, in eine Pauschalkritik mit einzustimmen. Ich denke, das Thema technische Entwicklung in der Medizin ist viel zu komplex, um es in wenigen kritischen Aussagen abzuhandeln. Außerdem bringen die medizintechnischen Möglichkeiten auch große Vorteile für die Betroffenen mit sich. Für den Entscheidungsprozeß von Frau K. war es sehr wichtig, dass sie über die Weiterentwicklung im Bereich der Strahlenmedizin informiert war und in der Klinik kompetent beraten wurde.

In einem defizitorientierten Gesundheitssystem bedeutet Krankheit sowohl für den einzelnen Menschen als auch für die sozialen Beziehungen einen Störfaktor, der vermieden werden soll. Ein Beispiel hierfür ist die Berufssituation vieler Eltern. Unabhängig davon, ob es sich um eine finanzielle Notwendigkeit handelt, dass beide Eltern arbeiten oder um den Wunsch, Kinder und Karriere miteinander zu verbinden – die so genannten Fortschritte in der Entwicklung der Impfstoffe fördern in beiden Fällen ein reibungsloseres Funktionieren der innerfamiliären Beziehungen. Der Preis ist, dass ein Kind nicht mehr genügend Zeit bekommt, seine Krankheiten zu durchleben und in diesem Prozess sein Immunsystem zu stärken. Auch der sekundäre Krankheitsgewinn für das Kind, das Gefühl von Nähe und Geborgenheit, geht durch die rasche Symptombeseitigung verloren.

In unserem modernen Gesundheitssystem steht das Machen und Messen im Vordergrund, und das Gefühl für das Angemessene geht verloren. Je differenzierter das Detailwissen, desto mehr trübt sich der Blick für den Menschen in seiner Gesamtheitbezogenheit und in seiner Individualität. Was für einen Menschen in seiner spezifischen Lebenssituation gemäß ist, lässt sich nicht messen, weil es sich dabei nicht um eine technische Information handelt, sondern um eine innere Wahrheit und die kann man nicht auf einer Messskala einordnen. Und diese innere Wahrheit braucht ihre Zeit, bis sie spürbar wird.

Ein wachstumsorientiertes Gesundheitssystem ist am menschlichen Potential orientiert und an der Schaffung von Bedingungen, die diesem Potential Ausdrucksmöglichkeiten geben. So schreibt Abraham Maslow in seinem Buch „Psychologie des Seins“ „…ein Lehrer oder eine Kultur erschaffen keine Menschen. Sie pflanzen ihm nicht die Fähigkeit ein, zu lieben, neugierig zu sein, zum philosophieren oder kreativ zu sein. Eher erlauben, ermuntern oder helfen sie ihm, das embryonal Existierende wirklich und tatsächlich werden zu lassen …. die Kultur ist die Sonne und die Nahrung und das Wasser. Sie ist nicht der Same“.

Ein wachstumsorientiertes Gesundheitssystem orientiert sich nicht vorwiegend an der Reparatur einer Störung. Einem wachstumsorientierten Gesundheitssystem liegt eine Kultur zugrunde, in deren Zentrum die Pflege und die Qualität der Beziehungen steht. Die Beziehung ist dabei die tragende Basis der Heilkunst, unabhängig davon, ob es sich um Schulmedizin oder Komplementärmedizin handelt. In einem Gesundheitssystem, das auf einer Beziehungskultur aufbaut, ist der Heilkundige nicht nur Mechaniker, sondern auch und vor allem ein Gärtner, dem daran gelegen ist, jede Pflanze in ihrer Eigenart wahrzunehmen und zu behandeln. Und Behandeln bedeutet sinnlich erfahren: durch Betasten, Betrachten und mit ihr sprechen.

Gesundheit bedeutet „Dasein, In der Welt und mit den Menschen sein und von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig und freudig erfüllt sein.“

Eine Beziehungskultur lässt Wahlmöglichkeiten zu, damit der Einzelne das Gemäße für sich entdecken kann. Gesundheit meint in einer solchen Kultur nicht Anpassung und Funktionstüchtigkeit sondern, wie Hans Georg Gadamer es formuliert: Gesundheit bedeutet „Dasein, In der Welt und mit den Menschen sein und von den eigenen Aufgaben des Lebens tätig und freudig erfüllt sein.“ Sie bedeutet, so Gadamer, in ihrem eigentlichen Sinn Geborgenheit.


Die Offenheit in der Begegnung

In diesem letzten Abschnitt meines Vortrags komme ich auf die Bedeutung zu sprechen, die eine „Kunst der achtsamen Berührung“ für unser Gesundheitssystem hat. Das Thema dieses Kongresses enthält drei Begriffe: Kunst, Berührung und Achtsamkeit. Was ist damit gemeint?

Unter Kunst verstehe ich in diesem Zusammenhang ein handwerkliches Können und Wissen, das sich jemand aneignet und es darin durch langes und beständiges Üben zu einer Meisterschaft bringt. Dieses Verständnis von Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass dabei etwas hergestellt wird, ein Werk, das sich nach der Fertigstellung vom eigenen Tun ablöst. In einer Heilkunst wird der „Gegenstand“ – der Mensch – zu seiner Ganzheit zurückgeführt, in seinen ursprünglichen Zustand. Ablösung bedeutet in diesem Prozess, dass der Heilkundige überflüssig wird.

Gegenstand dieser Kunst ist die körperliche, emotionale und geistige Seinsqualität eines Menschen. Im Zustand der Gesundheit befindet er sich in einem „selbstvergessenen“ Gleichgewicht, schreibt Gadamer. Krankheit bedeutet ein Herausfallen aus diesem natürlichen Gleichgewicht, die Störung einer, in der Natur des Gegenstands angelegten Harmonie. Die Heilkunst dient also, egal ob sie sich technischer Hilfsmittel oder nur der Hände bedient – der Wiederherstellung eines ursprünglichen Zustands. Gemeint ist damit nicht die reine Abwesenheit von Krankheit, sondern das Erfüll-Seins von den Möglichkeiten des Lebens. Gleichgewicht ist nicht immer gleichbedeutend mit Lebendigkeit. Es kann sich auch in Stagnation äußern, in einer inneren Haltung, die vielleicht früh eingeübt wurde und mehr mit einer Überlebens-Strategie als mit lebendigem Wachstum zu tun hat. So erzählte mir einmal eine andere Klientin, sie sei körperlich gesund, aber emotional würde sie sich so fühlen, als wäre der Frühling aus ihrem Leben entschwunden.

Das kontinuierliche Üben einer Disziplin birgt in sich selbst die Möglichkeit der Erfahrung, im Einklang zu sein mit dem Dao, den Wegen des Himmels.

Dieser Aspekt führt uns zu einem weiteren Verständnis von Kunst in Verbindung mit Heilkunst, zu dem östlichen Prinzip von „Kunst als Weg“. Das Erlernen einer Fertigkeit oder einer Disziplin, z.B. einer Kampfkunst, wird als persönliche Entwicklung gesehen, die in sich kein Ziel hat. Das kontinuierliche Üben einer Disziplin birgt in sich selbst die Möglichkeit der Erfahrung, im Einklang zu sein mit dem Dao, den Wegen des Himmels.

Kunst meint also zweierlei: Die Fähigkeit, Impulse zu geben, die einen Menschen wieder mit seinen Potentialen in Verbindung bringen, und den Weg, auf dem sich sowohl der Heilkundige als auch der Klient gemeinsam befinden. Dieser zweite Aspekt ist deshalb so besonders wichtig, weil er von einer grundsätzlichen Offenheit dem Krankheitsgeschehen gegenüber ausgeht.

Eine Kunst nun, die sich darauf versteht, einen anderen Menschen mit den Händen zu berühren, zeichnet sich dadurch aus, dass der Heilkundige und der Klient ein Gespräch ohne Worte führen. Dieses Gespräch findet in einer Atmosphäre der meditativen Stille statt und gibt Raum und Zeit für Entwicklung. Auf einer tieferen Seinsebene bedeutet die körperliche Berührung zwischenmenschliche Beachtung. Ohne sie kann sich der menschliche Organismus nicht gemäß seinen Möglichkeiten entfalten. Welche Bedeutung der Körperkontakt zwischen Mutter und Kind in einem frühen Entwicklungsstadium hat, wurde bereits in den Sechziger Jahren von René Spitz nachgewiesen. In seinen Untersuchungen über das Hospitalismussyndrom bei Heimkindern hatte er gezeigt, wie der Mangel an Berührung bei ihnen zu schweren emotionalen Störungen führte.

Ebenso kann eine inadäquate Berührung für den Organismus und die Seele traumatische Folgen haben. Beide Erfahrungen sind im Körper gespeichert und behindern den freien Fluss der Lebensenergie. Die Lernfähigkeit und das Entwicklungspotential gehen jedoch nicht verloren. Deswegen vermag es eine heilsame Berührung auch noch zu einem späteren Zeitpunkt, Anregungsimpulse zu geben für eine weitere Entfaltung der eigenen Person. Philosophisch ausgedrückt bedeutet das: Der Mensch braucht ein Du, um sich zu erkennen.

Im Zentrum einer „Kunst der Berührung“ steht also die Begegnung von zwei Menschen – sie ist das Kernstück, das Herz dieser Kunst. Und Begegnung kann nur entstehen, wenn sie nicht durch Vorwegnahme geprägt ist. Nicht die Methode ist das Wesentliche im therapeutischen Prozess, sondern die Qualität der Beziehung zwischen Therapeut und Klient. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber spricht in Verbindung mit Begegnung von einem „Dialogischen Prinzip“:

„Wenn wir eines Weges gehen und einem Menschen begegnen, der uns entgegenkam und auch eines Wegs ging, kennen wir nur unser Stück, nicht das seine, das seine nämlich erleben wir nur in der Begegnung. Von dem vollkommenen Beziehungsvorgang wissen wir, in der Art des Gelebthabens, unser Ausgegangensein, unser Wegstück. Das andre widerfährt uns nur, wir wissen es nicht. Es widerfährt uns in der Begegnung. Aber wir verheben uns daran, wenn wir davon als von einem Etwas jenseits der Begegnung reden“.

Die achtsame Berührung versucht nicht zu begreifen im Sinne einer diagnostischen Festlegung, sondern sie ist in jedem Moment eine Begleitung in die Offenheit des Fragens.

Und nun möchte ich zum Schluss noch auf die Achtsamkeit zu sprechen kommen. Sie hat etwas zu tun mit der Präsenz im Augenblick, mit jenem Zustand, der keine Erklärungen sucht und auf kein Ziel aus-gerichtet ist, sondern in dem die ganze Aufmerksamkeit im Da-Sein versammelt ist. Die Berührung in der therapeutischen Situation ist ein Medium, das die Aufmerksamkeit des Klienten immer wieder auf die Unmittelbarkeit in der Wahrnehmung des eigenen Körpers ausrichtet und keine Ablenkung durch Worte zulässt. Die achtsame Berührung versucht nicht zu begreifen im Sinne einer diagnostischen Festlegung, sondern sie ist in jedem Moment eine Begleitung in die Offenheit des Fragens. Die Antworten kommen aus dem inneren Wissen. Man kann sie nicht willentlich erzwingen, sie werden einem in wachen Momenten wie eine Gabe zuteil. Vielleicht hat es etwas mit dem „Zustand der Gnade“ zu tun, von dem die christlichen Mystiker sprechen.

Drei wesentliche Qualitäten sind es also, Offenheit, Begegnung und Präsenz, die eine Kunst der achtsamen Berührung zu einer Kultur der Beziehung in unserem Gesundheitssystem beiträgt. Sie bilden ein Gegengewicht zu einer Kultur, in der die Einseitigkeit des Beherrschenwollens im Vordergrund steht. Dabei geht es nicht um ein Entweder – Oder , sondern um ein Sowohl als Auch. Die Gefahren des Missbrauchs, die in unserem westlichen Wissenschaftssystem liegen, können wir nicht ausschalten. Aber ein Gesundheitssystem, das Raum lässt für Heilkünste, deren Wesenskern die zwischenmenschliche Begegnung ist, schafft ein heilsames Gleichgewicht dazu. „Wir sind die Empfänger dieser Welt und nicht die Macher“, sagt Gadamer. Dem „Risiko der Macht, die in die Hand der Menschen gelegt wurde”, können wir nur begegnen, „wenn wir die Traumfähigkeit der menschlichen Seele wieder achten“.


Nachwort

Hans Georg Gadamer ist im März 2002 im Alter von 102 Jahren gestorben. Die tiefe Achtung, die in den Nachrufen seiner Freunde, Schüler und Weggefährten durchklingt, bezieht sich nicht nur auf seine Philosophie, sondern vor allem auf die Übereinstimmung zwischen seiner Person und seiner Rede. Sein Denken führt zu den wesentlichen philosophischen Dimensionen des therapeutischen Handelns. Als eine Form der sokratischen Hebammenkunst hat es die Therapie mit der Entfaltung menschlichen Seins und Miteinanderseins zu tun. Im unverstellten Gespräch zwischen zwei Menschen entsteht durch die hermeneutische Qualität des Hörens und Antwortens ein gemeinsames Drittes, in dem beide Beteiligte sich neu entdecken. Grundbedingung für dieses Geschehen ist die Bereitschaft, einem Phänomen und einem Gegenüber in Offenheit zu begegnen. Die Liebe zur Weisheit zeigt sich für Gadamer nicht in der szientistischen Festlegung, sondern in dem Mut, Fragen zu stellen.

Und das führt zum Wesenskern der therapeutischen Begleitung, die von einer grundsätzlichen Zustimmung zum Leben getragen sein sollte. Solange wir noch eine Frage haben, sind wir mit dem Leben verbunden. „Ohne Hoffnung könne der Mensch nie sein“, sagt Gadamer. Sie gibt einem die Kraft zum Weitergehen.

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten
(Hilde Domin)


Literatur

  • Hans Georg Gadamer, Über die Verborgenheit der Gesundheit, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1994.
  • Hans Georg Gadamer, Die Aktualität des Schönen, Reclam Verlag, Stuttgart 1977
  • Hans Georg Gadamer, Videofilm „Die Kunst des Verstehens“, Erstsendung 29.9.1996 im WDR Fernsehen: Philosophie Heute
  • Günter Figal (Hrsg.) Begegnungen mit Hans Georg Gadamer, Reclam Verlag, Stuttgart 2000
  • Martin Buber, Das Dialogische Prinzip, Lambert Schneider Verlag, Gerlingen 1994
  • Abraham Maslow, Psychologie des Seins, Fischer TB, Frankfurt

———————————————————————–

© Mignon von Scanzoni, M.A., Soziologin, Körperpsychotherapeutin, Shiatsu-Lehrtherapeutin (GSD) und Coach für Einzelpersonen und Teams. Sie leitet Seminare in den Bereichen Potenzialentwicklung, Energiemanagement und Work-Life-Balance, info@von-scanzoni.de      
Gekürzte und etwas veränderte Version des Vortrags zur Eröffnung des 8. Deutschen Shiatsu-Kongresses 2000 „Die Kunst der achtsamen Berührung“ in München